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Auf ihm steht „mein“ Baumhaus, mit Blick auf den feuerspeienden Mount Yasur. Die Einheimischen lassen mich an ihrem Leben teilhaben – eine unvergessliche Erfahrung.
1 In Flipflops auf zum Höllenschlund
Ich sitze auf der Terrasse meines Baumhauses, der Wind raschelt durch die Blätter, ein paar Kühe muhen um die Wette, Vögel zwitschern, und ab und zu grummelt und donnert der Vulkan, dessen dicke Rauchwolke über dem Dschungel davonzieht. Ich will ihm in den Schlund schauen, dem Mt. Yasur; er ist der Grund, warum es mich auf die abgelegene Südseeinsel Tanna verschlagen hat. Es fühlt sich unwirklich an, so weit weg von zu Hause zu sein: Selbst auf dem schnellsten Weg liegen immer noch vier Flüge zwischen Deutschland und meinem Baumhaus in Vanuatu.
Hätte ich am Abend zuvor nicht zufällig im Hostel der australischen Auswanderer Janelle und Jack übernachtet, wäre ich wohl kaum wirklich hier gelandet. „Ich glaub’, sie hat gar keine Ahnung, worauf sie sich da einlässt“, hatte Janelle amüsiert, aber auch etwas skeptisch zu ihrem Mann Jack gesagt, als ich ihr von meinem Plan erzählte, auf eigene Faust nach Tanna zu reisen. Jack hatte mich mit einem Kumpel abends am Pool des Hostels in Port Vila auf der Hauptinsel Vanuatus spontan zu einem Wein eingeladen. Obwohl ich hundemüde war, hatte ich mich zu ihnen gesetzt und interessiert den Erzählungen von Jacks Kumpel Germain gelauscht, der vor vielen Jahrzehnten aus dem Iran über Japan nach Vanuatu ausgewandert war. „Wer holt dich vom Flugplatz ab?“, hatte Janelle gefragt und klargestellt: „Da warten keine Taxis oder Busse!“ Auch, meine Baumhaus-Unterkunft nicht vorher zu buchen, sei reichlich blauäugig gewesen: „Was ist, wenn der Besitzer gar nicht da ist?“ Zum Glück kennt Janelle so ziemlich jeden, den man auf Vanuatu so kennen muss. Ohne zu zögern hatte sie mir mitten in der Nacht noch eine Fahrt vom Flughafen und ein Baumhaus organisiert.
Und so bin ich jetzt tatsächlich hier, in der „Jungle Oasis“ – wie meine Unterkunft heißt – und freue mich auf den Aufstieg zum Vulkan. Endlich werde ich abgeholt: nicht von Kelson, der die Anlage hier aufgebaut hat und managet, sondern zu meiner Überraschung von seiner Tochter Lucien. Ich schätze sie auf etwa 16 Jahre. Da wir etwas später losgehen als geplant, frage ich mich, ob wir es noch vor der Dunkelheit hoch schaffen werden. Die Umrundung des Kraters soll nämlich nur im Hellen möglich sein. Wir gehen auf einem breiten Weg aus schwarzem Lavasand durch den Dschungel und passieren dabei riesige Farne und verschnörkelte Ranken. Es ist schwül. Ich frage Lucien, die neben ihrer einheimischen Sprache Bislama auch ein bisschen Englisch spricht: „Do you have wild animals here?“ Sie: „Yes.“ Das Bild eines Tigers ploppt vor meinem inneren Auge auf. Nicht ausgeschlossen, dass die verschlungene Pflanze neben mir sich bei genauerer Betrachtung als Schlange entpuppt. Sind das Augen da im Busch? Ich verfluche, dass ich mich nicht besser informiert habe und frage: „What kind of animals?“ Ihre Antwort: „Pigs and chicken.“
Nachdem wir etwa 40 Minuten durch den Dschungel gelaufen sind, ohne auch nur einer Menschenseele zu begegnen, ragt der Mt. Yasur plötzlich vor uns auf – es ist noch hell und wir sind fast am Ziel. Zeit, diesen Anblick zu genießen, habe ich nicht. Denn plötzlich kommen Pickup-Trucks voller Menschen von unten anbraust (Lucien hört sie schon lange bevor sie da sind): einer, noch einer. Dann eine ganze Kolonne von etwa sechs Autos. Alle preschen an uns vorbei, und als wir wenig später am Aufstieg zum Krater ankommen, latscht eine ganze Meute von doofen Touristen im Gänsemarsch dort hoch, fotografiert dabei jeden Lavaklumpen und einige unterhalten sich sogar auf deutsch. Das ärgert mich! Ich will die einzige doofe Touristin hier sein!
Oben angekommen stoppt mich eine riesige Rauchwolke, die sich aus dem Krater wälzt. Es riecht nach Schwefel. Der Weg ist rutschig, so dass ich aufpassen muss, wo ich hintrete. Nichts steht hier zwischen Kraterrand und dem freien Fall ins Erdinnere.
Das Grollen, das auch schon von Weitem zu hören war, ist hier oben viel lauter und bedrohlicher. In den Krater hineingucken kann man aber nicht. Ich trabe der Touri-Meute nach. Die meisten sind an einer breiteren Stelle stehengeblieben, doch auch von hier gibt es nicht mehr zu sehen. Ich bin enttäuscht. Zwar sind das Donnergrollen und die Rauchwolke natürlich schon etwas ganz anderes, als auf einem nicht mehr aktiven Vulkan zu stehen. Aber ich hatte spektakuläre Lavafontänen erwartet und den Werbebildern dabei Glauben geschenkt, ohne zu bedenken, dass das Ganze ja auch wetter- beziehungsweise vulkanlauneabhängig ist.
Als der Wind dreht, zieht der beißende Rauch plötzlich in unsere Richtung. Auf dieser Seite komme ich nicht weiter, also kehrte ich um und will es nochmal in die andere Richtung probieren. Ich frage Lucien, ob man da mehr sehe. Sie sagt: „The same“.
Ein Teil des weiteren Wegs sieht bedenklich schmal aus, doch ein paar versprengte Touris haben es offensichtlich hinüber geschafft und so sehe ich mir das genauer an. Von Nahem ist der Pfad gar nicht mehr so schmal, etwa einen Meter breit, allerdings zur Seite hin abfallend und voller Steine. Ich wage mich weiter vor und kann mein Glück kaum fassen: von hier kann ich in den Schlund sehen, in der Tiefe tatsächlich einen Ring aus orange-rot lodernder Magma erkennen. Immer wieder springen einzelne Funken hoch. Für Lucien, die den ganzen Weg in Flipflops zurück gelegt hat, ist das so langweilig, dass sie lieber mit dem Handy telefoniert. Der Wind weht hier ordentlich und fegt mir den schwefligen Aschestaub ins Gesicht, so dass ich meinen Kopf nach den ersten „Beweisfotos“ erst mal talibanmäßig in ein Tuch einhülle. Plötzlich kracht es ohrenbetäubend laut. Direkt vor meinen Augen spuckt der Vulkan ein ganzes Feuerwerk aus rot-orange leuchtenden Lavaklümpchen in den Himmel. Vor Schreck fällt mir die Brille von der Nase. Zum Glück hatte ich genug Abstand zum Abgrund, so fällt sie nicht in den Krater. Was für ein Spektakel! Unglaublich, dass ich sowas erleben darf! Von da an bin ich von dieser Stelle nicht mehr wegzukriegen (nicht, dass es Lucien stören würde; die telefoniert – wegen des Aschewindes mit dem Rücken zum Vulkaninneren – einfach weiter). Ich sitze am Kraterrand und starre fasziniert in den Höllenschlund. So nenne ich das Vulkaninnere, denn es kommt mir tatsächlich ein bisschen vor wie das Tor zu einer anderen Welt. Immer mal wieder schießt Lava hoch.
Während die untergehende Sonne am weiten Horizont einen rosafarbenen Streifen über den Dschungel malt, sticht das Glühen im Zentrum des Vulkans immer deutlicher hervor. Ich hätte Stunden so verbringen und einfach zuschauen können. Der Gedanke, dass der schmale Pfad im Dunkeln doch etwas zu gefährlich sein könnte, macht mir jedoch Sorgen. Daher stapfe ich wieder zurück zu Lucien. Auf der anderen Seite beobachten wir dann noch bis in die tiefe Dunkelheit die rot reflektierenden Schwefelwolken. Wer auch immer die Natur erschaffen hat, war so unglaublich phantasievoll! Nun sehen wir sogar Lava-Fontänen von der „Touri-Stelle“ aus (die Meute ist jetzt abgezogen).
Es ist schon stockdunkel, als wir schließlich den Rückweg antreten, mit Taschenlampe und Handy-Licht. Bis auf die Zikaden ist es absolut still. Als wir etwa ein Drittel der Strecke hinter uns haben, überholt uns der Pickup-Truck eines Einheimischen, der als einziger noch nach uns auf dem Vulkan geblieben war. Lucien kennt ihn; wir dürften auf der Ladefläche bis nach unten mitfahren. So geht es holprig durch den dunklen Dschungel, ab und zu muss ich den Kopf vor nahenden Ästen einziehen.
Am Fuß des Vulkans lässt uns der Fahrer absteigen. Wir gehen wieder zu Fuß weiter. Mir fällt auf, dass ein Mann hinter uns her schleicht. Wir bleiben stehen, Lucien wechselt ein paar knappe Worte mit ihm. Da ich die Sprache nicht verstehe, fällt es mir schwer, das einzuordnen. Für mich klingt es aggressiv, als hätte Lucien etwas Abwehrendes gesagt. Der Mann folgt uns auf einem Rad, ganz langsam, direkt hinter uns. Lucien sagt kein Wort. Mir ist das nicht geheuer. Ich halte es schließlich nicht mehr aus: „Do you want to pass?“, frage ich in dem bestimmendsten Ton, den ich gerade hinbekomme. Der Mann lacht kurz. Dann überholt er uns.
Zurück in der „Dschungle Oasis“ merke ich, wie erschöpft ich bin. Es war ein intensiver Tag. Im Baumhaus fühle ich mich geborgen und falle in einen tiefen Schlaf.
2 Das Leben im Wunderdschungel
Ich muss gestehen, dass mich die Kultur der Menschen auf Vanuatu nicht sonderlich interessiert hat, als ich mich für meine Reise hierhin entschieden habe. Ich wollte den Vulkan erleben und mich begeisterte die Vorstellung, in einem Baumhaus zu schlafen. Niemals hätte ich gedacht, dass auch die Menschen und die Gelegenheit, eine völlig andere Kultur so hautnah und authentisch miterleben zu können, diese Reise so unvergesslich machen würden. Es ist spannend, aber auch anstrengend, das alles zu verarbeiten: der Vulkan, das Baumhaus, das Leben hier. Ich erleide fast einen kleinen Kulturschock.
Ein Beispiel: Heute morgen erzählte mir Kelson im Plauderton von seinem Bruder, der gerade zu Besuch ist. Der sei vor einigen Jahren nach Australien gereist und habe dort in einem Hostel eine wunderschöne Frau aus Martinique kennen gelernt. Er habe daraufhin seine Ehefrau und die Kinder nach Neukaledonien in den Urlaub geschickt. Sie sollten nichts mitbekommen, denn er habe dann schnell die Frau aus Martinique geheiratet! Mit der habe der Bruder inzwischen auch zwei Kinder. Ich war fassungslos. Ich glaube, er erwartete eine Reaktion wie: „Mensch, das hat dein Bruder aber echt clever eingefädelt.“ Ich sagte nur: „Big family“. Da lachte er und plauderte weiter. Später traf ich dann den Bruder, der sich mit mir unterhalten wollte. Ich sagte ziemlich bald: „We’ll see each other around“, und beendete damit das Gespräch. Ich hatte keine Ambitionen, seine dritte Frau zu werden.
Das Übernachten im Baumhaus ist toll. Es hat etwas von Camping, mit dem Luxus eines Bettes inklusive Moskitonetz – das ist nötig, da die Mücken hier Malaria übertragen. Der Clou ist der freie Blick auf den Vulkan, den man wegen der üppigen Vegetation nur von hier oben hat. Nachts leuchtet die Wolke, die er regelmäßig donnernd ausstößt, hell weiß oder rot. Ab vier Uhr morgens wird es dann langsam hell und die Tiere fangen an Terror zu machen. Die Zikaden zirpen die ganze Nacht, es kommen mehrere (wilde) krähende Hähne und laut rumblökende Kühe (muhen ist das nicht!) hinzu. Später setzt das Konzert aus den merkwürdigsten Vogelstimmen ein. Zum Glück habe ich Ohrstöpsel und eine Schlafmaske dabei. Das einzig Blöde ist, dass ich zum Klo im Dunkeln eine steile Treppe herunterklettern und eine Wiese mit frei laufenden Rindern queren muss.
Da es kein Wasser zu kaufen gibt, trinke ich aber sowieso wenig. Es gibt hier keinen Supermarkt oder so und Autos sind rar, somit geht Kelson auch nur einkaufen, wenn ihn mal jemand mitnimmt. Heute hatte ich so einen Durst, dass ich gefragt habe, ob er irgendwas zu Trinken hat. Kelson, der mit seinem Bruder – das Gewehr in der Hand – gerade auf Schweinejagd gehen wollte, holte mir daraufhin einfach eine Kokosnuss von der Palme!
Eine Dusche, die diesen Namen verdient hätte, gibt es hier nicht, deshalb gehen alle im Fluss baden. Lucien nimmt mich heute mit. Ihr Handy, aus dem diesmal Musik plärrt, selbstverständlich auch (was das angeht, unterscheidet sie sich in nichts von einem deutschen Teenager, trotz aller Kulturunter-schiede). Auf einem Trampelpfad gehen wir durch den Dschungel, vorweg, wie ich zunächst annahm, ihr kleiner Bruder (etwa 7 Jahre alt) mit eigener Machete. Ein langes Messer gehört hier zur Grundausstattung, fast jeder hat ständig eins dabei: Viele arbeiten auf den Kaffee‑, Kava- und Fruchtplantagen, aber wie ich beobachten konnte, werden die Macheten auch zum Flöten schnitzen und Dosen öffnen genutzt. Später wird mir klar, dass „der Bruder“ mit den sehr kurzen (natürlich blonden!) Haaren eine Schwester ist und der vermeintliche Trampelpfad eine Hauptstraße, gemessen an den ganzen Menschen, die uns entgegenkommen – mal mit Sack auf’m Kopf, mal mit sieben Kindern und so weiter. Ich streife staunend wie Alice im Wunderland durch den Dschungel und entdecke Mangobäume, herrlich verknotete Verästelungen und erkaltete Lavamassen. Nach grob einer halben Stunde sind wir am Fluss angelangt, der schon recht bevölkert ist. Wir staksen noch weiter flussaufwärts, vorbei an einigen Ziegen. Je weiter wir gehen, desto mehr Kinder haben wir im Schlepptau. Irgendwann bleibt Lucien an einer schönen Stelle stehen und im Nu sind alle im Wasser. Es ist herrlich, endlich den Vulkanstaub abspülen zu können. Die Kinder sind voller Energie und stecken mich mit ihrer Lebensfreude an. Lucien macht Fotos mit ihrem Handy und auf meine Bitte hin auch mit meiner Kamera. Wir essen von Lucien gemachte Sandwiches und sitzen in der Sonne. Mir fällt auf, dass ein junges Mädchen nichts zum Abtrocknen hat. Bibbernd sitzt sie auf einem Felsen. Ich schenke ihr mein kleines Handtuch und sie mir ein Strahlen, für das ich ihr am liebsten noch 1000 Handtücher schenken würde. Dann geht es wieder zurück. Zwei kleine Kinder folgen uns den ganzen Weg bis zur „Dschungle Oasis“. Eine schöne Alternative zu einer Dusche war das!
3 Unterm Traumzauberbaum
Mein Rucksack ist gepackt. Es ist Markttag in Lenakel, der größten Stadt der Insel, und das ist für mich die Gelegenheit, eine Autofahrt dorthin zu bekommen. Früh morgens geht es los, der in die Jahre gekommene Geländewagen holpert über die weite Ebene aus Vulkanasche. Ich werfe einen letzten, sehnsüchtigen Blick auf den im Rückspiegel schrumpfenden Mount Yasur. Die Fahrt in ein ausgetrocknetes Flussbett erinnert an ein Rodeo. Das ist aber unwesentlich, denn meine Augen fixieren – soweit das bei dem Geruckel möglich ist – die erkalteten Lavamassen: Dunkelrot, massiv und überdimensioniert sind sie mitten in die üppige Vegetation gequollen und wirken nun wie die eingefrorenen Tentakel eines Tiefseemonsters.
Wenig später sind wir wieder in den Dschungel eingetaucht. Große, schillernde Schmetterlinge und bunte Vögel kreuzen den Weg, manchmal auch ein Schwein. Unsere Buckelstrecke ist zur Schotterpiste geworden. Zwei Fußgänger gabeln wir auf, das ist eine Tradition auf Tanna. Sie stammt noch aus den Zeiten der Besatzung: Solange Platz ist im Auto, wird jeder, der will, mitgenommen.
Wir passieren kleine Siedlungen aus primitiven Holzhütten. Ich sehe immer wieder Grundschulen und viele spielende Kinder. Nach einer Stunde hält der Fahrer an einem Dorf, an dessen Hütten noch gebaut wird. Kelson redet mit den Männern dort; er fällt auf in seiner westlichen Kleidung. Die meisten Dorfbewohner tragen Pflanzenkronen und zu einem Rock gebundene Tücher. Sie diskutieren mit Kelson, ab und zu guckt mich einer etwas argwöhnisch an – oder bilde ich mir das ein? „Was machen wir hier?“, würde ich gern fragen, doch jetzt werden wir durch das Gelände geführt. Endlich klärt mich Kelson, der so etwas wie der Tourismusmanager von Tanna ist, auf: „Hier soll ein Dorf in traditionellem Stil entstehen, für Touristen“, erläutert er nicht ohne Stolz. Am Ende der kleinen Führung sind wir auf dem zentralen Platz angelangt. Die kleine Gemeinde versammelt sich und stimmt einen traditionellen Tanz mit rhythmischem Gesang an. Zwei Kinder hüpfen spontan mit.
Das Touristencamp in Spe hat eine Besonderheit, die auch viele Dörfer der Einheimischen ausmacht: Es ist rund um einen hochhausgroßen, ausladend breiten Baum angeordnet. Wie in James Camerons Film „Avatar“ bildet er das Herz, vielleicht sogar die Seele des Dorfes. Schon vom Flug-zeug aus waren mir die riesigen Bäume auf Vanuatu aufgefallen. Unter einem zu stehen, beflügelt meine Phantasie: Was, wenn jedes Blatt eine Geschichte erzählt, wenn man es mit einer Stimmgabel antippt, wie bei meinem alten Kinderhörspiel „Der Traumzauberbaum“? Das Sonnenlicht setzt die prächtige Baumkrone in Szene. Wahrscheinlich hätte ich mich noch länger in meinen Gedanken verloren, doch Kelson bläst zum Aufbruch. Doch das ist nicht tragisch, denn der nächste Riesenbaum sollte nicht lange auf sich warten lassen.
In Lenakel angekommen, treibt mich der Hunger geradewegs auf den Markt. Schwarze Frauen in bunten Kleidern unterhalten sich, Männer diskutieren, Kinder laufen umher. Auf Tischen und Decken legen sie die unterschiedlichsten Früchte und Gemüsesorten aus. Nach dem eintönigen Essen im Dschungel (Reis mit Fleisch oder Fleisch mit Reis) freue ich mich sehr auf frische Früchte und die Möglichkeit, mein Essen selbst zu kaufen. Eingedeckt mit Nüssen, Mangos und Kokosnüssen suche ich einen Supermarkt. Oder einen Laden. Zumindest eine Art Kiosk wird es doch geben in der Hauptstadt der Insel? Ich frage mich durch. Überall werde ich als einzige Weiße hier neugierig und freundlich empfangen, ich höre immer wieder „Retail Store“ und gehe schließlich in einen. Ja, dort gibt es Lebensmittel: Reis, Mehl und andere Dinge, die mir ohne Küche wenig nützen. Ich verlasse den „Retail Store“ mit zwei Dosen Thunfisch.
Wenig später sitze ich schon mit einem jungen Mann im Auto, dessen Namen ich nicht kenne. So unkompliziert, wie hier alles organisiert wird, hatte Kelson mir eine Unterkunft in Lenakel und die Besitzerin ebendieser die gewünschte Fahrt nach Yakel beschafft. Es soll eins von zwei ganz traditionellen Dörfern auf der Insel sein. Ich bin gespannt, was mich erwartet, denn auf mich wirken auch schon die gewöhnlichen Dörfer auf Tanna sehr traditionell. Als wir am Dorfplatz ankommen, ist dieser menschenleer. Majestätisch recken sich die Äste des diesmal noch größeren Traumzauberbaums über den ganzen Platz, wie ein Dach. In seiner Mitte entdecke ich ein etwas primitiveres Baumhaus als das, das ich bei Kelson beziehen durfte. Mein Fahrer macht sich auf die Suche nach den Bewohnern und kehrt schließlich mit einem Mann zurück, der bis auf eine um sein bestes Stück gewickelte, dicke Kordel nicht bekleidet ist. Er begrüßt mich freundlich und ich zwinge mich dazu, nicht auf die doch etwas schmerzhaft aussehende Kordelwickelei zu starren. Der Fahrer übersetzt, dass ein Tanz zu meiner Begrüßung aufgeführt werden soll, das Dorf werde schon zusammengetrommelt. Ich kann es abwehren, sage, dass ich gern etwas Geld dalasse, aber unbedingt einfach nur das Dorf so wie es ist sehen möchte, ohne Spektakel. Und so klettern wir auf eine Art Aussichtshütte. Die wackelige Leiter ist aus knorrigen Ästen konstruiert. Oben angekommen hat man einen guten Überblick über die schlichten Holzhütten mit ihren Blätterdächern. Ein Wildschwein trabt über den Platz. Aus Knochen geschnitzte Figuren dekorieren die Aussichtshütte. Es ist keine Aussichtshütte, sondern eine Art Gebets- oder Meditationsraum, erklärt der Dorf-Guide, genau verstehe ich es nicht. Er erzählt von einem schönen Wasserfall ganz in der Nähe; ja, natürlich will ich da hin, ich lasse mich schnell überreden. Es geht steil nach unten bei schwüler Hitze. Die Pflanzen um uns herum kommen mir alle etwas zu groß vor, ausladende Kaffeebäume, Bambusstöcke so dick wie Baumstämme – wieder bin ich Alice im Wunderdschungel. Wir waten durch einen Bach, dann sind wir am Ziel. Es ist ein Wasserfall, wie die, die in Disney-Filmen vorkommen: Umgeben von tropischen Bäumen mündet er in einen kleinen See. Und das Beste ist: Ich habe ihn fast ganz für mich alleine! Allerdings kommt jetzt noch ein Einheimischer anspaziert, mit Schilfrock und Pflanzenkrone, und posiert auf einem langen Grashalm kauend vor dem Bach. Vermutlich soll ich ihn fotografieren. Ich ahne, dass dies eine Möglichkeit ist, mit den Touristen Geld zu verdienen. In mir meldet sich ein unangenehmes Gefühl. Weil es so friedlich hier ist, verdränge ich immer wieder, dass Vanuatu zu den ärmsten Ländern der Welt gehört. Es ist so abgelegen und wird einfach zu häufig von Naturkatastrophen heimgesucht: Vulkanausbrüche, Erdbeben, vernichtende Zyklone. Und doch sind die Menschen voller Zuversicht, geben nicht auf. Das Volk von Vanuatu ist angeblich sogar das glücklichste der Welt, lese ich später – es überrascht mich nicht.
Ich gehe schließlich in dem kleinen Wasserfallsee schwimmen, und mein Fahrer springt daraufhin auch ins Wasser. Es ist herrlich. Als wir immer noch leicht durchnässt und außer Puste vom steilen Aufstieg wieder oben im Dorf ankommen, ist das voller Leben. Auf dem Platz unter dem Traumzauberbaum sitzen Frauen, nur mit einer Art Bastrock bekleidet, mit ihren Kindern auf Decken und bieten selbst gemachten Muschelschmuck feil. Einige haben die Arme vor den Brüsten verschränkt; es sieht aus, als schämten sie sich. Unsicher, wie ich mich verhalten soll – genau solch ein Aufgebot hatte ich vermeiden wollen – schaue ich kurz anerkennend auf die ausgelegte Ware, sage dann dem Dorf-Guide, dass ich nichts kaufen aber mich gern für die tolle Führung bedanken möchte und gebe ihm Geld.
Auf der Rückfahrt rede ich mit meinem Fahrer über das Dorf. Während für die Alten das traditionelle Leben mit seinen Ritualen und rudimentären Lebensumständen das einzige sei, was sie kennen, brächten die Jungen ihre Welt durcheinander: „Sie haben Handys und wollen weg, einen Job, studieren, am Fortschritt teilhaben.“ Was er berichtet, deckt sich mit meinen Erfahrungen: Lucien wohnt zwar mitten im Dschungel, wo ein Großteil der Nahrung selbst angebaut oder gejagt werden muss und ein Generator nur für eine Stunde am Tag Strom zur Verfügung stellt, hat aber andererseits ein Handy und dank eines Computers in der „Jungle Oasis“ sogar Zugang zum Internet. Vanuatu ist voller Gegensätze. Hier ist nichts perfekt, trotzdem klappt es alles irgendwie. Für mich war das neu: dass ich auch ohne Komfort und jegliche Planungsmöglichkeiten glücklich sein kann.
Ich bin traurig, als ich im Flugzeug sitze und endgültig Abschied nehmen muss. Bilder schießen mir in den Kopf: Die skurrile Begegnung mit zwei Australiern am Stand von Lenakel: Weil wir die einzigen Weißen weit und breit waren, haben wir uns – obwohl völlig unbekannt – schon von Weitem gewunken und dann überschwänglich begrüßt. Die fantastische, auch unheimliche Unterwasserwelt, die ich beim Schnorcheln erkundet habe. Der mit Sternen übersäte Nachthimmel. Das kleine Kind, das sich einfach auf meinen Schoß gesetzt und mir etwas in seiner Sprache erzählt hat, obwohl ich kein Wort davon verstand. Viele Leute sind sehr offen, so wahnsinnig freundlich, vor allem auf Tanna auch so natürlich – das macht dieses Land so liebenswert. In Deutschland habe ich mich schon dran gewöhnt, meist von älteren Menschen umgeben zu sein. In Vanuatu dagegen ist alles voller Kinder und es gibt so viele junge Menschen, die sich am Leben erfreuen. Natürlich war es nur ein kleiner Einblick, den ich gewinnen durfte. Doch für mich war es ein großartiger, unvergesslicher Einblick, in ein Land, das für immer einen Platz in meinem Herzen haben wird.
Nachtrag
Rund zwei Monate nach meiner Rückkehr höre ich zum ersten Mal von Vanuatu in den Nachrichten: Zyklon „Pam“, einer der heftigsten je gemessenen Zyklone, habe das Land verwüstet, heißt es da; Nachrichten aus Vanuatu gebe es noch keine. Ich bin geschockt. Ich suche nach Informationen im Internet und finde ein Satellitenbild des Zyklons. Sein Auge ist so groß wie die Hauptinsel Eftate. „So etwas kann keiner überleben“, denke ich und bin außer mir. Ich kenne die Hütten auf Tanna und weiß, dass sie nicht sehr stabil sind. Gegen einen Zyklon der stärksten Kategorie fünf haben sie keine Chance. Dass es ausgerechnet diese lebensfrohen Menschen trifft, kann ich einfach nicht fassen. Dabei wusste ich von den Naturkatastrophen. Etwa alle zehn Jahre fielen seine Hütten dem Vulkan zum Opfer, hatte Kelson mir erzählt. Er hat sich schon dran gewöhnt, sie immer wieder aufbauen zu müssen. Ob er und Lucien überlebt haben? Ich muss es wissen und schreibe eine Mail. In Deutschland können nur wenige meine Betroffenheit nachvollziehen: „Sowas passiert doch ständig“, höre ich, und: „Das ist doch ziemlich weit weg.“ Ein paar Freunde und meine Familie verstehen es, leiden mit. In den Nachrichten gibt es bald Berichte von der zerstörten Hauptinsel Eftate, die anderen Inseln sind noch von der Welt abgeschnitten.
Dann, endlich, und unerwartet, bekomme ich nach zwei langen Wochen eine Mail von Kelson: Sie haben überlebt! Leider nur knapp und sie haben alles verloren und fast nichts zu essen. Kelson schickt Fotos mit. Er hat schon wieder eine kleine Hütte gebaut! Ein Bild zeigt „mein“ Baumhaus, so demoliert, dass es kaum wiederzukennen ist. Es tut weh, das zu sehen. Aber am Ende ist das egal – denn die, die es gebaut haben, sind noch da und haben ihren Lebensmut trotz allem nicht verloren.
Antworten
Sabienes schickt mich. Sie meinte, wir sollen fleißig gegen das Sommerloch kommentieren.
Ich habe mich eben durch den wunderbaren Beitrag gelesen und mich an den schönen Bildern erfreut.
Danke, dass ich auf diese Weise mitreisen durfte.
Als bekennender Vulkaninselfan habe ich es bis Vanuatu (noch) nicht geschafft.
Da das Töchterlein aber nun in NZ lebt, ist das ja mit einem Besuch bei ihr kombinierbar.
(Man müsste nur mehr Urlaub haben…)
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