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In Brooklyn leben nicht nur Hipster und Hip Hopper, sondern auch viele Chassidim. Der Stadtteil von New York ist die Heimat der größten Gemeinschaft von ultra-orthodoxen Juden außerhalb von Israel. Eine Zeitreise durch Crown Heights.
Eine unauffällige Tür in einem unscheinbaren Gebäude an der Kingston Avenue in Brooklyn. Es ist der Eingang zur Frauen-Empore der Synagoge der Chabad-Chassidim.
Hier sitzen sie hinter einer verdunkelten Scheibe, um die Männer unten im Raum nicht beim Beten zu stören. Heute dürfen auch sechs Besucher Platz nehmen und fotografieren. Rabbi Beryl Epstein führt uns durch seine Gemeinde.
Die Männer in der Halle sind angehende Rabbiner. Sie tragen Gebetsriemen und ein schwarzes Klötzchen auf der Stirn, die sogenannten Tefillin. Das Anlegen von Tefillin symbolisiert die Verbindung zu Gott. Frauen brauchen das nicht, sagt Epstein, sie seien von Natur aus spirituell auf einem höheren Niveau.
Auch hier, im Stadtteil Crown Heights, ist Brooklyn ein Dorf. Rabbi Epstein (links) trifft auf unserem Spaziergang alle paar Meter auf Bekannte. Er erklärt uns, warum Familien in seiner Community zehn bis 15 Kinder haben, warum Empfängnisverhütung den Frauen erlaubt, den Männern aber verboten ist, warum junge Paare in “soul communication” ausgebildet und darum fast nie geschieden würden.
Wir besuchen das Gemeindezentrum, in dem auch eine Art Online-Universität betrieben wird. Die Chabad-Chassidim sind eine von ungefähr 200 verschiedenen orthodoxen jüdischen Gruppierungen – und die einzige, die nicht den Kontakt zu Andersdenkenden vermeidet. Im Gegensatz zur Gruppe der Satmar im benachbarten Williamsburg suchen sie sogar die Öffentlichkeit. Aber mit der Kabbalah-Mode, wie von Madonna propagiert, hätten sie nichts zu tun, betont der Rabbi.
Wir besuchen eine Werkstatt, in der Tefillin angefertigt werden, es riecht wie beim Schuster. Auch wenn der Handwerker sein Handy checkt, fühlt man sich wie in eine andere Zeit versetzt. Die Chabad-Chassidim nennen sich auch Lubawitscher, nach einem westrussischen Ort, der im vorletzten Jahrhundert das Zentrum ihrer Bewegung war. Und auch heute noch kleiden sie sich wie die Menschen aus dieser Zeit: mit Hüten und langen schwarzen Mänteln, die Frauen mit Kopftüchern oder Perücken.
Riemen und Kopfschachteln müssen aus koscherem Leder sein. Auch sonst gibt es unzählige Vorschriften. Das Leben der orthodoxen Juden wird von 613 Regeln bestimmt. “Wir ermutigen niemanden, unsere Religion anzunehmen, wir raten sogar davon ab”, sagt Epstein. Die Regeln einzuhalten, sei Schwerstarbeit. “Ihr habt sieben oder zehn Gebote, wir haben 613 Mitzwot”, sagt er. “Damit ist man den ganzen Tag beschäftigt. Unsere Kinder studieren sie von halb acht morgens bis halb zehn abends, darum seht Ihr sie nie auf der Straße. Warum machen wir uns das Leben so schwer?” Er stellt viele Fragen und gibt kaum Antworten.
Der Rabbi zieht eine Tüte mit Miniatur-Tefillin hervor. Sie stammen aus Konzentrationslagern.
Darin verborgen winzige Pergamentrollen mit handgeschriebenen Tora-Zitaten.
Die Sirene an einer Straßenecke heult am Freitagabend. Sie kündigt den Schabbat an und erinnert daran, eine bestimmte Anzahl von Kerzen anzuzünden. Wer es ein einziges Mal vergisst, muss eine Kerze mehr anzünden – für den Rest seines Lebens (wenn ich das richtig verstanden habe).
Ein Eisentor in einem unauffälligen Gebäude führt in eine Matze-Bäckerei. Es ist heiß und dunkel. Obwohl hier im Akkord gearbeitet wird, ist der Ort alles andere als eine Fabrik. Beim Backen müssen strenge Vorschriften eingehalten werden, es ist ein ritueller Prozess. Zwischen dem Mischen des Mehls mit dem Wasser und der fertig gebackenen Matze dürfen nur 18 Minuten vergehen.
Das Ganze wirkt wie eine Choreographie. Aus einer Öffnung in einer mit Packpapier verkleideten Kammer reicht eine Hand Mehl und Wasser heraus, die ein Mann schnell zu einem Teig verknetet und weiterreicht an eine Reihe von Arbeiterinnen, die an einem langen Tisch sitzen. Sie rollen den Teig rhythmisch aus und stimmen plötzlich irgendeinen Ruf an. Dann werden die Fladen auf langen Stangen durch den Raum balanciert und in den Ofen geschoben.
Das alles verbindet der Rabbi mit komplizierten philosophischen Überlegungen, die teilweise provozierend widersprüchlich und selbstironisch sind. Um etwas mehr zu verstehen, gehe ich anschließend ins Jewish Children´s Museum. Auch hier wird gerade Matze gebacken. Der Museumsangestellte schaut auf seine Uhr und zählt 18 Minuten ab, während ein paar Mädchen den Teig kneten und von einer großen Gruppe angefeuert werden, alle mit rosa Schleife im Haar. Koeduktation lehnen die Chassidim ab, sogar an ihren Universitäten studieren die Geschlechter getrennt voneinander.
Das ist der Blick vom Dach des Kindermuseums, hinten der Liberty Tower des neuen World Trade Centers. Obwohl chassidische Kinder viel mehr Zeit in der Schule verbringen als alle anderen New Yorker Kinder, lernen sie nur wenig Englisch oder Mathe, sondern studieren hauptsächlich religiöse Schriften. Deshalb ist es für sie fast unmöglich, ihre Gemeinschaft zu verlassen und außerhalb von Crown Heights Fuß zu fassen. (Hier noch ein Artikel über Aussteiger und ein toller Film zum selben Thema)
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Danke für den interessanten Einblick in eine faszinierende und geheimnisvolle Kultur! Vielleicht sind all diese Regeln und Traditionen keine Beschränkungen oder werden nicht als solche empfunden (ganz sicher nicht), weil sie Geborgenheit, Sicherheit geben – in einer Welt, die keine Sicherheit, keine absolute Wahrheit mehr kennt. Grüße nach NYC!
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