Eskalation, Exzess und Extravaganz einer kubanischen Weihnacht

24. Dezem­ber, Remedios/​Kuba

Ich blu­te an mei­nem lin­ken Bein, mei­ne Lun­ge brennt und es mani­fes­tie­ren sich zwei Fra­gen in mei­nem Kopf:

1. Wo bin ich hier gelan­det?
2. Wie kom­me ich hier wie­der raus?

Was ich damit sagen will, ist, dass Weih­nach­ten dort wo ich gera­de bin nicht aus trau­tem Bei­sam­men­sein und kit­schi­gen Weih­nachts­ge­dich­ten besteht, son­dern wei­test­ge­hend in drei Pha­sen zu unter­tei­len ist: Rum, Welt­un­ter­gang, mehr Rum.

Doch gehen wir etwas zurück:

Es ist Hei­lig­abend, ich sit­ze auf der mit rosa Blüm­chen bestick­ten und mit Rüschen ver­zier­ten Tages­de­cke mei­nes Bet­tes in San­ta Cla­ra und habe Fie­ber. Kopf­schmer­zen, Glie­der­schmer­zen, Schwin­del, das gan­ze Pro­gramm.

»Es ist Weih­nach­ten, reiß dich zusam­men, ver­dammt!«, ver­su­che ich mir ein­zu­re­den. Außer­dem bin ich in zehn Minu­ten ver­ab­re­det.

Ich schmei­ße also alle Pil­len, Kap­seln  und Tink­tu­ren ein, die mir aus mei­ner Kul­tur­ta­sche ent­ge­gen fal­len, ver­zich­te auf die Zäpf­chen und lege sie in in siche­rer Ent­fer­nung auf mein Bett, wäh­rend ich den Rest mit einem Schluck Rum her­un­ter­spü­le. San­ta Claus, ich bin bereit, den­ke ich, wuch­te mich aus dem Bett und mache mich auf den Weg.

Ich tref­fe mich mit drei Bri­ten, Andy, Debs und Sophie vor dem Hotel San­ta Cla­ra Lib­re. Ich habe die drei heu­te mor­gen vor dem Ticket­schal­ter des loka­len Bus­bahn­hofs getrof­fen, da sie wie ich kei­ne Bus­ti­cket mehr aus der Stadt bekom­men haben. Das aller­dings ist ein Pro­blem, das ich nach hin­ten ver­scho­ben habe. Zuerst ging es mir dar­um, irgend­wie nach Reme­di­os zu kom­men, einer Klein­stadt, die sich ein­mal im Jahr in das Epi­zen­trum vor­weih­nacht­li­chen Irr­sinns und Cha­os ver­wan­deln soll. So wur­de mir zumin­dest gesagt.

»Las Par­rand­as de Reme­di­os« heißt das Spek­ta­kel, von dem ich zwar schon von eini­gen Sei­ten etwas gehört habe, zuletzt von einer Grup­pe betrun­ke­ner kuba­ni­scher Base­ball­fans in Havan­na, unter dem ich mir aber nicht wirk­lich etwas vor­stel­len kann.

Wie­der ein­mal wur­de ich über die genau­en Ein­zel­hei­ten im Unkla­ren gelas­sen, was der Vehe­menz der Über­re­dungs­kunst es mir nichts­des­to­trotz auf kei­nen Fall ent­ge­hen las­sen zu dür­fen, aller­dings kei­nen Abklang tat.

»You HAVE to go to Reme­di­os! You HAVE to!

»Ok, why?«

»It’s cra­zy!«

»Cool. Cra­zy sounds good. How cra­zy?«

»Real­ly fuck­ing cra­zy, man«

Das war es dann meis­tens auch schon an Infos.

»Weißt du, was uns da erwar­tet?«, fra­ge ich Andy, als ich mich hin­ter ihm auf die Rück­back unse­res Taxis schmei­ße.

»Ne, hab nur gehört, dass es ganz schön cra­zy wer­den soll«

»Hab ich auch gehört. Mal schau­en, was pas­siert. Wenn es schei­ße ist, kön­nen wir ja wie­der abhau­en«

Da es nachts kei­ne Bus­se zurück nach San­ta Cla­ra gibt, sämt­li­che Bet­ten in Reme­di­os belegt zu sein schei­nen und die Chan­cen auf ein Taxi zurück wahr­schein­lich bei Null lie­gen, blieb uns nichts ande­res übrig, als ein Taxi für den gesam­ten Abend zu buchen. Für zwan­zig Euro pro Per­son haben wir also einen per­sön­li­chen Chauf­feur bis zwei Uhr mor­gens.

Ich leh­ne mich zurück und war­te, dass die Schmerz­mit­tel ihren Dienst antre­ten. Die Fahrt dau­ert etwa 40 Minu­ten und ich bin schnell ein­ge­döst.

Als ich die Augen wie­der öff­ne, höre ich schon von Wei­tem das dump­fe Dröh­nen von Musik und ein mono­to­nes Brum­men wie aus einem Bie­nen­stock, das von hun­der­ten, wenn nicht Tau­sen­den Men­schen zu kom­men scheint.

Wir ver­ab­re­den mit dem Taxi­fah­rer, wo er auf uns war­tet und zie­hen los. Reme­di­os wirkt eher wie ein Dorf als eine Stadt. Ein ganz schön vol­les Dorf.

Über eini­gen Feu­ern dre­hen gan­ze Schwei­ne, aus gro­ßen Laut­spre­chern schallt Musik über den Markt­platz im Zen­trum der Stadt hin­ein in die Gas­sen, Stra­ßen­ver­käu­fer ver­kau­fen selbst­ge­bas­tel­te Papier­ro­sen und an den The­ken der klei­nen Bars am Stra­ßen­rand herrscht Hoch­kon­junk­tur.

Wir gehen ein­mal über den mit tan­zen­den und trin­ken­den Men­schen gefüll­ten Platz um uns einen Über­blick zu ver­schaf­fen und steu­ern in die erst­bes­te Bar, um uns einen Drink zu bestel­len und es ihnen gleich­zu­tun.

»Vier Cuba Lib­re und einen Moji­to«, sage ich zu dem Bar­kee­per, der so alt aus­sieht, dass er wahr­schein­lich José Mar­tí noch per­sön­lich gekannt hat.

Stress jeden­falls scheint er trotz der rie­si­gen Men­schen­trau­be um sei­nen Tre­sen her­um nicht zu ken­nen. Jedes Pfef­fer­minz­blatt pflückt er ein­zeln vom Strauch, begut­ach­tet es kurz und führt es anschlie­ßend mit der Geschwin­dig­keit eines demen­ten Faul­tiers in Rich­tung Glas. Genau­so fährt er auch mit den Eis­wür­feln fort.

Nor­ma­ler­wei­se benei­de ich die­se Art von Per­fek­tio­nis­mus, aber jetzt, in die­sem Augen­blick, will ich ein­fach nur mei­nen Moji­to.

Wie­so muss­te ich aus­ge­rech­net an den lang­sams­ten Bar­kee­per der Welt gelan­gen?

»Wenn du noch lang­sa­mer bist, ist der Eis­wür­fel geschmol­zen, bevor es im Glas ist«, will ich ihm sagen, läch­le ihn aber statt­des­sen wei­ter mög­lichst unbe­ein­druckt an. Die Zeit­rech­nung in Kuba ist ein­fach eine ande­re. Eine der ers­ten Lek­tio­nen, die man als öko­no­misch ori­en­tier­ter Euro­pä­er zwangs­läu­fig ler­nen muss. Zeit ist Geld? Nicht in Kuba, Ami­go!

Als Deut­scher, der schon von Geburt an mit der Stem­pel­uhr sei­ne Milch bekommt, ist die­se Erfah­rung dop­pelt hart.

Erst wer ein­mal in Kuba einen Behör­den­gang erle­di­gen muss­te, weiß, was es heißt zu war­ten.

Nach einer gefühl­ten Ewig­keit sind wir alle mit alko­ho­li­schen Geträn­ken bestückt und bereit für den Abend.

Inner­halb von einer Minu­te sind die Drinks leer.

Wir bli­cken uns kurz an, gehen zum nächs­ten Kiosk und kau­fen eine Fla­sche Rum und einen Kar­ton mit Bier.

Wir ste­hen im Kreis auf dem Markt­platz und kom­men schnell mit ande­ren Leu­ten ins Gespräch, reden und lachen, trin­ken Rum und beschlie­ßen, ab sofort immer auf die­se Wei­se Weih­nach­ten zu fei­ern.

Plötz­lich geht das Licht aus und Män­ner mit Fackeln bah­nen sich ihren Weg durch die Men­schen­men­ge.

»Cool, ich glau­be gleich fängt das Feu­er­we…«, sagt Andy. Der Rest des Sat­zes geht in einem ohren­be­täu­ben­den Knall unter, wäh­rend hun­der­te gleich­zei­tig Rake­ten in den Nacht­him­mel schie­ßen.

Der schwar­ze Fir­ma­ment erleuch­tet plötz­lich in allen erdenk­li­chen Far­ben.

Zwar nicht so cra­zy, wie ange­prie­sen, aber doch sehr bunt und schön anzu­se­hen, den­ke ich mir.

Dann wer­de ich kurz stut­zig.

Kom­men die Rake­ten etwa näher?

Mei­ne Fra­ge beant­wor­tet sich von selbst, als drei Sekun­den spä­ter eine der Rake­ten in einem Fun­ken­re­gen eini­ge Meter neben mir ein­schlägt.

Dann bricht das Cha­os los. Die Rake­ten, die gera­de noch eini­ge hun­dert Meter über unse­ren Köp­fen für ein Far­ben­spiel in der Nacht gesorgt haben, erlö­schen nicht etwa, son­dern machen, am Zenith ange­kom­men, eine Kehrt­wen­de und kom­men mit rasen­der Geschwin­dig­keit, glü­hend und einen lan­gen Feu­er­schweif hin­ter sich her­zie­hend zurück zur Erde geschos­sen.

Mit­ten in die Men­schen­men­ge.

Inner­halb von einer Sekun­de habe ich jeden ein­zel­nen aus der Grup­pe ver­lo­ren. Um mich her­um schrei­en­de Men­schen, die panisch lachend in alle mög­li­chen Rich­tun­gen ren­nen. Der gesam­te Platz ist ein­ge­hüllt in eine ein­zi­ge gro­ße Rauch­wol­ke. Der Geruch von ver­brann­tem Schwarz­pul­ver ver­schlägt mir den Atem, wäh­ren ich nichts ande­res höre, als die Explo­sio­nen von hun­der­ten und aber­hun­der­ten von Böl­lern und ande­ren Feu­er­werks­kör­pern. Dazwi­schen spielt eine Blas­ka­pel­le.

Wenn »Der Sol­dat James Ryan« von Mon­ty Python gedreht wor­den wäre, wür­de der Film unge­fähr so aus­se­hen wie das, was sich gera­de vor mei­nen Augen abspielt.

Es ist wie der zwei­te Welt­krieg mit Trom­pe­ten

Ich ren­ne, mein Shirt über das Gesicht gezo­gen, die Augen zu Schlit­zen zusam­men­ge­presst und die Arme über dem Kopf zusam­men­ge­schla­gen, sinn­los durch die Gegend, ver­su­chend den Rake­ten aus­zu­wei­chen, die als Quer­schlä­ger waa­ge­recht durch die Men­ge zischen oder glü­hend  und fun­ken­schla­gend senk­recht von oben kom­men.

Eine Rake­te trifft mich am Bein und hin­ter­lässt einen schwar­zen, bren­nen­den Strie­men, ich ver­su­che aus­zu­wei­chen und schla­ge mir das Knie an einer Mau­er auf.

Mein Bein brennt wie Feu­er, wäh­rend ich ver­su­che, nicht noch mehr Brand­wun­den abzu­be­kom­men. Das abge­fah­rens­te ist: irgend­wie fin­de ich es ziem­lich geil. Ich befin­de mich in einem per­ma­nen­ten Adre­na­lin­rausch, der mir zusam­men mit dem Alko­hol im Blut das Gefühl gibt unsterb­lich zu sein.

Zwi­schen­durch gibt es zwar eini­ge kur­ze Ver­schnauf­pau­sen, aber bevor man zur Ruhe kommt, oder gar sei­ne Freun­de wie­der­ge­fun­den hat, beginnt der Wahn­sinn an einer ande­ren Ecke des Markt­plat­zes von neu­em.

Fast zwei Stun­den dau­ert das Spek­ta­kel. Immer wie­der geht es von vor­ne los. Gele­gent­lich ren­ne ich in Andy, Debs oder einen der ande­ren, wir gucken uns mit weit auf­ge­ris­se­nen Augen an, lachen und müs­sen direkt wie­der in Deckung gehen, um nicht in Flam­men auf­zu­ge­hen.

Dann ist es vor­bei.

Der Boden ist über­sät mit den ver­kohl­ten, qual­men­den Über­res­ten aber­tau­sen­der Rake­ten.

Mein Adre­na­lin­spie­gel ist immer noch am Anschlag. Es dau­ert noch eini­ge Minu­ten, bis mein Puls wie­der sinkt.

Aus den Boxen ertönt immer noch Musik, die man wäh­rend des Feu­er­werks nicht hören konn­te und die Men­schen begin­nen sofort wie­der zu tan­zen, als wäre nichts gewe­sen.

»Len­ni, hier drü­ben«, ruft Andy mir aus eini­ger Ent­fer­nung zu. Ich schie­be mich durch den wogen­den Tanz-Mob auf Andy zu und sehe, das auch Debs und Sophie bei ihm sind. Zusam­men mit einer Grup­pe Kuba­ner. Stu­den­ten, die, wie wir, zum Fei­ern nach Reme­di­os gekom­men sind.

Mitt­ler­wei­le wur­den in eini­gen der Stra­ßen klei­ne Büh­nen auf­ge­baut auf denen DJs auf­le­gen und die Par­ty hat sich schnell vom Markt­platz in die Sei­ten­gas­sen ver­la­gert.

Wir las­sen die Rum­fla­sche krei­sen, trin­ken eis­ge­kühl­tes Bier und genie­ßen die Musik und die laue Weih­nachts-Luft.

Eins der Mädels aus der Grup­pe tanzt auf mich zu, lächelt mich an und beginnt sich im Takt der Musik an mir zu rei­ben und ihren leicht beklei­de­ten Kör­per an mei­nem rauf und run­ter zu bewe­gen, bevor sie sich umdreht, ihren Po in mei­ne Weich­tei­le schmiegt und anfängt ihn zu rotie­ren.

»Sor­ry, aber ich hab eine Freun­din«, ver­su­che ich ihr über die lau­te Musik hin­weg mit­zu­tei­len, bevor irgend­wel­che Miss­ver­ständ­nis­se ent­ste­hen.

»Alles klar, kein Pro­blem«, ruft sie, dreht sich um und lässt ihren Arsch wei­ter in mei­nem Schritt krei­sen.

Ich bin ver­wirrt. Was mache ich denn jetzt?

»Ich hab ’ne Freun­din«, sage ich noch ein­mal etwas lau­ter. Viel­leicht hat sie mich ein­fach nicht ver­stan­den.

»Cool«, schreit sie mir über das Dröh­nen des Bas­ses ins Ohr und setzt ihren Twerk­ing-Mara­thon unbe­irrt fort.

Ver­dammt… was mache ich denn jetzt??

»Ich geh‹ kurz was zu trin­ken holen«, sage ich und schie­be ihren krei­sen­den Hin­tern in den Schritt des Typen neben mir, der mich kurz komisch anguckt und anschlie­ßend die Show unter­halb sei­nes Bauch­na­bels genießt.

Ich dre­he mich um und kom­me nicht ein­mal dazu einen Schritt zu machen, bevor ich vor der nächs­ten rei­zen­den Lati­na ste­he, die mich kurz anlä­chelt, sich umdreht und mit ihrem Gesäß an mei­nen Weich­tei­len andockt, wäh­rend mich ihre Freun­din von der Sei­te antanzt.

Was zur Höl­le ist hier los?, den­ke ich und hof­fe, dass mei­ne Freun­din nicht in die­sem Moment den gran­dio­sen Ein­fall hat mich anzu­ru­fen, um mir fro­he Weih­nach­ten zu wün­schen.

»Sor­ry Schatz, ich kann grad nicht. Es rei­ben sich zwei hei­ße Lati­nas an mir«

»Ach so, alles klar. Dann rufe ich spä­ter noch mal an«

Was für vie­le wahr­schein­lich ein ein­zi­ger feuch­ter Traum wäre, ist für mich gera­de ein Alb­traum.
Wäre ich ein wohl­erzo­ge­ner Katho­lik, müss­te ich mich in die Ecke set­zen und wei­nen.

Es ist dabei nicht die Frei­zü­gig­keit, mit der die Men­schen um mich her­um ihre Astral­kör­per bewe­gen und gegen­ein­an­der rei­ben, son­dern die damit ver­bun­de­ne Auf­for­de­rung es ihnen gleich zu tun.

Und genau da liegt der Haken, denn:

Tan­zen all­ge­mein ist ein­fach nicht so meins.

Es ist nicht so, dass ich es nicht kann, ich mag es ein­fach nicht. Außer­dem kann ich es nicht.

Selbst beim Tanz­kurs hat grund­sätz­lich mei­ne Tanz­part­ne­rin geführt. (Dan­ke dafür, lie­be Judi­tha) Und ich hat­te kein Pro­blem damit. Nicht, weil mein femi­nis­tisch gepräg­tes, weib­li­ches Umfeld mir schon von früh­auf ein star­kes Frau­en­bild als all­ge­mein gel­ten­de Norm instru­iert hat (Dan­ke dafür, lie­be Thea, Gesi­ne, Anne etc.) und mir ver­al­te­te Geschlech­ter­rol­len ohne­hin ein Dorn im Auge sind, son­dern, weil ich schlicht mit der Gesamt­si­tua­ti­on über­for­dert war.

Ich füh­le mich an der Bar ein­fach wesent­lich woh­ler als auf der Tanz­flä­che.

Streng genom­men, bräuch­te ich noch nicht mal auf­ste­hen, um zu tan­zen. Im Sit­zen im Takt zu wip­pen reicht mir voll­kom­men. Wenn ich rich­tig gut drauf bin, nicke ich dazu viel­leicht noch mit dem Kopf oder tromm­le auf dem Tisch und wenn ich mich vor musi­ka­li­scher Eupho­rie fast nicht mehr hal­ten kann, kommt manch­mal noch einer der Füße dazu.

Ver­dammt, ich bin Ost­frie­se. Alles, was über schun­keln hin­aus­geht, ist für mich Aus­drucks­tanz.

Hier und jetzt aller­dings, bin ich gera­de weit, weit weg von mei­nem nord­deut­schen Zuhau­se.

Hier bin ich der komi­sche Außen­sei­ter, der aus der Mas­se her­aus­sticht wie Oli­via Jones auf dem NPD-Par­tei­tag.

Die Leu­te um mich her­um nicken mir auf­for­dernd zu, einer drückt mir einen Cuba Lib­re in die Hand.

Ich mache eini­ge unbe­hol­fe­ne Tanz­schrit­te, von denen mein mitt­ler­wei­le schon leicht bene­bel­tes Gedächt­nis mir ver­sucht ein­zu­re­den, dass ich die­se mal als Sal­sa­schrit­te in der Tanz­schu­le gelernt habe. Ich füh­le mich  direkt wie einer die­ser Mitt-Fünf­zi­ger in Kaki­ho­sen und wei­ßen Ten­nis­so­cken, der von sei­ner Toch­ter zum Abi­ball mit­ge­nom­men wor­den ist und sich plötz­lich noch ein­mal wie 18 fühlt, wäh­rend jeder Bewe­gungs-Ästet um ihn her­um wahr­schein­lich hin- und her­ge­ris­sen ist zwi­schen dem Wunsch beschämt weg­zu­gu­cken und dem Ver­lan­gen das Schau­spiel mit dem Han­dy zu fil­men.

 

Dabei bin ich gar nicht schuld. Die ande­ren sind es.

Wahr­schein­lich haben Lati­nos und ‑nas irgend­ein ver­steck­tes Rhyth­mus-Chro­mo­som, das im nie­der­deut­schen Gen­pool ver­lo­ren gegan­gen ist. Jeden­falls sind kla­re Unter­schie­de hin­sicht­lich tän­ze­ri­scher, was sage ich, gesamt-moto­ri­scher Fähig­kei­ten nicht zu ver­leug­nen.

Jetzt ist es raus. Ich bin ein Tanz-Nazi…

Mei­ne Ana­to­mie ist ein­fach nicht für rhyth­mi­sche Bewe­gung kon­zi­piert. Wenn ich tan­ze, sehe ich aus wie eine die­ser auf­blas­ba­ren, ame­ri­ka­ni­schen Wer­be­fi­gu­ren, die »Wha­cky Waving Inflata­ble Arm Flai­ling Tube Men«.

 

»Was ist los mit dir, Mann? Du wirkst so ver­krampft«, sagt Luca, einer der Stu­den­ten aus der Grup­pe.

Er tanzt so exzes­siv mit der Frau in sei­nem Arm, dass ich mir mitt­ler­wei­le vor­stel­len kann, dass an Boris Beckers Flug­sa­men-Theo­rie doch etwas dran sein könn­te.

Ich ver­su­che ihm zu erklä­ren, dass ich a) noch zu nüch­tern bin, b) auch betrun­ken kein guter Tän­zer bin und c) anschei­nend zu prü­de für das kuba­ni­sche Nach­le­ben bin.

»Außer­dem hab ich ’ne Freun­din«

»Hab ich auch«

»Und die fin­det das ok, dass du so mit die­sem Mädel abgehst?«, fra­ge ich ihn.

»Klar, das ist mei­ne Schwes­ter«, lacht Luca.

Sei­ne Schwes­ter… Für die Dance-Moves, die er mit sei­ner Schwes­ter abzieht, wür­de er bei uns in den Knast wan­dern und in Bay­ern geteert, gefe­dert und rück­wärts auf einen Esel gebun­den aus dem Dorf getrie­ben wer­den.

»Mit Ver­wandt­schaft ers­ten Gra­des wür­de man bei uns so nicht tan­zen, Dude«, sage ich ihm.

Mit Ver­wandt­schaft zwei­ten Gra­des viel­leicht, aller­dings nur auf dem Land.

Aber da darf man ja sowie­so nicht so wäh­le­risch sein.…

»Ami­go, das ist ein­fach bloß Tan­zen«, sagt er zu mir und schubst mir sei­ne Schwes­ter in die Arme, die mich sofort packt und her­um­wir­belt.

Ich weiß nicht, ob es Lucas klei­ne Anspra­che oder das letz­te Glas Rum den Aus­lö­ser gege­ben hat, aber ich beschlie­ße mit einem men­ta­len »Fuck it« mei­nen inne­ren Ost­frie­sen zu igno­rie­ren und mich statt­des­sen dem Moment rhyth­misch hin­zu­ge­ben.

Ich kann mich sowie­so nicht weh­ren.

Außer­dem sehe ich die­se gan­zen Men­schen höchst­wahr­schein­lich nie im Leben wie­der.

Ich stel­le mich mit­ten in den tan­zen­den Pulk und ver­su­che mir mög­lichst vie­le Dance-Moves von Luca und den ande­ren kuba­ni­schen Jungs abzu­gu­cken, die Tan­zen, als hät­ten sie nie etwas ande­res gemacht. Haben sie wahr­schein­lich auch nicht.

Ich ähne­le tanz­tech­nisch immer noch mehr Ricky Ger­vais als Ricky Mar­tin, aber ehr­lich gesagt, ist mir das mitt­ler­wei­le scheiß­egal.

 

Ich wer­de locke­rer, bewe­ge mich, ohne wirk­lich nach­zu­den­ken und schüt­te immer mehr Rum in mich hin­ein, um mei­nem Hirn nicht die lei­ses­te Chan­ce zu geben so etwas wie Scham­ge­fühl zu gene­rie­ren.

Jeder tanzt mit jedem, ich dre­he mich im Kreis, wer­de durch die Gegend gewir­belt und wirb­le wie­der­um Ande­re. Die Rum­fla­schen krei­sen und die pani­sche Eksta­se von vor­hin ist einem ange­neh­men Rausch gewi­chen. Ich lie­ge Leu­ten in den Armen, die ich eini­ge Minu­ten vor­her noch nicht kann­te und eini­ge Minu­ten spä­ter schon wie­der für immer aus den Augen ver­lie­re.

Nach eini­gen Stun­den bin ich wie in Trance. Mein ver­schwitz­tes Hemd klebt an mei­nem Kör­per, der müde Punkt ist schon längst über­wun­den und die Erschöp­fung ist einem pri­ckeln­den Gefühl der Eupho­rie gewi­chen.

Ich bin in der Kari­bik, es ist Weih­nach­ten und ich tan­ze Sal­sa zu Son und Rag­gae­ton so gut es eben geht, den­ke ich mir und bli­cke um mich her­um in die Gesich­ter der Men­schen, die aus­ge­las­sen lachen, tan­zen, lie­ben und ich begin­ne zu ver­ste­hen, was Cuba Lib­re wirk­lich bedeu­tet.

»Wir müs­sen los«, reißt mich Andys Stim­me plötz­lich aus mei­nem kari­bi­schen Traum.

Ich bli­cke auf die Uhr. Es ist tat­säch­lich schon zwei Uhr.

»Ernst­haft?«, fra­ge ich ent­geis­tert.

»Ne, ich hab dem Taxi­fah­rer gera­de 20 Dol­lar gege­ben, damit wir noch ein paar Stun­den hier­blei­ben kön­nen«, lacht Andy und drückt mir ein Bier in die Hand.

Wir sto­ßen lachend an und tan­zen wei­ter durch die Nacht.

Irgend­wann don­nert es.

Schon wie­der Feu­er­werk?

Als mich Sekun­den spä­ter die ers­ten Regen­trop­fen tref­fen und sich wei­te­re Sekun­den spä­ter ein Wol­ken­bruch son­der­glei­chen über uns ergießt, erken­ne ich mei­nen Irr­tum.

Aber­mals Cha­os auf den Stra­ßen von Reme­di­os. Die meis­ten Leu­te flüch­ten unter die schma­len Vor­dä­cher der Häu­ser, wäh­rend eini­ge Uner­schüt­ter­li­che ein­fach wei­ter tan­zen.

Ich sehe unser Taxi am Stra­ßen­rand an der Ecke ste­hen und ren­ne dar­auf zu, um vor dem strö­men­den Regen Zuflucht zu suchen.

Sophie hat­te wahr­schein­lich die glei­che Idee, denn sie rennt aus einer ande­ren Rich­tung auf das Taxi zu.

Wir sprin­gen hin­ein und schla­gen die Türen hin­ter uns zu.

»Wir war­ten ein­fach kurz den Schau­er ab und gehen dann wie­der raus und tan­zen wei­ter«, sage ich und schla­fe im glei­chen Moment ein.

Als ich auf­wa­che sind wir wie­der in San­ta Cla­ra. Andy, Debs und Sophie sit­zen eben­falls im Taxi und gucken ähn­lich ver­wirrt aus der Wäsche wie ich.

Debs und Sophie wol­len sich mor­gen ein Taxi mit mir nach Tri­ni­dad tei­len, Andy fährt in die ande­re Rich­tung und will noch eine Woche im Nor­den der Insel am Strand chil­len, bevor er wie­der nach Eng­land fliegt, wir ver­ab­schie­den uns also von­ein­an­der, tau­schen unse­re Face­book-Daten aus und tor­keln in unter­schied­li­che Rich­tun­gen davon.

Mei­ne inne­re Uhr ist noch auf Par­ty-Modus, wäh­rend mein Kör­per schon auf Kater-Modus umge­schal­tet hat.

Ich stol­pe­re durch die schma­len Gäss­chen San­ta Cla­ras in die gro­be Rich­tung, in der ich mein Casa ver­mu­te und fin­de es tat­säch­lich, nach­dem ich wahr­schein­lich schon min­des­tens zwei­mal im Kreis gelau­fen bin.

Ich ver­su­che zum drit­ten Mal das Schlüs­sel­loch zu tref­fen, gucke mit einem weit auf­ge­ris­se­nen und einem zuge­knif­fe­nen Auge auf mei­ne Uhr und ver­su­che den tan­zen­den Zah­len dar­auf einen Sinn zu ent­lo­cken.

Sechs Uhr… in zwei Stun­den muss ich beim Taxi sein und in einer gibt es Früh­stück.

Kopf­schmer­zen machen sich in mei­nem Schä­del breit. So wer­de ich den Tag nie über­le­ben.

Wo zum Teu­fel habe ich vor­hin mei­ne Schmerz­ta­blet­ten hin­ge­packt?

Mir fällt ein, dass ich die letz­ten genom­men habe, bevor ich los­ge­fah­ren bin.

Ver­dammt…

Mein Blick fällt auf die Zäpf­chen, die ein­sam und allein auf mei­nem Bett lie­gen und mich höh­nisch anbli­cken.

Na dann…Feliz Navi­dad.

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Antworten

  1. Avatar von sirit

    Oh weia. Das hört sich ja echt etwas krass an. Was hat denn über­wiegt? Freu­de? Schmerz? Cra­zi­ness?

    1. Avatar von Lennart

      Ein­deu­tig die Freu­de! Das Fest spie­gelt mei­ner Mei­nung nach sehr gut die aus­ufern­de Lebens­freu­de vie­ler Kuba­ner wie­der.
      Obwohl ich heu­te mit gro­ßem Schre­cken lesen muss­te das beim dies­jäh­ri­gen Las Par­rand­as de Reme­di­os vor drei Tagen 39 Men­schen ver­letzt wur­den:
      https://www.facebook.com/spiegelonline/videos/10156283818144869/

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