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16:00 Uhr peruanische Zeit
Mit halb geöffnetem Fenster sitze ich auf der Rückbank eines Jeeps. Der Wind weht mir durch die Haare, während die Andensonne alles gibt, um mich zu wärmen. Im Radio läuft Tina Turner mit „Simply the Best“. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Vor mir ziehen die gewaltigen Anden vorbei, so mächtig und beeindruckend, dass ich meinen Blick kaum von ihnen lösen kann. Eine wohlige Vertrautheit erfüllt mich durch die bekannte Musik, und ein Gedanke schleicht sich in meinen Kopf: „Das wird gut. Vielleicht sogar ein einfacherer Start, als ich gedacht habe.“
14 Stunden später
Was für eine kalte Nacht. Kaum war die Sonne hinter der Bergkette verschwunden, hielt die kühle Andenluft ihren Einzug. Es ist August – peruanischer Winter. Ich hatte nicht damit gerechnet, wie kühl es in den Bergen werden kann. Der Jetlag ließ mich kaum schlafen, und am nächsten Morgen stolperte ich aus meinem Quartier im dritten Stock.
Jede Treppenstufe fiel mir schwerer, das Atmen schmerzte, mein Kopf pochte. Die Höhenluft auf knapp 2.800 Metern hatte mich voll erwischt. Müde und mit halb geöffneten Augen saß ich am Frühstückstisch. Vor mir ein Teller mit einer undefinierbaren, braunen Masse, aus der einzig Tomatenstücke herausragten. Daneben zwei Brote und ein stückiger Punsch. Mein Magen rebellierte.
Frühstück für Champions – oder für die, die noch herausfinden müssen, was sie hier eigentlich tun.
Heute, drei Monate später, weiß ich: Es war Dosenfisch mit Zwiebeln und Tomaten. Kalter Fisch zum Frühstück in Peru ist keine Seltenheit. Doch damals? Damals war es ein Sinnbild dafür, wie Peru es von Anfang an geschafft hat, mich zu überraschen – und herauszufordern. „Also doch nicht so ein einfacher Start, wie ich es mir im Jeep ausgemalt hatte?“
Ankommen - Kann man sich darauf vorbereiten?
Nach meinem Bachelorstudium in Sozialer Arbeit erfüllte ich mir einen Traum: Nicht nur schnell ein fremdes Land bereisen und die Highlights abhaken, sondern für ein ganzes Jahr dort leben. Alles Vertraute tauschte ich gegen einen Koffer voller Klamotten und das Unbekannte ein. Der Plan war klar: Uni-Vorlesungen gegen einen Freiwilligendienst. Nun lebe ich auf knapp 2.800 Metern Höhe in den Anden Perus, im Valle Sagrado – dem Heiligen Tal der Inka.
Schon die Anreise war ein Abenteuer: Von Frankfurt über Brasilien nach Lima, weiter nach Cusco und schließlich anderthalb Stunden Fahrt ins Tal. Zu Beginn war alles fremd und unverständlich. Meine ersten Eindrücke von Peru, und besonders von Urubamba, waren weit entfernt von dem, was ich erwartet hatte. Bereits auf der Fahrt durch das enge, von mächtigen Bergen eingerahmte Tal wurde mir klar: Hier sieht alles anders aus. Staubige, unbefestigte Straßen, Mototaxis – jene klapprigen, bunten Dreiräder – dominierten den Verkehr, und die unverputzten Häuser schimmerten warm im Licht der Andensonne. Es war aufregend, verwirrend und ein Kulturschock zugleich. Die Höhenluft machte das Ganze nicht einfacher: Mein Herz raste beim Spaziergen gehen, das Atmen fiel mir schwer, und plötzlich war da dieser Gedanke: „Pack ich das?
Zwischen Staub und Gipfeln- diesen Ausblick darf ich jetzt meinen Alltag nennen.
Mein erster Marktbesuch fühlte sich an wie ein kleiner Kulturschock im Schnelldurchlauf. Überall wuselnde Menschen, Stimmengewirr und Gerüche, die ich nicht einordnen konnte. Tote Hühner lagen ohne Kühlung auf Tischen, während Obststände Früchte stapelten, die ich entweder in dieser Vielfalt noch nie gesehen hatte oder schlicht nicht kannte. Zwischen all dem: der Straßenverkehr – hupend, chaotisch, unberechenbar. Es war, als wäre ich in eine völlig andere Welt geworfen worden, die mir alles abverlangte. Dabei gab es auch Momente, die fast surreal wirkten. Zum Beispiel an meinem zweiten Abend: Mitten in Peru, in einem einfachen Raum, saßen Kinder mit leuchtenden Augen vor einem Disney-Account. Black Panther lief auf Spanisch. Ein Satz aus dem Film drang zu mir durch, während ich auf die staunenden Gesichter schaute: „Wo bin ich hier nur gelandet?“ Diese Kinder verfolgten gebannt die Geschichte eines Marvel-Helden – und für mich passte das alles überhaupt nicht zusammen.
Ich wusste jetzt: Dieser Start würde alles andere als einfach. Ein Gefühlschaos tobte in mir. Alles war neu, anders, ungewohnt – und trotzdem wusste ich tief in mir, dass diese Herausforderung genau das war, was ich gesucht hatte. Also nein auf das Gefühlschaos kannst du dich nicht vorbereiten. Aber du kannst lernen, es anzunehmen.
Ein Farbenmeer aus Früchten und ein Lärm, der alles übertönt. Das ist der Markt in Urubamba.
Die Stimmen der Kids
"Kannst du mir einen Zopf flechten?", "Woher kommst du?", "Hilfst du mir beim Zähneputzen?" – es sind die Stimmen der Kinder im Heim Semillas de Jesús, meinem Zuhause auf Zeit. Hier leben gerade 22 Kinder zwischen 7 und 16 Jahren. Jeden Freitag kehrt ein Teil von ihnen in die abgelegenen Dörfer der Anden zurück, wo ihre Familien oft in einfachen, von Armut geprägten Verhältnissen leben. Abschiednehmen gehört zum Rhythmus hier – ein Kommen und Gehen, das man mit der Zeit akzeptiert.
Anfangs prasselte das Leben im Heim auf mich ein wie ein unaufhörlicher Sturm: die Lautstärke, die ständige Bewegung, die unzähligen Fragen. Doch schon bald begann ich, die Routinen der Kinder zu verstehen und ihren Alltag mitzugestalten. Als weltwärts-Freiwillige wurde ich über das Kindermissionswerk „Die Sternsinger“ im Rahmen von drei Seminaren auf dieses Jahr vorbereitet. Im Mittelpunkt stand dabei die Sensibilisierung für unseren internationalen Freiwilligendienst und die Herausforderungen, die damit verbunden sind. Meine Einsatzstelle im Valle Sagrado verfolgt das Ziel, den Kindern und Jugendlichen ein sicheres und förderndes Lernumfeld zu bieten – damit sie bessere Bildungschancen und die Möglichkeit auf ein selbstbestimmtes Leben haben.
Der Alltag im Heim ist bunt, laut und zugleich unglaublich liebevoll. Es fühlt sich an wie in einer großen Familie. Vom morgendlichen Zähneputzen über frisch gekochte Mahlzeiten, die Begleitung auf dem Schulweg und die Hausaufgabenbetreuung bis hin zu lustigen Freizeitaktivitäten sind die Tage hier gut gefüllt. Doch das Heim ist mehr als nur ein Zufluchtsort: Es ist ein Ort der Gemeinschaft und des Miteinanders. Oft habe ich das Gefühl, dass nicht ich die Kinder an die Hand nehme, sondern sie mich – und mich durch diesen besonderen Abschnitt meines Lebens führen.
Zöpfe flechten und Sonnenbrillen – Styling-Spaß darf auch mal sein.
Frei und Lost - also Frost?!
„Aber jetzt mal ehrlich: Wie ist das denn wirklich – als junge Frau allein auf einen anderen Kontinent zu reisen, sechs Stunden Zeitverschiebung und tausende Kilometer entfernt von allem Vertrauten?“ Es ist genial. Man fühlt sich frei – und gleichzeitig so lost.
Stell dir vor: Du kennst niemanden. Keinen, den du fragen kannst, ob das Klopapier in die Toilette darf (Antwort: Nein, es gehört in den Mülleimer daneben!). Oder das in Peru Tomaten geschält werden, bevor sie geschnitten werden. Mit großem Appetit setze ich zu einem „Guten Appet…“ an – und verstumme. Hier wünscht man sich nach dem Essen „Buen provecho“. Also beginne ich meine geschälten Tomaten so zu essen. Begrüßungen starten immer mit „Hola, ¿cómo estás?“, obwohl niemand wirklich eine Antwort erwartet. Und „Mami, ¿qué quieres?“ – hat mich diese freundliche Verkäuferin gerade „Mama“ genannt? Verwirrt kaufe ich wortlos Bananen, um später zu erfahren: „Mami“ ist hier eine liebevolle Ansprache in den Anden. Heute sage ich selbst „Mami“, wenn ich auf dem Markt einkaufe.
Ja, eines Abends kullert auch eine Träne über meine Wange. War es Heimweh? Die Überforderung? Oder schlicht Müdigkeit? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich alles zusammen. Und das ist okay. Ich lebe meinen Traum – aber das heißt nicht, dass alles von Glitzerstaub bedeckt ist.
Abenteuer des Lernens
Ein Moment bleibt mir unvergesslich: Ich begleite zwei Mädchen zur Schule. Der Weg führt durch das Zentrum von Urubamba. Während ich im Schulhof warte, fällt mein Blick auf ein Plakat: „Aventura de aprender“ – das Abenteuer des Lernens. „Genau das ist es!“ denke ich. Doch wie wahr diese Worte sind, wird mir bereits Minuten später bewusst.
Auf dem Rückweg brennt die Sonne, und ich suche verzweifelt Schatten. Mein deutsches Gehirn ruft nach dem Gehsteig – aber in Peru tauchen Gehwege auf, verschwinden ins Nichts und setzen zehn Meter weiter wieder an. Beim Versuch, die Straße zu überqueren, unterschätze ich das Chaos: hupende Autos, plötzliche Richtungswechsel, keine Regeln. Ein Wagen biegt ohne Vorwarnung ab. Noch bevor ich realisiere, was passiert, spüre ich eine kleine Hand, die mich zurückzieht. Es ist das achtjährige Mädchen, das ich begleite. Die Ironie des Moments – dass sie auf mich aufpasst – trifft mich tief. Diese kleine Hand zeigte mir: Ich bin hier diejenige, die viel zu Lernen hat. Und das in so vielen Momenten in Peru.
Bunte Wände an einer Schule in Urubamba, wo ich das Plakat mit dem Plakat „Aventura de aprender“ entdeckte. Und ein Moment, in dem sich zwei Kinder Hand in Hand nehmen – eine Geste, die mich sehr an meinen Moment auf der Straße erinnert.
Facetten eines neuen Lebens
In den ersten Wochen war ich geleitet von ersten Eindrücken. Ah okay, so macht man das halt in Peru. Doch mit der Zeit erkannte ich, wie viele Facetten dieses Land wirklich bietet.
So wirkte Urubamba, eingebettet im Valle Sagrado, auf den ersten Blick rau und schlicht. Doch je länger ich hier lebe, desto mehr offenbart dieser Ort seine ruhige Schönheit. Morgens wecken mich die Tauben auf dem Wellblechdach, wenn sie mit ihren Füßen scharren. Nachmittags zeichnen die Sonnenstrahlen lange Schatten auf die staubigen Wege. Und abends, wenn die Anden in warmes Orange getaucht sind, scheint die Zeit stillzustehen.
Mein erstes Frühstück mit Dosenfisch und Zwiebeln steht sinnbildlich für so vieles: Für das Fremde, das im ersten Moment irritiert. Für die kleinen und großen Herausforderungen, die zu Chancen werden. Urubamba hat mich vor allem eines gelehrt: Loszulassen. Loszulassen von Erwartungen, von Perfektion, von dem Drang, alles sofort verstehen zu müssen. Stattdessen habe ich begonnen, einzutauchen – in die Stille der Berge, das Chaos des Alltags und die kleinen Wunder, die das Leben hier so besonders machen. Es ist ein Leben, das so anders ist als meines – und gerade deshalb so wertvoll.
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