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Natürlich, ich hätte früher stutzig werden müssen. East Hastings Street, Vancouver. Der Taxifahrer hält vor meinem Hotel, sieht mich eindringlich an und sagt: „Wollen Sie sich vielleicht erst mal umsehen? Ich kann Sie auch anderswo hinbringen.“ Hinter mir liegen zwölf Stunden Flug und weitere drei Stunden Schlangestehen bei der Einreise am Flughafen. „Nein, nein“, winke ich ab, „alles gut, ich habe reserviert.“
Neben dem Eingang steht eine Frau, halbnackt und zerzaust, ich nehme sie aus dem Augenwinkel wahr und verdränge sie gleich wieder. Die Lobby wirkt wie aus der Zeit gefallen: Orient-Muster-Teppiche, Bücherregale, verzierte Beistelltischchen, ein Klavier in der Ecke. Alles Bohemian Style, alles uralt, aber sauber. Zwei Nächte habe ich hier gebucht, um erst einmal anzukommen, um erst einmal den Jetlag auszuschlafen, bevor ich in eine WG in einem anderen Stadtteil ziehe.
In meinem Zimmer gehe ich sofort duschen. Es ist halb zehn und draußen wird es dunkel. Ich merke, wie hungrig ich bin. Also fahre ich die vier Stockwerke hinab und laufe die Straße entlang, um schnell noch was zu essen aufzutreiben. Vor mir sehe ich einen Mann in dreckigen Sachen, er stolpert mehr vorwärts, als dass er geht, die Hose ist ihm heruntergerutscht, er fummelt fahrig am Hosenbund herum. Aus der Ferne kann ich die Straßenecke ausmachen, erkenne Pappkartons, die sich stapeln, Einkaufswagen, die den Weg versperren, dahinter seltsam gebeugt stehende Menschen, die sich kaum auf den Beinen halten können. Und jemanden, der sich am Boden krümmt. Aus dem Hungergefühl in meinem Magen ist etwas anderes geworden.
An der Ampel holt eine hagere Frau mit zitternden Fingern eine Spritze aus einer Verpackung, auf der anderen Straßenseite krempelt ein Mann mit langen, fettigen Haaren seinen Ärmel herunter, er hat die Spritze noch in der Hand und lugt unter seiner Kapuze hervor, er sieht mir direkt in die Augen. Mein Herz setzt aus, bevor es anfängt zu rasen, meine Schritte werden schneller. Ich höre Polizeisirenen.
East Hastings Street: Kanadas Drogenhochburg
Scheiße. Wo bin ich hier gelandet? In meinem Zimmer – die Suche nach Essen habe ich aufgegeben – falte ich den Stadtplan auseinander. Eine Straße weiter fängt Chinatown an, fünf Straßen weiter die Altstadt, auch nach Downtown ist es nicht weit. Die Gegend grenzt an den Stadtteil Strathcona, ich weiß, dass ein Bekannter, Rob, hier ganz in der Nähe wohnt. Ich schreibe ihm bei Facebook eine Nachricht. „Was machst Du denn in der East Hastings Street?“, antwortet er, „das ist Kanadas Drogenhochburg!“
Großartig. Alles Mögliche hatte ich ihn vor meiner Abreise über Vancouver gefragt, nur das mit dem Hotel und dessen Lage hatte ich vergessen. Kein Wunder – das Zimmer war nicht verdächtig günstig, in den Bewertungen im Internet stand, das Preis-Leistungs-Verhältnis sei gut, das Personal auskunftsfreudig und nach Downtown könne man bequem laufen. Noch dazu hätte ich mir so etwas nie vorstellen können, nicht hier, nicht in dieser Stadt, deren Name ständig fällt, wenn es um die lebenswertesten Orte der Welt geht. Ich gebe „East Hastings Street Vancouver“ bei Google ein. Rund 10.000 Drogenabhängige leben hier auf engstem Raum, lese ich, im Umlauf sind vor allem Crack und Heroin und zunehmend Crystal Meth. Die Einheimischen nennen den Alltag hier „Horror on Hastings“, es gibt Videos bei Youtube und gleich mehrere Dokumentationen, die bekannteste ist schon 15 Jahre alt, sie heißt „Through a blue lens“ und zeigt eine Gruppe von Polizisten, die sich täglich um die Drogensüchtigen im Viertel kümmern.
Rob empfiehlt mir einen Supermarkt und einen Sandwich-Laden in der Nähe und sagt zu, mich am nächsten Abend am Hotel abzuholen und wieder zurückzubringen. Bei Tageslicht fühle ich mich etwas sicherer. Und dennoch: Es ist unerträglich hier, der deprimierendste Ort, an dem ich je gewesen bin. Menschen schieben mit ein paar Habseligkeiten gefüllte Einkaufswagen vor sich her, eine Frau steckt sich eine Crackpfeife an und spricht mit sich selbst, jemand schreit. Sie alle haben faltige, wunde Gesichter, eingefallene Münder, leere Augen, sie erinnern mich an die Crystal-Meth-Nachher-Fotos, die im Internet kursieren.
Vancouvers dunkle Seite
Aber schon nach ein paar Metern ist der Spuk vorbei, plötzlich steht man inmitten der glänzenden Skyscraper-Fassaden in Downtown mit seinen sauberen Bürgersteigen oder, wenn man vorher rechts abbiegt, in den kleinen Straßen von Gastown, der hübschen Altstadt Vancouvers, die mit Blumenkübeln und Laternen gesäumt sind. Hier sitze ich später mit Rob in einem Pub und trinke Bier, und natürlich sprechen wir über die East Hastings Street. „Da leben Drogensüchtige aus ganz Kanada“, erklärt er mir, „sie kommen hierher, weil es in Vancouver vergleichsweise mild ist und man hier im Winter draußen überleben kann.“ Wir sitzen vor dem Pub, es herrschen 20 Grad. Ich schaue mich um und stelle fest, dass niemand raucht. „Weil es verboten ist, sogar draußen“, erklärt mir Rob. Auch vor Hauseingängen muss man einen Mindestabstand halten, Schilder weisen einen darauf hin. Ich schüttele den Kopf. Nur ein paar Straßen entfernt von hier spritzen sich Drogensüchtige auf offener Straße Heroin. Auch das ist Vancouver.
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