In der Wildnis

Hät­te Fulen­dra nichts gesagt, säße ich um die­se Uhr­zeit sicher nicht hier. Fulen­dra ist Gui­de, Ran­ger und Gäs­te­be­treu­er in einem, und wenn sich jemand im Chit­wan Natio­nal­park aus­kennt, dann er. Im „Tha­ru Com­mu­ni­ty Homestay“, mei­ner Unter­kunft am Ran­de des knapp 1000 Qua­drat­ki­lo­me­ter gro­ßen Natur­schutz­ge­biets in der Tief­ebe­ne im Süden Nepals, stellt er Tou­ren für die Gäs­te zusam­men. Für mich hat er heu­te einen Tages­aus­flug in den Park orga­ni­siert, geplant sind eine Kanu­tour auf dem Rap­ti River, ein Dschun­gel­spa­zier­gang und eine Jeep-Safa­ri am Nach­mit­tag.

Sonnenaufgang im „Terai“, der Tiefebene

Als aller­ers­tes jedoch, lan­ge bevor wir in den Park auf­bre­chen, schau­en wir uns den Son­nen­auf­gang an. „Den musst du gese­hen haben! Gegen halb sie­ben geht das Schau­spiel los“, hat mein Gui­de am Vor­abend gesagt, also sit­ze ich pünkt­lich und erstaun­lich wach in einem Plas­tik­stuhl am Ufer des Flus­ses, der direkt vorm Ein­gang des Homestays liegt.

Er hat nicht zu viel ver­spro­chen: Über dem Fluss, dem fla­chen Budhi Rap­ti River, wabert früh am Mor­gen dich­ter Nebel. Gera­de so kann ich ein paar Vögel aus­ma­chen, die von Sand­bän­ken aus auf Beu­te lau­ern. Stück für Stück schiebt sich die Son­ne, erst blass und ver­han­gen und spä­ter glut­rot, am Hori­zont hin­auf, wäh­rend die Nebel­schwa­den sich lang­sam ver­zie­hen.

Mit dem Jeep fah­ren wir hin­ein in den Natio­nal­park, direkt ans Ufer des Rap­ti River. Kaum bin ich aus dem Auto gestie­gen, winkt Fulen­dra mich auf­ge­regt her­an. „Mensch, hast du ein Glück! Da drü­ben steht ein Nas­horn!“, sagt er und drückt mir sein Fern­glas in die Hand. Ich kann Rumpf und Hin­ter­teil des rie­si­gen Tie­res gut erken­nen, es steht in hohem Gras und hält den Kopf gesenkt. Ohne das Fern­glas ver­lie­re ich es aber sofort wie­der aus den Augen.

Bitte nicht auf Elefanten reiten!

Mit uns war­ten vie­le ande­re Grüpp­chen von Tou­ris­ten mit ihren Gui­des dar­auf, dass ihre Fluss­tour beginnt. Es dau­ert eine Wei­le, bis genü­gend Kanus, Modell Ein­baum, für alle am Ufer anle­gen. So bleibt Zeit, über die Tie­re im Schutz­ge­biet zu spre­chen. Es gibt viel Posi­ti­ves zu berich­ten und Fulen­dras Freu­de dar­über ist anste­ckend: „Die Anzahl der Tiger hat sich in den ver­gan­ge­nen zehn Jah­ren fast ver­dop­pelt. Jetzt haben wir 235. Außer­dem leben heu­te 645 Nas­hör­ner im Park, das sind 210 mehr als 2009“, erzählt er stolz.

„Und was hältst du davon?“, fra­ge ich und deu­te hin­über zu den bei­den Ele­fan­ten, die gera­de mit je zwei Tou­ris­ten und einem Mahout auf dem Rücken durch den Fluss waten. „Gar nichts“, ant­wor­tet er. „Die Ele­fan­ten wer­den hier nicht gut behan­delt. Sie bekom­men fast nur Reis­stroh zu fres­sen, das nicht beson­ders nahr­haft ist. Und sie sind stän­dig im Ein­satz.“
Ele­fan­ten­rei­ten ist immer noch eine belieb­te Art und Wei­se, den Natio­nal­park zu erkun­den. Fulen­dra rät sei­nen Gäs­ten davon ab. Und ich schä­me mich bis heu­te zutiefst dafür, dass ich es – ahnungs­los und schon wenig spä­ter von Gewis­sens­bis­sen geplagt – 2013 auf Bali ein­mal gemacht habe. Zwei Jah­re danach habe ich eine Auf­fang­sta­ti­on für miss­han­del­te Ele­fan­ten nahe Chiang Mai in Thai­land besucht und wer­de seit­dem nicht müde, ande­ren Rei­sen­den vom Ele­fan­ten­rei­ten abzu­ra­ten. Inzwi­schen bin ich aller­dings sogar hin­sicht­lich Zufluchts­stät­ten für geret­te­te Ele­fan­ten ver­un­si­chert: Dort wer­den die Tie­re zwar nicht gerit­ten, Tou­ris­ten dür­fen sie aber immer noch berüh­ren, füt­tern und baden.

Mit dem Einbaum-Kanu an Krokodilen vorbei

„Unser Kanu ist da“, sagt Fulen­dra und reißt mich aus mei­nen Gedan­ken. Alle Pas­sa­gie­re – zehn sind es in unse­rem Fall – bekom­men ihr eige­nes Höcker­chen, das sie im Boot vor­ein­an­der auf­stel­len. Das erlaubt bei Bedarf etwas mehr Bein­frei­heit. Beim Able­gen gibt es nur eine Anwei­sung: nie­mals die Hän­de ins Was­ser ste­cken – wegen der Kro­ko­di­le, ver­steht sich. Im Chit­wan Natio­nal­park leben zwei Arten: Sumpf­kro­ko­di­le und Gan­ges­ga­via­le. Letz­te­re sind extrem bedroht und nur noch hier, im Süden Nepals, und im Nor­den Indi­ens zu fin­den. Gan­ges­ga­via­le kön­nen bis zu fünf Meter lang wer­den und haben lan­ge, schma­le Schnau­zen mit mehr als ein­hun­dert Zäh­nen. Mit den kom­pak­ten Sumpf­kro­ko­di­len haben sie nichts gemein, außer dass sie eben­so reg­los in der Son­ne lie­gen, wäh­rend wir, plötz­lich ganz still gewor­den, neben ihnen vor­bei­glei­ten.

Gan­ges­ga­vi­al

An den Ufern sit­zen Stör­che, Kor­mo­ra­ne und ein Pfau. Ein Foto von ihm gelingt mir nicht, weil ich die Kame­ra nicht schnell genug start­klar krie­ge. Eben­so wenig gelin­gen mir Bil­der von den in allen mög­li­chen Blau­tö­nen schim­mern­den Eis­vö­geln, die hier und da auf den Ästen sit­zen. Über­haupt, Vögel: Es gibt hier wohl mehr als 540 Arten und vor dem Able­gen habe ich sehr vie­le Gäs­te und Gui­des mit Vogel­füh­rern unterm Arm gese­hen.

Zu Fuß durch den Dschungel

Beim ein­stün­di­gen Dschun­gel­spa­zier­gang im Anschluss gibt es eben­falls nur eine Anwei­sung: „Ver­such, mög­lichst nicht auf Zwei­ge zu tre­ten und lei­se zu sein“, sagt mein kom­plett in Grün geklei­de­ter Gui­de. Ich hef­te mich an sei­ne Fer­sen, zu zweit lau­fen wir zuerst durch Gras­land und dann hin­ein in den dich­ten Dschun­gel aus Sträu­chern und Sal­bäu­men, die die Wäl­der im Chit­wan Natio­nal­park prä­gen. Dass Fulen­dra immer wie­der plötz­lich inne­hält und sich kon­zen­triert umsieht, macht mich irgend­wann doch etwas ner­vös. Schon zwei­mal hat er mir Tiger- und Nas­horn­spu­ren an der Erde gezeigt. Auch Leo­par­den, Lip­pen­bä­ren, Schlan­gen und Scha­ka­le könn­ten uns hier begeg­nen.

So eine Begeg­nung bleibt jedoch aus. Tiger zum Bei­spiel wer­den erst in der Däm­me­rung aktiv, erklärt Fulen­dra, und jeder Besu­cher, der einen erspäht, kann sich aus­ge­spro­chen glück­lich schät­zen. Ich fin­de die Pflan­zen hier im Dschun­gel schon beein­dru­ckend genug. Vor uns taucht ein See auf, der fast voll­stän­dig mit Lotus­blu­men zuge­wach­sen ist. „Wie schön!“, sage ich. „Ja, schön sieht es aus“, sagt Fulen­dra, „aber die Blu­men sind hier ein Rie­sen­pro­blem. Kei­ne Tier­art frisst sie. So wuchern sie die Gewäs­ser zu und die Tie­re kön­nen nicht mehr dar­aus trin­ken. Wir müs­sen die Lotus­pflan­zen des­halb regel­mä­ßig auf­wän­dig ent­fer­nen.“

Und dann sind da noch die Klet­ter­pflan­zen, die sich Run­de um Run­de um unzäh­li­ge Baum­stäm­me gewi­ckelt haben. Mit ihrem knor­ri­gen Aus­se­hen sor­gen sie für Mär­chen­wald­at­mo­sphä­re. Aber auch sie sind ein gro­ßes Pro­blem, weil sie vie­le Sal­bäu­me über kurz oder lang töten. Bei ihrem Ver­such, ent­lang der Stäm­me nach oben zu wach­sen, erwür­gen die Bies­ter – „Tree Kil­ler Vines“ nennt Fulen­dra sie – die Bäu­me buch­stäb­lich. Unter­wegs lau­fen wir an eini­gen völ­lig von der Schling­pflan­ze erdros­sel­ten Baum­stäm­men mit abge­stor­be­nen, ver­färb­ten Spit­zen vor­bei.

Schließ­lich sehe ich doch noch Tie­re aus der Nähe – die kleins­ten des Dschun­gels aller­dings: Ter­mi­ten. Die bau­en hier Hügel, die dop­pelt so groß sind wie ich. Über­all erhe­ben sich die nach oben spitz zulau­fen­den Kunst­wer­ke im dich­ten Urwald.

Jeep-Safari: Kein Glück, kein Foto

Am Nach­mit­tag steht die Jeep-Tour an, zu der ich genau als die Safa­ri-Anfän­ge­rin erschei­ne, die ich bin: Kei­ne Son­nen­bril­le, kei­nen Son­nen­schutz, kei­ne Müt­ze nicht mal an ein lan­ges Shirt zum Über­zie­hen habe ich gedacht. Mei­nen Kopf habe ich in der Mit­tags­pau­se wohl schlicht­weg aus­ge­schal­tet. Eine ande­re Teil­neh­me­rin gibt mir net­ter­wei­se etwas von ihrer Son­nen­milch ab, aber kaum bre­chen wir zu der drei­stün­di­gen Fahrt auf, wird mir klar, dass ich mir wegen Son­ne und Hit­ze nicht all­zu vie­le Sor­gen machen muss: Wir fah­ren über­wie­gend durch schat­ti­ge Gebie­te und im Fahrt­wind wird es, zumin­dest jetzt, Mit­te Novem­ber, ziem­lich kalt auf der offe­nen Lade­flä­che des Jeeps.

Wir hal­ten ein paar Mal, um Affen in Baum­kro­nen zu beob­ach­ten und müs­sen uns dafür ziem­lich ver­ren­ken. Ein­mal über­que­ren Rehe die Sand­pis­te vor uns. Erst kurz vor Schluss ent­deckt unser Gui­de im Wald zu unser Rech­ten ein Nas­horn. Das mas­si­ge Tier ist uns zwar rela­tiv nah, es ver­steckt sich aber so gut im Dickicht, dass ich nicht ein­mal ein Foto mache, weil ich weiß, dass ich es dar­auf spä­ter nicht mehr erken­nen wer­de. Inzwi­schen bin ich aber auch ein­fach ziem­lich durch­ge­fro­ren.

Erst ganz am Ende der Jeep-Safa­ri läuft mir ein Tier regel­recht vor die Lin­se, aller­dings eines, das mir auch in Deutsch­land schon begeg­net ist: ein Wild­schwein. Es nähert sich ziel­stre­big den Jeeps, die gera­de am Park­platz ange­kom­men sind, aber kei­nen der Gui­des scheint das in Auf­ruhr zu ver­set­zen. „Der ist es lei­der gewöhnt, von Men­schen gefüt­tert zu wer­den. Der tut nichts“, win­ken sie ab. Der Ame­ri­ka­ner, der gera­de noch neben mir saß, will mir die Hand rei­chen, um mir beim Aus­stei­gen von der hohen Lade­flä­che zu hel­fen. „Vor­sicht, das Wild­schwein steht direkt neben dir“, sage ich. Er lacht, als hät­te ich einen Witz gemacht, sieht sich erst Augen­bli­cke spä­ter um und zuckt zusam­men. Das Wild­schwein steht direkt neben ihm.

So ver­las­se ich den Chit­wan Natio­nal­park ohne spek­ta­ku­lä­re Clo­se-Up-Fotos von Tigern Nas­hör­nern, wie sie vie­len ande­ren Besu­chern hier gelin­gen. Kein Grund, ent­täuscht zu sein. Ich habe auch so genug gese­hen, genug gestaunt, genug gelernt.


Offen­le­gung: Ich wur­de im Rah­men mei­ner letz­ten Rei­se nach Nepal von dem  Rei­se­ver­an­stal­ter „Fai­ra­way“ zu zwei Über­nach­tun­gen im Tha­ru Com­mu­ni­ty Homestay ein­ge­la­den, die Tou­ren in den Chit­wan Natio­nal­park waren Teil des dor­ti­gen Pro­gramms.

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