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Alles Mögliche bin ich gefragt worden, seit ich beschlossen habe, für eine Weile nach Nepal zu gehen. Wie das Essen so schmeckt und ob ich es gut vertrage, wie kalt es hier im Winter wird, wie der Verkehr in Kathmandu ist (schlimm) und ob ich auch bald mit dem Roller durch die Straßen düse (nein).
Vier Jahre nach dem großen Beben: ernüchternde Bilanz
Ob ich Angst vor einem Erdbeben habe, hat mich hingegen nie jemand gefragt. Mich selbst beschäftigt das Thema häufig. Kein Wunder – hier gibt es vor ihm schließlich kein Entkommen, schon gar nicht jetzt, im Frühling, da sich die letzte Katastrophe in Nepal zum vierten Mal jährt: Am Samstag, den 25. April 2015, kurz vor zwölf Uhr mittags erschütterte ein Beben der Stärke 7,8 das Kathmandutal, fünfzig Sekunden lang bebte die Erde, etliche heftige Nachbeben folgten. Fast 9000 Menschen sind damals gestorben, ganze Dörfer wurden ausgelöscht, unzählige Häuser und Tempel zerstört.
Schon seit Wochen ziehen die Medien hier Bilanz. Sie fragen, warum der Wiederaufbau stockt und wohin Spendengelder versickern. Sie porträtieren Menschen, die alles verloren und bis heute nicht zur Normalität zurückgefunden haben. Sie empören sich, weil viele Kinder in Notkabuffs lernen, seit das Beben etwa 5000 Schulen zerstört hat. Und sie fordern, dass endlich konsequent erdbebensicher gebaut und öffentliche Einrichtungen für den Ernstfall ausgestattet werden: mit Fluchtwegen, Vorräten und Werkzeugen zum Graben. „Wir haben offenbar noch immer nicht begriffen, wie viel Glück wir hatten, dass das Erdbeben an einem Samstag passiert ist. Tagsüber noch dazu“, schreibt etwa die Wochenzeitung Nepali Times, „Lessons unlearnt“ heißt der Beitrag.
Erdbeben in Nepal: Quälende Erinnerungen
„Zum Glück war es ein Samstag“, das habe ich auch von nepalesischen Freunden oft gehört. Vielen fällt es schwer, über das Erdbeben zu reden. „Erinnere mich bloß nicht daran“, sagt ein Freund, als wir auf den Jahrestag zu sprechen kommen – und wenig später sprudeln die verdrängten Bilder und Gedanken doch aus ihm heraus. Er erzählt von der Angst um seine Mutter, die er vom oberen Stockwerk ihres Hauses die Treppe hinuntergetragen hat, weil sie sich, im Schock erstarrt, nicht bewegen konnte. Bis heute sucht er das Weite, wenn eine Waschmaschine im Schleudergang läuft und den Boden in Schwingungen versetzt.
Auch der Mann, den ich liebe, hat das Erdbeben erlebt. An jenem Samstag war er im Moksh, einem Club im Herzen des Szene-Viertels Jhamsikhel, in dem später ein Konzert mit Jazzmusikschülern stattfinden sollte. „Ich bin sofort nach draußen gerannt“, erinnert er sich an die Sekunden, als alles zu wackeln begann. „Ich habe mich vor dem Moksh auf den Boden gesetzt, stehen ging nicht.“ Immer wieder gab es im Anschluss Nachbeben. Die Handynetze waren zusammengebrochen, vor Ort konnte niemand seine Familie erreichen. Hinzu kam das unerträgliche Bangen, dass das halbfertige Hotel gegenüber, ein zehnstöckiges Hochhaus, womöglich auf sie herabstürzen könnte. Nicht mal im Ansatz kann ich mir vorstellen, wie schrecklich all das gewesen sein muss.
Wird es in naher Zukunft weitere Beben in Nepal geben?
Kann sich so etwas bald wiederholen? Leider ja: Das kleine Land liegt auf der Bruchkante zwischen der Indischen und der Eurasischen Platte, mit aller Macht schiebt sich die eine unter die andere. Die Spannung, meinen Experten, habe sich 2015 vom Epizentrum, das sich 80 Kilometer nordwestlich von Kathmandu befand, nach Osten hin entladen, sodass es im Osten in naher Zukunft wohl keine starken Beben geben wird. Sorgen macht ihnen aber Nepals Westen: Auf einer Strecke von mehr als 800 Kilometern westlich der Hauptstadt staue sich der Druck seit mehr als 500 Jahren auf. Hier sei ein Beben der Stärke 8,5 in den nächsten Jahren möglich. Was das für Kathmandu bedeutet? Ich weiß es nicht, ich möchte nicht dran denken.
Mehr als 44.000 Nachbeben hat es seit dem 25. April 2015 gegeben, die Liste setzt sich sogar heute noch fort. Zwei von sechs kleineren Erdbeben habe ich wahrgenommen, seit ich in Nepal lebe. Am 18. März 2019, als ich noch keine drei Wochen in Kathmandu wohnte, stand ich vormittags im Wohnzimmer und spürte einen Ruck. Mir schoss das Bild eines LKWs in den Kopf, der dicht vor unserem Haus durch ein Schlagloch fährt. Erst später, als mein Freund mir schrieb, es habe wohl gerade ein Erdbeben gegeben, war mir alles klar.
Zuletzt ist es ausgerechnet kurz vorm Jahrestag der Katastrophe von 2015 passiert: Es war morgens, 6.29 Uhr, ich war auf dem Weg zur Arbeit, lief zügig eine Straße entlang. Körperlich habe ich diesmal nichts gespürt – wohl nicht ungewöhnlich, wenn man läuft –, aber als ich Menschen sah, die schreiend aus ihren Häusern rannten, wusste ich Bescheid. Das Beben hatte die Stärke 5,2, mein Freund ist davon aufgewacht. Zwölf Minuten später und dann noch mal am Nachmittag folgten weitere, schwächere Erschütterungen. Ebenfalls Nachbeben von damals, zum Glück immer nur kurz.
Und doch, die Antwort auf die Frage nach der Angst, sie lautet „Ja.“
Antworten
Wirklich großartig. Ich möchte da sein. Vielen Dank.
Ein sehr schöner Artikel! Danke
Hallo,
vielleicht bin ich ja schwer von Begriff, aber welche gute Auswirkung hatte nun der Samstag? An der 5‑Tage-Woche kann es doch in Nepal nicht liegen?
Danke für eine Info
Gruss
DieterHallo Hans-Dieter, ich beantworte die Frage gern: Der Samstag ist hier in Nepal als einziger Tag in der Woche kein Werktag. Die Schulen – kaum eine ist erdbebensicher gebaut und 5000 wurden bei dem Beben zerstört – waren daher zum Glück leer. Ebenso andere öffentliche Gebäude. Auch die Stadtzentren sind an einem Samstagmittag nicht so voll wie sonst. Viele Familien waren zusammen zu Hause, jüngere konnten so älteren Familienmitgliedern unmittelbar helfen, Eltern hatten ihre Kinder bei sich und sind nicht voller Sorge losgefahren oder ‑gelaufen, um sie zu suchen.
Eine tolle Gegend. Ich will dahin. Vielen Dank.
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