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Was, wenn ich den Anschlussflug verpasse? Dann verliere ich einen Tag und komme erst am Samstag an, dabei habe ich ohnehin nur fünfzehn Tage Zeit für Japan. Das ist nicht allzu viel, ich bin zum ersten Mal dort, und möchte es gut kennenlernen. Die junge Stewardess im KLM City Hopper von Hamburg nach Amsterdam hat ihren letzten Tag – sie erhält quasi ein upgrade. Wechselt in die höhere Klasse, sozusagen. Nach der Landung in Schiphol wendet sich der Pilot mit einer kurzen Danksagung an die blonde Dame, Applaus, aber das ist mir ehrlich gesagt scheißegal, denn wir sind mit vierzig Minuten Verspätung in Schiphol gelandet und mein Flug nach Tokio startet in nicht mehr als fünfzehn Minuten.
Ich renne also durch Terminal 1, mir ist übel vor Aufregung und Anspannung – Gate E21 – wo zum Geier ist es. Es braucht sicher zehn Minuten zügigen Laufens, bis ich in den richtigen Seitenarm des Terminals einbiege, und von hier reihen sich die Gates schön nummeriert von unten nach oben, also noch mehr rennen. Außer Atem biege ich um die Ecke – E21 – hinter der Glasfront die lange, mächtige kornblumenblaue B777 der KLM. Geschafft und wie mir scheint, bereits sehnsüchtig erwartet. „Sind Sie Marius?“ fragt mich sofort eine andere blonde Dame der KLM mit der Passagierliste in einem Tablet zur Hand. „Ja“. „Wow, so schnell haben wir gar nicht mit Ihnen gerechnet. Ihr Gepäck wird es nicht mehr schaffen, es fliegt morgen nach Tokio nach und wird Ihnen ins Hotel geliefert.“
Ja nun, meine Dame, in meinem großen Rucksack sind alle Klamotten, Zahnbürste, Zahnpasta, Duschzeug und sämtliche Ladekabel für Kamera, Laptop und Co. – aber was solls. In der größten Metropole der Erde werde ich sicher nicht viele Fotos machen und bestimmt nicht meine Zähne putzen wollen. – Von weit entfernt, aus einer Parallelwelt, dröhnt Sheldons Stimme: SARCASM?
An Bord des Flugzeugs ist es heiß, KLM hat die volle Dröhnung angeschmissen, wieso auch immer. Viele Japaner, aber noch mehr Niederländer, andere Europäer und ein sehr junges italienisches Pärchen, genau neben mir an den Fensterplätzen. Platz am Gang für mich, den hatte ich mir reserviert. Immerhin das rechte Bein kann ich ausstrecken. Na dann – los. Ein Langstreckenflug ist stets eine anstrengende, irgendwo surreale Erfahrung. Du selbst bist eingekeilt und zum STILLSITZEN verdonnert – während du dich in Wahrheit über Zeitzonen und Kontinente hinweg über den Globus schleudern lässt. Ich habe keinen Appetit, mein Nacken schmerzt, die trockene Luft lässt sie Nase bluten. Ich schaue mir mit „Arrival“ wenigstens einen echt guten Film an, den ich noch gar nicht kannte. Dann dösen, schlummern und noch immer fünf Stunden. Schließlich befinden wir uns wieder über Wasser und es gibt Frühstück, dann setzen wir nach 10 Stunden 40 Minuten in Tokio Narita auf.
Der Vorteil, ohne mein großes Gepäck anzukommen, wird mir er jetzt klar. Nur mit meinem Handrucksack spaziere ich an den ersten sich verbeugenden Frauen vorüber, kläre mit einer netten, hübschen und sich eeeeendlos im Namen der KLM entschuldigenden Japanerin, wann und wo mein Rucksack morgen geliefert wird und dann tausche ich meinen Gutschein von JR, meinen Japan Rail Pass, mit fünfzig anderen Touristen ein. Endlich geht es los, mit der S‑Bahn nach Asakusabashi, hinein in die größte Metropole der Welt: Tokio.
Ich hatte mit einem Schock gerechnet, mit einer völligen Überforderung, aber meine bräsige Müdigkeit ist gnädig. Natürlich sind die Häusermeere an der Bahnstrecke endlos, natürlich steigen geklonte Business Männer ein, die umstandslos in einen tiefen Schlaf fallen, sobald sie sitzen – natürlich überall japanische Schrift, ich kann nichts lesen. Aber nun gerad ist dies beruhigend, es lullt mich ein und lässt mich summend vor mich hin starren. Außerdem ist das Bahnfahren in Tokio weniger kompliziert, wenn man nur EINMAL kapiert hat, an welcher Stelle bei jedem Bahnhof auch auf Englisch steht, wo man ist. Dies und mein mitgebrachter Plan der Bahnlinien Tokios – ein buntes Netz wie von einer betrunkenen Spinne gewoben – tun ihr Übriges. Nach einer Dreiviertelstunde steige ich also in Asakusabashi aus, halte mich rechts, gehe Richtung Süden, die zweite Straße links und habe mein Hotel gefunden. Schneller, als ich oft daheim in Hamburg etwas finde.
Die Dame an der Rezeption spricht perfekt Englisch und betont, dass sie erst vor drei Wochen in Hamburg war. – Bitte? – Ja, ihre – wie sagt man noch – ihre Schwiegermutter lebt in Lübeck und von Zeit zu Zeit fliegen sie und ihr Mann zu Besuch in den Norden Deutschlands. Kleine Welt in der großen Stadt. Mein Zimmer ist nun nichts sehr Schmuckes und die Matratze etwas für Zenmönche – hart und jeden Aspekt des „Selbst“ vergessen machend – aber ich habe Privatsphäre, vier Wände um mich herum, meinen eigenen Raum; das alles ist in dieser Stadt mit den über 35 Millionen Menschen im Großraum wahrer Luxus.
Um mich erst gar nicht dem Jetlag zu beugen, breche ich sofort auf und sehe mich in der Umgebung um. Die ersten Ramen Nudeln ums Eck, meine Stäbchenfähigkeiten sind ausbaufähig, aber es geht. Dann geht es zum Tokyo Sky Tree und aus 350 Metern betrachte ich diese Megastadt und sehe – nicht viel. Dunst und Smog überall, dabei war ich bisher positiv überrascht, wie gut die Luft in den Straßen ist; nichts im Vergleich zu Kairo, Buenos Aires oder der Hallenbadluft in Singapur. Von oben nehmen die Ausmaße Tokios nahezu lächerliche Züge an, seit hunderten von Jahren wächst die Metropolregion und sie wächst weiter. Von den Hafengebieten bei Yokohama bis in Nähe des Fuji erstrecken sich Häusermeere, ein Gewirr aus Straßen, Bahngleisen, Flüssen, Kanälen, Autobahnkreuzen und überall sind Menschen. Da schlägt der Jetlag doch so langsam zu – vielleicht ist dieser Anblick zu viel für einen kleinen Norddeutschen, so kurz nach der Ankunft.
Der erste Schlaf war dringend nötig, nach dem Kaffee am Samstag geht es besser. Ich besuche die Brücke Meganebashi, die den Wassergraben um den Kaiserpalast überbrückt. Hier – hinter hohen Mauern und grünen Nadelbäumen – lebt also die kaiserliche Familie. Die japanischen Touristen um mich sind nahezu befangen, wie nah sie ihrem Kaiser sind. Mir gefällt einfach die Architektur der Brücke und wie immer finde ich die Wächter vor den Toren der Macht ein wenig surreal, ein wenig albern. So ist das halt, wenn man aus einem Land ohne Monarch kommt. Dann geht es zum Senso-Ji, einem der berühmtesten Schreine der Stadt. Massen von Menschen, die Leute erschlagen sich beinah mit ihren Selfiesticks. Der Schrein selbst höchst beeindruckend und protzend – dies wird von allen Besuchern dankend angenommen. Nachdem ich zu Fuß Richtung Osten gegangen bin, treffe ich plötzlich auf eine Frau um die dreißig, die zwei Plakate trägt, vorn und hinten. Zunächst gehe ich von einer menschlichen Werbefigur aus – davon gibt es hier in Tokio mehr als genug. Doch als ich genauer hinsehe, erkenne ich missgebildete Menschen, Hautkrebsflecken, Leichensäcke und Hinweise ohne Ende. Sie steht hier als Erinnerung, als menschliches Mahnmal an die Katastrophe und die noch überhaupt nicht abschätzbaren Folgen der Kernschmelze von Fukushima. Es ist erst sechs Jahre her und nach den Maßstäben der atomaren Strahlung ist es nichts, als sei es gerade erst passiert. Doch die japanische Regierung und ein Großteil der Bürger, die nicht in unmittelbarer Umgebung Fukushimas leben, tun sich leicht, zu verdrängen. Man kann einwenden: Was sollen sie auch tun – man kann einen Inselstaat mit 115 Millionen Einwohnern nicht einfach umsiedeln. Mag sein, doch es fällt schnell auf, wie wenig dieses hochkritische, hochgefährliche Thema in der Hauptstadt Thema ist. Gut, dass es noch Frauen wie diese gibt.
Es gibt noch ruhige Ecken in Tokio, wer hätte es gedacht. Am Meiji-Schrein ist auch viel los, und dennoch versetzen einen die Rituale der Shinto Religion mit den Kelchen zum Reinigen, den Glocken, dem Weihrauch und den Statuen in eine beruhigte Stimmung. An diesem Nachmittag findet eine Hochzeit statt, inmitten der Besucher wandern Braut und Bräutigam hinter drei Shintopriestern in Richtung Limousine. Beeindruckend, mit welcher Gelassenheit und Würde sie sich trotz der Massen, die sie ablichten (ich möchte mich dabei nicht freisprechen), über das Gelände bewegen.
Ebenfalls positiv überrascht mich der Park in Ueno, Schreine, Pagoden und die ersten torii, die orangeroten Schreintore, die ich in Japan zu Gesicht kriege. Gleich nordwestlich davon der Stadtteil Yanaka, der mit normalen Wohnstraßen und Ruhe an eine ganz andere Zeit erinnert. Durch Zufall stoße ich auf einen Friedhof und betrete ihn, neben Palmen und einem Schrein die Gräber mit Schriftzeichen auf senkrecht aufgestellten Holzschildern. Ein friedlicher Ort in all dem städtischen Chaos um mich herum.
Es folgen Fahrten nach Shibuya – zur angeblich höchstfrequentierten Fußgängerkreuzung der Welt – nach Shinjuku, der zukunftsträchtigen, modernen Region im Westen Tokios, wo es abends vor Neonreklamen und Krach elektrisiert. Die Zukunft ist hier bereits lange Gegenwart. Nur: Was kommt nach der Zukunft? Nicht nur in Shinjuku, auch in den modernen U‑Bahn-Stationen, in den Daddelhallen, in Akihabara mit seinen kilometerlangen Läden für Anime, Mangas und Videospiele, kommt es mir vor, als sei Japan in Tokio am Ende der technisch möglichen, denkbaren Fahnenstange angelangt.
Stagnation in seiner modernsten Ausprägung: Dies ist der bleibende Eindruck nach drei Tagen Tokio.
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