Heute ruft der Berg nicht

Vor 200 Jahren wurde die Zugspitze das erste Mal erklommen. Seitdem hat sich viel verändert. Eine Erkundungstour mit historischem Gipfelführer im Gepäck.

Alle wol­len sie hin­auf. Die Gon­del-Tou­ris­ten und Berg­stei­ger, Ein­hei­mi­sche und Urlau­ber, gera­de jetzt zum Jubi­lä­um der Erst­be­stei­gung auch die Jour­na­lis­ten. Nur um sich dann über all die ande­ren zu beschwe­ren, die auf dem Gip­fel der Zug­spit­ze ste­hen und dem Berg sei­ne Erha­ben­heit, die Stil­le und Ein­sam­keit neh­men. Von Frei­zeit­ter­ror ist da die Rede. Das „Top of Ger­ma­ny“, eine Erleb­nis­welt aus Leber­käs, Sou­ve­nirs und Sel­fie-Wahn.

Die Kri­tik dar­an frei­lich ist nicht neu. Schon in den zwan­zi­ger Jah­ren wet­ter­te Kurt Tuchol­sky über die Zug­spitz­bahn, die Hinz und Kunz hin­auf­schaff­te: „Wenn ich die Zug­spit­ze wäre: man müss­te sich ja zu Tode schä­men. […] Der Berg ist gar kein Berg mehr. Ent­zau­bert, von sei­nem Thron jäh her­un­ter­ge­holt, eine Plat­ti­tü­de von drei­tau­send Metern.“ Inzwi­schen, 200 Jah­re nach­dem Leut­nant Josef Naus am 27. August 1820 als ers­ter Offi­zi­el­ler sei­nen Fuß gegen die Fel­sen in knapp drei Kilo­me­tern Höhe gestemmt und gleich dar­auf vor einem Gewit­ter Reiß­aus genom­men hat, tum­meln sich pro Jahr über eine hal­be Mil­li­on Besu­cher in der Gip­fel­re­gi­on. Die meis­ten, ohne einen ein­zi­gen Trop­fen Schweiß dabei zu ver­lie­ren.

Heu­te ruft der Berg nicht, er ver­steckt sich unter einer dicken Wol­ken­de­cke. Des­halb kann ich den Berg getrost Berg sein las­sen. Schroff, abwei­send, respekt­ein­flö­ßend. Schließ­lich galt er auch bei den Ein­hei­mi­schen im Wer­den­fel­ser Land so lan­ge als unbe­zwing­bar, dass dort eigent­lich nie­mand glaub­te, der Naus hät­te es tat­säch­lich auf den Gip­fel geschafft. Ich will die Zug­spit­ze also lie­ber aus der Fer­ne bewun­dern und den his­to­ri­schen Charme oder das, was davon übrig ist, in der Umge­bung suchen, die schon Gene­ra­tio­nen von Berg­stei­gern durch­streift haben. Als Tipp­ge­ber dient der „Alpi­ne Gip­fel­füh­rer“ von 1905.

Vier Rou­ten füh­ren vom Tal zum Gip­fel. Anspruchs­vol­le Berg­stei­ger wan­dern heu­te durch die Höl­len­tal­klamm, aber der tra­di­tio­nel­le Weg führt durch das Rein­tal. Der Anstieg beginnt hier in der Part­nach­klamm: Schon der his­to­ri­sche Gip­fel­füh­rer schwärmt von der „schau­er­li­chen Schön­heit des engen Schlun­des“. An den Fels­wän­den, die bis zu 80 Meter hoch auf­ra­gen, erkennt man noch, wo der pri­mi­ti­ve alte „Trift­steig“ ver­lief, von dem die Holz­knech­te einst ihre durch die Klamm trei­ben­den Baum­stäm­me lenk­ten. „Des es da Tote geben hat, war ka Wun­der“, sagt Klamm­ver­wal­ter Rudi Ach­n­ter.

Doch als ab 1889 die ers­ten Som­mer­frisch­ler mit der Eisen­bahn nach Par­ten­kir­chen kamen, änder­te sich alles. Weni­ge Jah­re spä­ter errich­te­te der Deut­sche Alpen­ver­ein am West­gip­fel der Zug­spit­ze das Münch­ner Haus, ein „Wirts­haus“, wie sei­ne Geg­ner abfäl­lig mein­ten, sozu­sa­gen als Vor­läu­fer der heu­ti­gen Erleb­nis­welt – statt mit dem obli­ga­to­ri­schen Whats-App-Gruß konn­te man sei­ne Freun­de damals schon per Tele­fon nei­disch machen. In nur zwei Jah­ren, von 1910 bis 1912, wur­de die Part­nach­klamm mit einem schi­cken Tun­nel­weg tou­ris­tisch erschlos­sen und noch vor dem Bau der ers­ten Seil­bahn im Jahr 1926 war die unbe­steig­ba­re Zug­spit­ze mehr als 10.000 Mal bezwun­gen wor­den.

Auch die Part­nach­klamm zählt inzwi­schen rund 400.000 Besu­cher pro Sai­son – dop­pelt so vie­le wie noch vor etwa zehn Jah­ren. Das alte Kas­sen­häusl wird bald durch moder­ne Ticket­coun­ter ersetzt, ab Dezem­ber soll es WLAN-Hot­spots an den Ein­gän­gen geben. Aber im Gegen­satz zur Zug­spit­ze hat die Part­nach begeis­tert krei­schen­den oder dau­er­te­le­fo­nie­ren­den Tou­ris­ten etwas ent­ge­gen­zu­set­zen. Vor allem an einem Tag wie heu­te, wenn die Schlei­er­fäl­le an den Fel­sen her­un­ter­sprü­hen und der Bach, den man auf Insta­gram-Fotos so schön tür­kis sieht, wild und rei­ßend ist.

Denn im „fins­ters­ten Teil der Klamm“, so beschreibt es der Alpi­ne Gip­fel­füh­rer, zwän­gen sich „die empör­ten, schaum­be­deck­ten Wogen mit so lau­tem Getö­se durch die Fel­sen […], dass man sich nur schrei­end mit dem Beglei­ter zu ver­stän­di­gen ver­mag“. Hier lässt sich die Schlucht durch nichts und nie­man­den die Show steh­len. Bei Hoch­was­ser rau­schen gut 85 Kubik­me­ter Was­ser pro Sekun­de durch die Klamm und das macht einen so taub, als wür­de man in der Dis­co direkt neben der Box ste­hen.

Von der Part­nach­klamm aus könn­te man nun hin­auf­stei­gen in Rich­tung Zug­spit­ze und im „Floh­hütt­chen“ ein­keh­ren. So jeden­falls bezeich­ne­te Josef Naus, der den Berg im Auf­trag sei­nes Königs kar­to­gra­fie­ren soll­te, den Vor­gän­ger der Rein­tal­ang­erhüt­te, in der Nacht vor sei­nem Auf­stieg von Flö­hen gemar­tert.

Für mich geht es statt­des­sen zurück nach Gar­misch-Par­ten­kir­chen, wo das Muse­um Wer­den­fels Deutsch­lands höchs­tem Berg erst seit dem ver­gan­ge­nen Jahr mit einem Zug­spitz-Raum Ehre erweist. Durch­aus selbst­kri­tisch geht man hier mit der Erschlie­ßung des eige­nen Haus­bergs um: auf der einen Sei­te die Hel­den von einst – Leut­nant Naus natür­lich, mör­der­fit­te Berg­füh­rer mit schwe­ren Nagel­schu­hen, Spreng­meis­ter und Las­ten­trä­ger. Das waren Ker­le! Auf der ande­ren Sei­te das Zitat von Kurt Tuchol­sky über die blöd­sin­ni­ge Zug­spitz­bahn und all die Leu­te, die nicht genau wis­sen, was sie da oben eigent­lich sol­len. 

Gleich am Anfang der Aus­stel­lung zeigt ein Gemäl­de aus dem spä­ten 19. Jahr­hun­dert die Zug­spit­ze, wie sie ein­mal war: völ­lig nackt. Iro­ni­scher­wei­se hat­te kaum jemand den Berg erkannt, bevor das Bild ins Muse­um kam, erzählt Muse­ums­lei­ter Sepp Küm­me­rer. „Des is ja heu­te alles a ein­zi­ge Platt­form“, sagt er und lacht fasst ein biss­chen pein­lich berührt. Bei gutem Wet­ter tum­meln sich mitt­ler­wei­le locker 5000 Leu­te auf ein­mal dort oben. Wer nicht die Seil­bahn nimmt, wan­dert in gera­de ein­mal acht Stun­den hin­auf. Was für ein Unter­schied zu dem Unter­fan­gen von Leut­nant Naus, der, wie er in sei­nem Tage­buch notier­te, den Gip­fel­sieg erst „nach mehr­fa­chen Lebens­ge­fah­ren“ errang. „Die Ehr­furcht vorm Berg war frü­her jeden­falls etwas ganz ande­res“, fin­det Küm­me­rer. „Wenn man heu­te die Leu­te sieht, die mit San­da­len ›nauf wol­len…“

Bes­ser für San­da­len geeig­net ist der Eib­see, ein Bade­see samt See­re­stau­rant, Bier­gar­ten, Eis­die­le, Sou­ve­nir­shop und Boots­ver­leih, direkt neben der Zug­spitz-Seil­bahn, die seit 2017 als drit­te Bahn am Berg stünd­lich 580 Per­so­nen auf den Gip­fel brin­gen kann. Also alles ande­re als ein Geheim­tipp. Aber mein Alpi­ner Gip­fel­füh­rer schwärmt der­art von dem Gesamt­ensem­ble aus See, Wäl­dern und Ber­gen, dass ich mich selbst davon über­zeu­gen muss, wie fürch­ter­lich der moder­ne Tru­bel alles rui­niert.

Ein Gast­hof wur­de hier schon um 1900 errich­tet, selbst eine Kahn­fahrt zur Lud­wigs­in­sel konn­te man damals schon unter­neh­men. Begeis­tert erzählt der Gip­fel­füh­rer von dem macht­vol­len Echo, das der Kapi­tän eigens für die Besu­cher mit einem Schuss demons­triert. Es rollt und dröhnt und brummt – man stel­le sich vor, das wür­de ein Tou­ris­ten­füh­rer heu­te wagen. Die Ruhe wäre dahin, die sen­si­ble Tier­welt, auf die am Rund­weg um den See hin­ge­wie­sen wird, sowie­so.

Tat­säch­lich ist es an dem See, der auf­grund sei­ner dra­ma­ti­schen Lage unter­halb der Zug­spit­ze, wegen des kla­ren, grün getön­ten Was­sers und der kari­bisch anmu­ten­den Insel­chen als einer der schöns­ten der baye­ri­schen Alpen gilt, ange­nehm still. Es ist kein Bade­wet­ter und der See groß genug, damit sich die Spa­zier­gän­ger nicht drän­gen. Ganz kurz rei­ßen sogar die Wol­ken auf und geben den Blick frei auf die Zug­spit­ze. Dabei wäre das gar nicht nötig. „Es ist nicht die Indi­vi­dua­li­tät der Zug­spit­ze als Gip­fel – erhebt sie sich doch ver­hält­nis­mäs­sig nicht sehr bedeu­tend über die Zweig­gra­te –, die den Haupt­an­zie­hungs­punkt die­ses Pracht­bli­ckes aus­macht“, stellt auch der his­to­ri­sche Wan­der­füh­rer fest. „Es ist viel­mehr der eigen­tüm­li­che Gegen­satz, den alle Tei­le des Bil­des auf­wei­sen: unten der fla­che wei­te See, oben die fast senk­rech­ten Wän­de mit ihrer zacki­gen Grat­li­nie; hier das mil­de Grün der uns über­all umge­ben­den Wäl­der, dort das grel­le Gelb­grau der Fel­sen.“ 

Von hier unten ist von einer Pan­ora­ma­platt­form nichts zu sehen. Wür­den nicht hin und wie­der die sil­ber­nen Gon­deln der Zug­spitz-Seil­bahn in der durch­blit­zen­den Son­ne glän­zen, man könn­te sich fast der Illu­si­on hin­ge­ben, auf der Zug­spit­ze wäre noch alles wie frü­her.

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Antwort

  1. Avatar von Jörg Kascher
    Jörg Kascher

    Vie­len Dank für die­sen inter­es­san­ten und infor­ma­ti­ven Bei­trag. Ich selbst fin­de die­se The­men sehr span­nend.
    LG
    Jörg Kascher

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