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24. Dezember, Remedios/Kuba
Ich blute an meinem linken Bein, meine Lunge brennt und es manifestieren sich zwei Fragen in meinem Kopf:
1. Wo bin ich hier gelandet?
2. Wie komme ich hier wieder raus?
Was ich damit sagen will, ist, dass Weihnachten dort wo ich gerade bin nicht aus trautem Beisammensein und kitschigen Weihnachtsgedichten besteht, sondern weitestgehend in drei Phasen zu unterteilen ist: Rum, Weltuntergang, mehr Rum.
Doch gehen wir etwas zurück:
Es ist Heiligabend, ich sitze auf der mit rosa Blümchen bestickten und mit Rüschen verzierten Tagesdecke meines Bettes in Santa Clara und habe Fieber. Kopfschmerzen, Gliederschmerzen, Schwindel, das ganze Programm.
»Es ist Weihnachten, reiß dich zusammen, verdammt!«, versuche ich mir einzureden. Außerdem bin ich in zehn Minuten verabredet.
Ich schmeiße also alle Pillen, Kapseln und Tinkturen ein, die mir aus meiner Kulturtasche entgegen fallen, verzichte auf die Zäpfchen und lege sie in in sicherer Entfernung auf mein Bett, während ich den Rest mit einem Schluck Rum herunterspüle. Santa Claus, ich bin bereit, denke ich, wuchte mich aus dem Bett und mache mich auf den Weg.
Ich treffe mich mit drei Briten, Andy, Debs und Sophie vor dem Hotel Santa Clara Libre. Ich habe die drei heute morgen vor dem Ticketschalter des lokalen Busbahnhofs getroffen, da sie wie ich keine Busticket mehr aus der Stadt bekommen haben. Das allerdings ist ein Problem, das ich nach hinten verschoben habe. Zuerst ging es mir darum, irgendwie nach Remedios zu kommen, einer Kleinstadt, die sich einmal im Jahr in das Epizentrum vorweihnachtlichen Irrsinns und Chaos verwandeln soll. So wurde mir zumindest gesagt.
»Las Parrandas de Remedios« heißt das Spektakel, von dem ich zwar schon von einigen Seiten etwas gehört habe, zuletzt von einer Gruppe betrunkener kubanischer Baseballfans in Havanna, unter dem ich mir aber nicht wirklich etwas vorstellen kann.
Wieder einmal wurde ich über die genauen Einzelheiten im Unklaren gelassen, was der Vehemenz der Überredungskunst es mir nichtsdestotrotz auf keinen Fall entgehen lassen zu dürfen, allerdings keinen Abklang tat.
»You HAVE to go to Remedios! You HAVE to!
»Ok, why?«
»It’s crazy!«
»Cool. Crazy sounds good. How crazy?«
»Really fucking crazy, man«
Das war es dann meistens auch schon an Infos.
»Weißt du, was uns da erwartet?«, frage ich Andy, als ich mich hinter ihm auf die Rückback unseres Taxis schmeiße.
»Ne, hab nur gehört, dass es ganz schön crazy werden soll«
»Hab ich auch gehört. Mal schauen, was passiert. Wenn es scheiße ist, können wir ja wieder abhauen«
Da es nachts keine Busse zurück nach Santa Clara gibt, sämtliche Betten in Remedios belegt zu sein scheinen und die Chancen auf ein Taxi zurück wahrscheinlich bei Null liegen, blieb uns nichts anderes übrig, als ein Taxi für den gesamten Abend zu buchen. Für zwanzig Euro pro Person haben wir also einen persönlichen Chauffeur bis zwei Uhr morgens.
Ich lehne mich zurück und warte, dass die Schmerzmittel ihren Dienst antreten. Die Fahrt dauert etwa 40 Minuten und ich bin schnell eingedöst.
Als ich die Augen wieder öffne, höre ich schon von Weitem das dumpfe Dröhnen von Musik und ein monotones Brummen wie aus einem Bienenstock, das von hunderten, wenn nicht Tausenden Menschen zu kommen scheint.
Wir verabreden mit dem Taxifahrer, wo er auf uns wartet und ziehen los. Remedios wirkt eher wie ein Dorf als eine Stadt. Ein ganz schön volles Dorf.
Über einigen Feuern drehen ganze Schweine, aus großen Lautsprechern schallt Musik über den Marktplatz im Zentrum der Stadt hinein in die Gassen, Straßenverkäufer verkaufen selbstgebastelte Papierrosen und an den Theken der kleinen Bars am Straßenrand herrscht Hochkonjunktur.
Wir gehen einmal über den mit tanzenden und trinkenden Menschen gefüllten Platz um uns einen Überblick zu verschaffen und steuern in die erstbeste Bar, um uns einen Drink zu bestellen und es ihnen gleichzutun.
»Vier Cuba Libre und einen Mojito«, sage ich zu dem Barkeeper, der so alt aussieht, dass er wahrscheinlich José Martí noch persönlich gekannt hat.
Stress jedenfalls scheint er trotz der riesigen Menschentraube um seinen Tresen herum nicht zu kennen. Jedes Pfefferminzblatt pflückt er einzeln vom Strauch, begutachtet es kurz und führt es anschließend mit der Geschwindigkeit eines dementen Faultiers in Richtung Glas. Genauso fährt er auch mit den Eiswürfeln fort.
Normalerweise beneide ich diese Art von Perfektionismus, aber jetzt, in diesem Augenblick, will ich einfach nur meinen Mojito.
Wieso musste ich ausgerechnet an den langsamsten Barkeeper der Welt gelangen?
»Wenn du noch langsamer bist, ist der Eiswürfel geschmolzen, bevor es im Glas ist«, will ich ihm sagen, lächle ihn aber stattdessen weiter möglichst unbeeindruckt an. Die Zeitrechnung in Kuba ist einfach eine andere. Eine der ersten Lektionen, die man als ökonomisch orientierter Europäer zwangsläufig lernen muss. Zeit ist Geld? Nicht in Kuba, Amigo!
Als Deutscher, der schon von Geburt an mit der Stempeluhr seine Milch bekommt, ist diese Erfahrung doppelt hart.
Erst wer einmal in Kuba einen Behördengang erledigen musste, weiß, was es heißt zu warten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit sind wir alle mit alkoholischen Getränken bestückt und bereit für den Abend.
Innerhalb von einer Minute sind die Drinks leer.
Wir blicken uns kurz an, gehen zum nächsten Kiosk und kaufen eine Flasche Rum und einen Karton mit Bier.
Wir stehen im Kreis auf dem Marktplatz und kommen schnell mit anderen Leuten ins Gespräch, reden und lachen, trinken Rum und beschließen, ab sofort immer auf diese Weise Weihnachten zu feiern.
Plötzlich geht das Licht aus und Männer mit Fackeln bahnen sich ihren Weg durch die Menschenmenge.
»Cool, ich glaube gleich fängt das Feuerwe…«, sagt Andy. Der Rest des Satzes geht in einem ohrenbetäubenden Knall unter, während hunderte gleichzeitig Raketen in den Nachthimmel schießen.
Der schwarze Firmament erleuchtet plötzlich in allen erdenklichen Farben.
Zwar nicht so crazy, wie angepriesen, aber doch sehr bunt und schön anzusehen, denke ich mir.
Dann werde ich kurz stutzig.
Kommen die Raketen etwa näher?
Meine Frage beantwortet sich von selbst, als drei Sekunden später eine der Raketen in einem Funkenregen einige Meter neben mir einschlägt.
Dann bricht das Chaos los. Die Raketen, die gerade noch einige hundert Meter über unseren Köpfen für ein Farbenspiel in der Nacht gesorgt haben, erlöschen nicht etwa, sondern machen, am Zenith angekommen, eine Kehrtwende und kommen mit rasender Geschwindigkeit, glühend und einen langen Feuerschweif hinter sich herziehend zurück zur Erde geschossen.
Mitten in die Menschenmenge.
Innerhalb von einer Sekunde habe ich jeden einzelnen aus der Gruppe verloren. Um mich herum schreiende Menschen, die panisch lachend in alle möglichen Richtungen rennen. Der gesamte Platz ist eingehüllt in eine einzige große Rauchwolke. Der Geruch von verbranntem Schwarzpulver verschlägt mir den Atem, währen ich nichts anderes höre, als die Explosionen von hunderten und aberhunderten von Böllern und anderen Feuerwerkskörpern. Dazwischen spielt eine Blaskapelle.
Wenn »Der Soldat James Ryan« von Monty Python gedreht worden wäre, würde der Film ungefähr so aussehen wie das, was sich gerade vor meinen Augen abspielt.
Es ist wie der zweite Weltkrieg mit Trompeten
Ich renne, mein Shirt über das Gesicht gezogen, die Augen zu Schlitzen zusammengepresst und die Arme über dem Kopf zusammengeschlagen, sinnlos durch die Gegend, versuchend den Raketen auszuweichen, die als Querschläger waagerecht durch die Menge zischen oder glühend und funkenschlagend senkrecht von oben kommen.
Eine Rakete trifft mich am Bein und hinterlässt einen schwarzen, brennenden Striemen, ich versuche auszuweichen und schlage mir das Knie an einer Mauer auf.
Mein Bein brennt wie Feuer, während ich versuche, nicht noch mehr Brandwunden abzubekommen. Das abgefahrenste ist: irgendwie finde ich es ziemlich geil. Ich befinde mich in einem permanenten Adrenalinrausch, der mir zusammen mit dem Alkohol im Blut das Gefühl gibt unsterblich zu sein.
Zwischendurch gibt es zwar einige kurze Verschnaufpausen, aber bevor man zur Ruhe kommt, oder gar seine Freunde wiedergefunden hat, beginnt der Wahnsinn an einer anderen Ecke des Marktplatzes von neuem.
Fast zwei Stunden dauert das Spektakel. Immer wieder geht es von vorne los. Gelegentlich renne ich in Andy, Debs oder einen der anderen, wir gucken uns mit weit aufgerissenen Augen an, lachen und müssen direkt wieder in Deckung gehen, um nicht in Flammen aufzugehen.
Dann ist es vorbei.
Der Boden ist übersät mit den verkohlten, qualmenden Überresten abertausender Raketen.
Mein Adrenalinspiegel ist immer noch am Anschlag. Es dauert noch einige Minuten, bis mein Puls wieder sinkt.
Aus den Boxen ertönt immer noch Musik, die man während des Feuerwerks nicht hören konnte und die Menschen beginnen sofort wieder zu tanzen, als wäre nichts gewesen.
»Lenni, hier drüben«, ruft Andy mir aus einiger Entfernung zu. Ich schiebe mich durch den wogenden Tanz-Mob auf Andy zu und sehe, das auch Debs und Sophie bei ihm sind. Zusammen mit einer Gruppe Kubaner. Studenten, die, wie wir, zum Feiern nach Remedios gekommen sind.
Mittlerweile wurden in einigen der Straßen kleine Bühnen aufgebaut auf denen DJs auflegen und die Party hat sich schnell vom Marktplatz in die Seitengassen verlagert.
Wir lassen die Rumflasche kreisen, trinken eisgekühltes Bier und genießen die Musik und die laue Weihnachts-Luft.
Eins der Mädels aus der Gruppe tanzt auf mich zu, lächelt mich an und beginnt sich im Takt der Musik an mir zu reiben und ihren leicht bekleideten Körper an meinem rauf und runter zu bewegen, bevor sie sich umdreht, ihren Po in meine Weichteile schmiegt und anfängt ihn zu rotieren.
»Sorry, aber ich hab eine Freundin«, versuche ich ihr über die laute Musik hinweg mitzuteilen, bevor irgendwelche Missverständnisse entstehen.
»Alles klar, kein Problem«, ruft sie, dreht sich um und lässt ihren Arsch weiter in meinem Schritt kreisen.
Ich bin verwirrt. Was mache ich denn jetzt?
»Ich hab ’ne Freundin«, sage ich noch einmal etwas lauter. Vielleicht hat sie mich einfach nicht verstanden.
»Cool«, schreit sie mir über das Dröhnen des Basses ins Ohr und setzt ihren Twerking-Marathon unbeirrt fort.
Verdammt… was mache ich denn jetzt??
»Ich geh‹ kurz was zu trinken holen«, sage ich und schiebe ihren kreisenden Hintern in den Schritt des Typen neben mir, der mich kurz komisch anguckt und anschließend die Show unterhalb seines Bauchnabels genießt.
Ich drehe mich um und komme nicht einmal dazu einen Schritt zu machen, bevor ich vor der nächsten reizenden Latina stehe, die mich kurz anlächelt, sich umdreht und mit ihrem Gesäß an meinen Weichteilen andockt, während mich ihre Freundin von der Seite antanzt.
Was zur Hölle ist hier los?, denke ich und hoffe, dass meine Freundin nicht in diesem Moment den grandiosen Einfall hat mich anzurufen, um mir frohe Weihnachten zu wünschen.
»Sorry Schatz, ich kann grad nicht. Es reiben sich zwei heiße Latinas an mir«
»Ach so, alles klar. Dann rufe ich später noch mal an«
Was für viele wahrscheinlich ein einziger feuchter Traum wäre, ist für mich gerade ein Albtraum.
Wäre ich ein wohlerzogener Katholik, müsste ich mich in die Ecke setzen und weinen.
Es ist dabei nicht die Freizügigkeit, mit der die Menschen um mich herum ihre Astralkörper bewegen und gegeneinander reiben, sondern die damit verbundene Aufforderung es ihnen gleich zu tun.
Und genau da liegt der Haken, denn:
Tanzen allgemein ist einfach nicht so meins.
Es ist nicht so, dass ich es nicht kann, ich mag es einfach nicht. Außerdem kann ich es nicht.
Selbst beim Tanzkurs hat grundsätzlich meine Tanzpartnerin geführt. (Danke dafür, liebe Juditha) Und ich hatte kein Problem damit. Nicht, weil mein feministisch geprägtes, weibliches Umfeld mir schon von frühauf ein starkes Frauenbild als allgemein geltende Norm instruiert hat (Danke dafür, liebe Thea, Gesine, Anne etc.) und mir veraltete Geschlechterrollen ohnehin ein Dorn im Auge sind, sondern, weil ich schlicht mit der Gesamtsituation überfordert war.
Ich fühle mich an der Bar einfach wesentlich wohler als auf der Tanzfläche.
Streng genommen, bräuchte ich noch nicht mal aufstehen, um zu tanzen. Im Sitzen im Takt zu wippen reicht mir vollkommen. Wenn ich richtig gut drauf bin, nicke ich dazu vielleicht noch mit dem Kopf oder trommle auf dem Tisch und wenn ich mich vor musikalischer Euphorie fast nicht mehr halten kann, kommt manchmal noch einer der Füße dazu.
Verdammt, ich bin Ostfriese. Alles, was über schunkeln hinausgeht, ist für mich Ausdruckstanz.
Hier und jetzt allerdings, bin ich gerade weit, weit weg von meinem norddeutschen Zuhause.
Hier bin ich der komische Außenseiter, der aus der Masse heraussticht wie Olivia Jones auf dem NPD-Parteitag.
Die Leute um mich herum nicken mir auffordernd zu, einer drückt mir einen Cuba Libre in die Hand.
Ich mache einige unbeholfene Tanzschritte, von denen mein mittlerweile schon leicht benebeltes Gedächtnis mir versucht einzureden, dass ich diese mal als Salsaschritte in der Tanzschule gelernt habe. Ich fühle mich direkt wie einer dieser Mitt-Fünfziger in Kakihosen und weißen Tennissocken, der von seiner Tochter zum Abiball mitgenommen worden ist und sich plötzlich noch einmal wie 18 fühlt, während jeder Bewegungs-Ästet um ihn herum wahrscheinlich hin- und hergerissen ist zwischen dem Wunsch beschämt wegzugucken und dem Verlangen das Schauspiel mit dem Handy zu filmen.
Dabei bin ich gar nicht schuld. Die anderen sind es.
Wahrscheinlich haben Latinos und ‑nas irgendein verstecktes Rhythmus-Chromosom, das im niederdeutschen Genpool verloren gegangen ist. Jedenfalls sind klare Unterschiede hinsichtlich tänzerischer, was sage ich, gesamt-motorischer Fähigkeiten nicht zu verleugnen.
Jetzt ist es raus. Ich bin ein Tanz-Nazi…
Meine Anatomie ist einfach nicht für rhythmische Bewegung konzipiert. Wenn ich tanze, sehe ich aus wie eine dieser aufblasbaren, amerikanischen Werbefiguren, die »Whacky Waving Inflatable Arm Flailing Tube Men«.
»Was ist los mit dir, Mann? Du wirkst so verkrampft«, sagt Luca, einer der Studenten aus der Gruppe.
Er tanzt so exzessiv mit der Frau in seinem Arm, dass ich mir mittlerweile vorstellen kann, dass an Boris Beckers Flugsamen-Theorie doch etwas dran sein könnte.
Ich versuche ihm zu erklären, dass ich a) noch zu nüchtern bin, b) auch betrunken kein guter Tänzer bin und c) anscheinend zu prüde für das kubanische Nachleben bin.
»Außerdem hab ich ’ne Freundin«
»Hab ich auch«
»Und die findet das ok, dass du so mit diesem Mädel abgehst?«, frage ich ihn.
»Klar, das ist meine Schwester«, lacht Luca.
Seine Schwester… Für die Dance-Moves, die er mit seiner Schwester abzieht, würde er bei uns in den Knast wandern und in Bayern geteert, gefedert und rückwärts auf einen Esel gebunden aus dem Dorf getrieben werden.
»Mit Verwandtschaft ersten Grades würde man bei uns so nicht tanzen, Dude«, sage ich ihm.
Mit Verwandtschaft zweiten Grades vielleicht, allerdings nur auf dem Land.
Aber da darf man ja sowieso nicht so wählerisch sein.…
»Amigo, das ist einfach bloß Tanzen«, sagt er zu mir und schubst mir seine Schwester in die Arme, die mich sofort packt und herumwirbelt.
Ich weiß nicht, ob es Lucas kleine Ansprache oder das letzte Glas Rum den Auslöser gegeben hat, aber ich beschließe mit einem mentalen »Fuck it« meinen inneren Ostfriesen zu ignorieren und mich stattdessen dem Moment rhythmisch hinzugeben.
Ich kann mich sowieso nicht wehren.
Außerdem sehe ich diese ganzen Menschen höchstwahrscheinlich nie im Leben wieder.
Ich stelle mich mitten in den tanzenden Pulk und versuche mir möglichst viele Dance-Moves von Luca und den anderen kubanischen Jungs abzugucken, die Tanzen, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Haben sie wahrscheinlich auch nicht.
Ich ähnele tanztechnisch immer noch mehr Ricky Gervais als Ricky Martin, aber ehrlich gesagt, ist mir das mittlerweile scheißegal.
Ich werde lockerer, bewege mich, ohne wirklich nachzudenken und schütte immer mehr Rum in mich hinein, um meinem Hirn nicht die leiseste Chance zu geben so etwas wie Schamgefühl zu generieren.
Jeder tanzt mit jedem, ich drehe mich im Kreis, werde durch die Gegend gewirbelt und wirble wiederum Andere. Die Rumflaschen kreisen und die panische Ekstase von vorhin ist einem angenehmen Rausch gewichen. Ich liege Leuten in den Armen, die ich einige Minuten vorher noch nicht kannte und einige Minuten später schon wieder für immer aus den Augen verliere.
Nach einigen Stunden bin ich wie in Trance. Mein verschwitztes Hemd klebt an meinem Körper, der müde Punkt ist schon längst überwunden und die Erschöpfung ist einem prickelnden Gefühl der Euphorie gewichen.
Ich bin in der Karibik, es ist Weihnachten und ich tanze Salsa zu Son und Raggaeton so gut es eben geht, denke ich mir und blicke um mich herum in die Gesichter der Menschen, die ausgelassen lachen, tanzen, lieben und ich beginne zu verstehen, was Cuba Libre wirklich bedeutet.
»Wir müssen los«, reißt mich Andys Stimme plötzlich aus meinem karibischen Traum.
Ich blicke auf die Uhr. Es ist tatsächlich schon zwei Uhr.
»Ernsthaft?«, frage ich entgeistert.
»Ne, ich hab dem Taxifahrer gerade 20 Dollar gegeben, damit wir noch ein paar Stunden hierbleiben können«, lacht Andy und drückt mir ein Bier in die Hand.
Wir stoßen lachend an und tanzen weiter durch die Nacht.
Irgendwann donnert es.
Schon wieder Feuerwerk?
Als mich Sekunden später die ersten Regentropfen treffen und sich weitere Sekunden später ein Wolkenbruch sondergleichen über uns ergießt, erkenne ich meinen Irrtum.
Abermals Chaos auf den Straßen von Remedios. Die meisten Leute flüchten unter die schmalen Vordächer der Häuser, während einige Unerschütterliche einfach weiter tanzen.
Ich sehe unser Taxi am Straßenrand an der Ecke stehen und renne darauf zu, um vor dem strömenden Regen Zuflucht zu suchen.
Sophie hatte wahrscheinlich die gleiche Idee, denn sie rennt aus einer anderen Richtung auf das Taxi zu.
Wir springen hinein und schlagen die Türen hinter uns zu.
»Wir warten einfach kurz den Schauer ab und gehen dann wieder raus und tanzen weiter«, sage ich und schlafe im gleichen Moment ein.
Als ich aufwache sind wir wieder in Santa Clara. Andy, Debs und Sophie sitzen ebenfalls im Taxi und gucken ähnlich verwirrt aus der Wäsche wie ich.
Debs und Sophie wollen sich morgen ein Taxi mit mir nach Trinidad teilen, Andy fährt in die andere Richtung und will noch eine Woche im Norden der Insel am Strand chillen, bevor er wieder nach England fliegt, wir verabschieden uns also voneinander, tauschen unsere Facebook-Daten aus und torkeln in unterschiedliche Richtungen davon.
Meine innere Uhr ist noch auf Party-Modus, während mein Körper schon auf Kater-Modus umgeschaltet hat.
Ich stolpere durch die schmalen Gässchen Santa Claras in die grobe Richtung, in der ich mein Casa vermute und finde es tatsächlich, nachdem ich wahrscheinlich schon mindestens zweimal im Kreis gelaufen bin.
Ich versuche zum dritten Mal das Schlüsselloch zu treffen, gucke mit einem weit aufgerissenen und einem zugekniffenen Auge auf meine Uhr und versuche den tanzenden Zahlen darauf einen Sinn zu entlocken.
Sechs Uhr… in zwei Stunden muss ich beim Taxi sein und in einer gibt es Frühstück.
Kopfschmerzen machen sich in meinem Schädel breit. So werde ich den Tag nie überleben.
Wo zum Teufel habe ich vorhin meine Schmerztabletten hingepackt?
Mir fällt ein, dass ich die letzten genommen habe, bevor ich losgefahren bin.
Verdammt…
Mein Blick fällt auf die Zäpfchen, die einsam und allein auf meinem Bett liegen und mich höhnisch anblicken.
Na dann…Feliz Navidad.
Antworten
Oh weia. Das hört sich ja echt etwas krass an. Was hat denn überwiegt? Freude? Schmerz? Craziness?
Eindeutig die Freude! Das Fest spiegelt meiner Meinung nach sehr gut die ausufernde Lebensfreude vieler Kubaner wieder.
Obwohl ich heute mit großem Schrecken lesen musste das beim diesjährigen Las Parrandas de Remedios vor drei Tagen 39 Menschen verletzt wurden:
https://www.facebook.com/spiegelonline/videos/10156283818144869/
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