Im Herbst vor neuen Reisen

Der Herbst macht alles still. Wie das Laub auf den Geh­we­gen liegt er dumpf über der Welt, und ver­deckt alle Wor­te, die es doch galt, auf­zu­schrei­ben.

 

Es ist Okto­ber. Und ich sit­ze zwi­schen Stüh­len.

In nur drei Mona­ten bre­che ich wie­der auf, zie­he ich wie­der los, gehe ich wie­der auf Rei­sen.

 

Wie­der ein neu­es Jahr.

Wie­der ein neu­es Aben­teu­er.

Wie­der weg von zu Hau­se.

IMG_0597

Zu Hau­se. Ja, ich weiß noch, wo das ist. 

Zu Hau­se ist einer der bei­den Stüh­le, zwi­schen denen ich sit­ze.

Zu Hau­se ist Gebor­gen­heit; mein Bett, von dem aus ich hier schrei­be; der Kaf­fee­mann an der Ecke, der weiß wie ich mei­nen Kaf­fee mag; der Park direkt vor mei­ner Tür; mei­ne Schreib­ma­schi­ne Klick-Klick-Ding; Freun­de, neue und alte, die mir feh­len wer­den; Fami­lie, die ich am liebs­ten ein­pa­cken wür­de.

Man­ches Mal dach­te ich in den letz­ten Jah­ren, ich sei wie die Schne­cke, die ein­fach auf dem Rücken trägt, was sie zu Hau­se nennt.

Mit Ruck­sack in die Welt und zu Hau­se im Her­zen. 

Aber ich bin nicht wie die Schne­cke. Mir wer­den Din­ge, Men­schen! feh­len, wenn ich bald wie­der gehe. Und irgend­wo in die­sem Satz liegt uner­mess­lich gro­ßes Glück.

Und gäbe es nicht den zwei­ten Stuhl, ja dann säße ich auch nicht dazwi­schen, dann säße ich ganz fest im Sat­tel und wür­de baden in dem Glück.

c5

…Oder wür­de ich nicht?

Der zwei­te Stuhl ist schließ­lich Aben­teu­er! Frei­heit! Neue Ufer und Gesich­ter, die ich noch nicht ken­ne!

Ja, ver­dammt. Es zieht mich wie­der raus in die Welt. Mein Kopf arbei­tet erst rich­tig, wenn ich nicht mehr weiß, wo er mir steht. Ich möch­te Din­ge sehen; Orte besu­chen; neu­es ler­nen und bes­ser ver­ste­hen; ich möch­te still­schwei­gend zuhö­ren und laut­hals mit­la­chen; ich möch­te so viel von all dem sehen, was Mark Twa­in in sei­nen Büchern schrieb und viel­leicht noch ein biss­chen mehr.

Ich woll­te immer alles sein.

Nie­mals konn­te ich mich für eine Sache ent­schei­den. Ich fand Gefal­len an so vie­len Din­gen, Beru­fen, Orten, Men­schen. Ich woll­te alles wis­sen, alles machen, alles sehen.

Und sie sag­ten mir, das gin­ge nicht. Das sei nicht mög­lich, sag­ten sie. Ich hät­te schließ­lich nur das eine Leben. Ich müs­se mich ent­schei­den für nur einen Bon­bon aus dem bun­ten Bon­bon­glas.

Es blie­be kei­ne Zeit, um all die Leben zu leben, die sich theo­re­tisch leben lie­ßen. 

Und das stimmt, das ist tat­säch­lich wahr. Ich kann nicht aus­tra­li­sche Scha­fe in einem Ber­li­ner Hin­ter­hof züch­ten, wäh­rend ich Uku­le­le-Kon­zer­te am Strand von Sibi­ri­en gebe. Oder zumin­dest wäre es äußerst schwie­rig.

Aber es gibt ein Hin­ter­tür­chen. Ja, es gibt da einen Weg: Ich kann all die Men­schen tref­fen, die all die Din­ge tun, die ich gern tun wür­de, wenn ich mehr Zeit hät­te als nur ein Leben lang.

Ich kann ihre Geschich­ten hören, sie ein­pa­cken und mit­neh­men und aus mei­ner Sicht erzäh­len.

Dafür brennt mein klei­nes Herz.

Und so sit­ze ich nun, zwi­schen Gebor­gen­heit und Aben­teu­er.

Im Herbst vor neu­en Rei­sen.

Noch nicht ganz weg, aber auch nicht mehr ganz da.

Hung­rig nach Geschich­ten. Und durs­tig nach Heim­kehr.

c4

Erschienen am



Antworten

  1. Avatar von Alexandra

    Auch mich plagt das Fern­weh. Zwar weiß ich, dass das Fern­weh bei mir kein Heim­weh im Grun­de ist, nichts­des­to­trotz bin ich doch immer unru­hig, wenn die nächs­te Rei­se nicht greif­bar oder noch zu weit weg ist. Und auch die Stun­den im Büro, wäh­rend drau­ßen das Leben pas­siert und ich in die­ser win­zi­gen, abge­schot­te­ten Welt exis­tie­re, ist mir der schlimms­te Graus. Was kön­nen wir dage­gen nur tun…!?

    Herz­li­che Grü­ße 🙂

  2. Avatar von Der Rechtsstudent
    Der Rechtsstudent

    Wun­der­bar geschrie­ben. Ohne in der Situa­ti­on zu sein, kann ich sie durch dei­nen Bei­trag nach­füh­len.:-)

  3. Avatar von Jürgen Weginger

    Ich kann die­ses sit­zen zwi­schen zwei Stüh­len gut ver­ste­hen. Lie­be neue Plät­ze zu besu­chen aber auch alt­be­kann­te. Aber auch zuhau­se lässt es sich gut aus­hal­ten

  4. Avatar von Alexandra Schindler

    Sehr gelun­ge­ner Blog!! Wir bau­en uns auch gera­de einen Rei­se­blog auf und mer­ken wie viel Arbeit das ist! Gra­tu­la­ti­on, gute Arbeit! Viel Erfolg, wei­ter­hin!

  5. Avatar von Jan Henkel

    Ganz gro­ße Lite­ra­tur…

    1. Avatar von Gesa

      Ganz gro­ßes Kom­pli­ment. Dan­ke, Jan.

  6. Avatar von Heike
    Heike

    Wun­der­schön wie du die­ses Gefühl beschreibst! Und so ver­traut…

    1. Avatar von Gesa

      Dan­ke auch dir, Hei­ke.

  7. Avatar von Gesa

    Ich dan­ke euch. Schön, dass der Text euch gefällt 🙂

    Lie­ben Gruß,
    Gesa

  8. Avatar von sylvia

    haaaaach jaaaaa.… du sprichst mir aus der see­le.
    herbst in deutsch­land ist irgend­wie etwas ganz schö­nes, das wird­mir gera­de die­sen herbst erst bewusst.
    ich sit­ze gera­de etwas mehr auf dem einen stuhl, aber es fühlt sich komisch an, weil der ande­re dann wei­ter weg erscheint, obwohl er doch irgend­wie so greif­bar nah ist…

  9. Avatar von Alexander Coursow
    Alexander Coursow

    Einer der schöns­ten Gedan­ken, die ich zu die­sem Leben zwi­schen Fern- und Heim­weh bis­her gele­sen habe. Rich­tig toll geschrie­ben! Kann ich sehr gut nach­voll­zie­hen. Schreib wei­ter! Du kannst was! Son­ni­ge Grü­ße aus Bue­nos Aires, Alex­an­der 🙂

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert