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Portugal kennt man für Strände, spannende Städte und hübsche Fliesen – klar. Aber das kleine Land am westlichen Rand Europas hat mittlerweile auch eine der spannendsten und lebhaftesten Street Art-Szenen der Welt. Und auch, wenn ich es selbst liebe, in Lissabon und Porto nach Kunstwerken zu suchen, reicht das den Menschen in Portugal längst nicht mehr: Man bemüht sich hier seit einigen Jahren, Street Art gerade auch außerhalb der großen Städte zu fördern. In der Region Centro de Portugal im Norden des Landes hat das zu spannenden Ergebnissen geführt, die sich perfekt in einem kleinen Roadtrip erkunden lassen. Den Anfang macht die Kleinstadt Estarreja, nur eine 40-minütige Autofahrt von Porto entfernt.
Heiß ist es, jetzt schon, und trotzdem kein Vergleich zu den über 40 Grad, die uns am Ende unserer Reise durch die Region Centro de Portugal noch blühen werden. Doch wenn ich mich so umsehe, bekomme ich das Gefühl, dass die Hitze einfach hierher gehört. Sie lässt einen die Schritte verlangsamen, im Schatten zumindest, und fix durch die Sonnenabschnitte laufen, als wäre der Boden Lava. Wir scheinen die einzigen zu sein, die es wagen, durch die Mittagshitze Estarrejas zu spazieren. Vielleicht liegt es an der Hitze, aber die leicht heruntergekommenen Hochhäuser, die Ladenfronten und die flirrenden Straßen wecken in mir Erinnerungen an Klassenfahrten ans Mittelmeer, an Hotelburgen und an Städte, die jeglicher Ästhetik entbehren.
Überraschende Street Art in Estarreja
Und dann auf einmal – geben die Balkone und roten Ziegeldächer den Blick frei auf ein riesiges Kunstwerk. Eine junge Frau im gestreiften T‑Shirt, knieend, mit ausgestreckten Händen, die Augen sind verdeckt von Stoffstreifen oder einem Laken. So viel Ausdruck, so eine wunderschöne Art zu malen, so konkret und plastisch, und dann doch so flüchtig und leicht. „Kopf in den Wolken“ heißt das Bild, das viele Interpretationen zulässt. Die Träumerin, deren Hände in Richtung Zukunft greifen? Oder die Verträumte, um die herum bereits alles auseinanderfällt, weil sie den Blick geradeaus in den Wolken verloren hat?
Ich stelle mir vor, wie sich das riesige Werk des australischen Künstlers Fintan Magee mit der Lichtstimmung verändert. Wenn es hier im Winter doch einmal grau ist und regnet, wenn die Hitze im Herbst verdampft, weicht dann auch die Fröhlichkeit aus den Farben und macht die junge Frau hoffnungslos und trist? Erscheint sie uns im sanften Licht des Sonnenaufgangs noch viel begeisterter, als könnte sie alle ihre Träume erreichen oder wäre sogar auf dem schnellsten Weg dorthin?
ESTAU – Das Street-Art-Festival in Estarreja
Eins ist sicher: Die riesige bemalte Häuserfront in Estarreja lässt niemanden kalt. Genauso wie die 27 weiteren Street Art*-Bilder, die 2016 im Rahmen des Festivals ESTAU – Estarreja Arte Urbana an die Wände der Stadt gebracht wurden. Dafür hat Lara Seixo Rodrigues, die uns auch durch Estarreja führt, mit ihrer Organisation Mistaker Maker Künstler aus aller Welt in die Kleinstadt eingeladen. Einige von ihnen waren bereits weltweit bekannt, doch man hat auch Wert darauf gelegt, zusätzlich Künstlern mit einer kleineren Reichweite eine Chance zu geben. Einige von ihnen starteten dann tatsächlich mit ihren für ESTAU angefertigten Bildern richtig durch.
Im September 2016 wurde dann fleißig gemalt, wobei man den Künstlern natürlich zusehen konnte. Ein Rahmenprogramm aus Workshops, Filmvorführungen oder Konzerten rundete das Festival ab und machte es auch für die Stadtbewohner interessant. 2017 geht ESTAU übrigens in die zweite Runde: Vom 9. bis 17. September werden neue Bilder angefertigt.
Das ist die Stärke von Street Art – während wir in einem Museum speziell dorthin gehen, um uns Bilder anzusehen, erwarten wir sie nicht auf unserem täglichen Weg zur Bushaltestelle. Wir werden von ihnen überrascht und kommen quasi einfach nicht daran vorbei. Zu einem Street Art-Bild hat jeder eine Meinung, egal, ob es ihm jeden Tag ein Lächeln aufs Gesicht zaubert oder ob er sich bei der Stadtverwaltung über das Geschmiere beschwert. Street Art beginnt Debatten, wie es andere Kunstformen niemals könnten. Und Street Art lässt uns die Stadt, in der wir uns aufhalten, wahrnehmen, wie es beispielsweise Architektur nicht schafft. Sie macht unseren Alltag zur Spurensuche, zur Schnitzeljagd, aber im ganz positiven Sinne. Dank der Künstler, die ihre Werke für alle sichtbar an öffentliche Wände bringen, verändert sich unser Blick auf die Welt, in der wir leben.
Street Art in der Kleinstadt?!
In einer Stadt wie Estarreja wird das umso deutlicher. Hier leben knapp 27.000 Menschen, bis zur Hauptstadt der Region Aveiro sind es 20 Kilometer, bis nach Porto 50. Auch, wenn die kleine Altstadt rund um das Rathaus herum wirklich hübsch ist – viel los ist hier nicht. Die Menschen, denen wir auf der Straße begegnen, sind zum Großteil bereits im Rentenalter. Eine durchschnittliche Kleinstadt: Anders als in Lissabon oder Porto hätte ich hier niemals solche großflächigen Straßenkunstwerke vermutet.
Dabei ist das Bild von Fintan Magee bei Weitem nicht das Einzige, das einem mit offenem Mund zurücklässt. Läuft man weiter in Richtung Stadtzentrum, sticht einem zunächst ein liegendes Mädchen ins Auge. Die groben Pinselstriche in sanften natürlichen Farben scheinen mit der Wand, auf die sie gebracht wurden, zu verschmelzen – je länger man das Werk betrachtet, desto schwerer fällt es einem, zu sagen, wo es anfängt und wo es aufhört. Die heruntergekommenen Gebäude im Hintergrund und die braune Fläche vorne geben dem Motiv eine düstere Atmosphäre. Ich habe sofort hunderte Fragen im Kopf – und ein ungutes Gefühl im Bauch.
„Abandono“ heißt das Werk des Argentiniers Bosoletti, „Verlassen“ – im doppelten Wortsinn. Hat das Mädchen sein Zuhause verlassen, oder wurde es verlassen? Oder ist das Wort eine Anspielung auf die Gebäude ringsum, die verlassen wurden, auf die Wand, auf der gemalt wurde, die ja auch verlassen werden musste, damit etwas Neues darauf entstehen konnte?
Street Art und die Stadt
Bosoletti hat noch weitere Bilder in Estarreja angefertigt, von denen eines in einem Innenhof liegt. Durch einen Briefschlitz kann man einen Blick darauf erhaschen. Das Portrait, genauso wie das von einem Jungen daneben, das man von der Straße aus komplett sieht, wurden anhand von alten Fotos angefertigt, auf die der Künstler in der Gegend traf. Der Argentinier sprach nach wenigen Tagen fließend Portugiesisch und war so begeistert von der Region, dass er zu einem anderen Festival in Covilhã zurückkam.
Die Bilder in Estarreja sind grundsätzlich stärker losgelöst von der Stadt, in der sie zu finden sind, als an den anderen Orten, die wir noch besuchen werden. Nur das riesige, bunte Bild des brasilianischen Kollektivs Bicicleta Sem Freio auf der Rückseite des Theaters, bei dem man gar nicht weiß, wo man zuerst hingucken soll, knüpft mit Karneval-Thematik an lokale Traditionen an.
Street Art und die Stadt, in der sie sich befindet, diese Beziehung kann vielfältig sein. Um eine Verbindung herzustellen, braucht es kein offensichtliches Zusammenspiel aus Motiv und Region. Häufig führen auch die Maltechnik, die verwendeten Farben oder das Anpassen des Bildes an seine Umgebung dazu, dass ein harmonisches Ganzes entsteht. Oder man betrachtet die Verbindung zwischen Kunst und Stadt auf einer größeren Ebene – wie mit Bosoletti, der seine Liebe zum Centro de Portugal entdecken konnte, oder mit dem ESTAU-Festival, das gerade Menschen zur Street Art bringen sollte, die mit dieser Form der Kunst bisher eher wenig anfangen konnte.
Ein ungewöhnlicher Workshop
Auch, wenn die Bilder nicht alle thematisch zur Gegend passen, hat man sich in Estarreja nämlich darum bemüht, die Einwohner tatsächlich in das Projekt einzubinden. Street Art ist zwar relativ niedrigschwellig – man muss kein Museum betreten, um die Bilder zu sehen, und da sie häufig sehr deutlich und plastisch gemalt sind, braucht man auch kein Diplom in Kunstgeschichte, um sie interpretieren zu können. Dennoch birgt ein Festival mit internationalen Künstlern ja immer die Gefahr, in einer bisher wenig künstlerischen Kleinstadt völlig ohne lokale Beteiligung abzulaufen.
Als wir auf eine bunte Wand voller Graffiti-Striche und kleiner Schablonenarbeiten stoßen, ist meine erste Assoziation ein Workshop im Jugendzentrum. Doch weit gefehlt: Bei Lata 65 kommen nicht junge Hip Hop-Fans an die Spraydose, sondern Rentner. Die Teilnehmer waren 2016 zwischen 60 und über 90 Jahren alt.
Lara erzählt grinsend, dass die Senioren beim Malen „wieder zu Kindern“ werden – selbst trotz Rollstuhl oder Krücken. Die bunte Wand vermittelt dieses Gefühl auf jeden Fall mehr als gut, genauso wie die Auswahl der Motive. Rosen, Segelschiffe, Anker, Kleider, Fahrräder, Werkzeuge, Schmetterlinge – jeder scheint etwas gemalt zu haben, das ihn besonders begeistert oder ihn als Person ausmacht. Gerade diejenigen, von denen man erwarten würde, dass sie sich schnellstens über den neuesten „Schandfleck“ in der Nachbarschaft beschweren würden, hat man damit unvoreingenommen in das Festival mit aufgenommen und ihnen die Möglichkeit gegeben, ihre Heimatstadt neu zu erfahren – und auch den anderen Einwohnern und Besuchern eine neue Perspektive darauf zu geben.
Estarreja zeigt, was Street Art kann, und gibt einem die Chance, auch mal an seiner eigenen Voreingenommenheit zu schrauben. Denn Kunst im öffentlichen Raum gibt es nicht nur in Großstädten – und sie wird nicht nur von einem jungen Publikum begeistert aufgenommen. Und die schönsten und beeindruckendsten Ziele in Portugal sind nicht nur Lissabon, Porto und die Strände der Algarve, sondern lassen sich auch dazwischen finden.
Mehr Informationen
Estarreja |
Estarreja liegt etwa eine 40-minütige Autofahrt von Porto entfernt. Von hier aus ist es übrigens nicht mehr weit bis zum Meer oder zur Hauptstadt der Region Aveiro – die Stadt bietet sich also gut für einen Zwischenstopp an. |
ESTAU – Estarreja Arte Urbana |
Das Street Art-Festival in der Kleinstadt fand 2016 zum ersten Mal statt. 2017 geht es in die zweite Runde – vom 9. bis 17. September wird gemalt und es finden Veranstaltungen statt. Wer die Stadt danach besucht, kann also nicht nur die Werke sehen, die ich in meinem Artikel zeige, sondern noch viele mehr, die erst jetzt entstehen. Das Festivalprogramm (auf Portugiesisch) findet ihr hier. ESTAU hat auch eine eigene Facebook-Seite, auf der Neuigkeiten gepostet werden und auf der ihr bald auch die neuen, fertigen Bilder bewundern könnt. Wer Lust hat, die Stadt auf eigene Faust (tatsächlich oder digital) zu erkunden, findet übrigens hier eine Maps-Karte, auf der alle Kunstwerke verzeichnet sind.Mehr zu Estarreja und Street Art-Kunst gibt’s übrigens zu lesen bei meinen niederländischen Blogger-Kolleginnen Roselinde und Esther. |
Hinweis
*: Die Debatte um den Begriff „Street Art“ ist mir durchaus bewusst. Einerseits wird „Street Art“ häufig nur für spontane, meist illegale Arbeiten im öffentlichen Raum verwendet – und beispielsweise „Urban Art“ als Alternative für Auftragsarbeiten, wie sie in diesem Artikel vorgestellt werden, vorgeschlagen. Andererseits ist eine regelmäßig geäußerte Kritik an „Street Art“, dass der Begriff eher von den Medien als von den Künstlern selbst geprägt wurde. Dennoch ist es schlicht und einfach der Begriff, der den meisten Menschen geläufig ist. Da dieser Artikel möglichst viele Menschen ansprechen möchte, die teils bisher auch wenig Begegnungen mit der Thematik hatten und sich mit der Begriffsdebatte nicht auskennen, wird „Street Art“ trotz aller Kritikpunkte als Begriff genutzt.
Antwort
Hallo,
vielen Dank für deine Arikel. Der ist wirklich gut.
Herzliche Grüße
Marvin
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