Die Luft nach oben wird dünner

Ich brau­che Luft! Um mich her­um ist es dun­kel. Vom kaput­ten Fens­ter, das wir am Abend not­dürf­tig mit einem Stück Pap­pe abge­dich­tet haben, weht mir ein eisi­ger Luft­zug ins Gesicht. Der mit getrock­ne­tem Kuh­dung beheiz­te Ofen ist schon vor Stun­den aus­ge­gan­gen. Wie­der ein­mal bin ich froh um unse­re guten Dau­nen­schlaf­sä­cke, die einer­seits so viel Platz in unse­ren Ruck­sä­cken bean­spru­chen, uns dafür aber, wenn es dar­auf ankommt, wert­vol­le Diens­te erwei­sen. Mit der Käl­te kom­me ich zurecht. Doch ich muss schleu­nigst etwas gegen mei­ne immer stär­ker wer­den­de Atem­not unter­neh­men. Das in mir auf­kei­men­de Gefühl von Beklem­mung, das mich spon­tan an einen qual­vol­len Ersti­ckungs­tod den­ken lässt, ver­setzt mich zuneh­mend in Panik. Mit jedem Atem­zug wird es schlim­mer. Ich set­ze mich auf und hole tief Luft. Mein Brust­korb hebt sich und ich kann hören, wie sich mei­ne Lun­gen mit fri­schem Sau­er­stoff fül­len. Ich erwar­te ein Gefühl der Erleich­te­rung. Doch es passiert….nichts.

Wir über­nach­ten im auf 3.747 Metern Höhe gele­ge­nen Dorf Bulun­kul. Eine der weni­gen hier leben­den Fami­li­en hat uns für die­se Nacht bei sich auf­ge­nom­men. Sie betreibt einen soge­nann­ten Homestay, in dem Rei­sen­de auf ihrem Weg durch das Pamir-Gebir­ge Unter­kunft fin­den kön­nen. Räu­me, die die Fami­lie nor­ma­ler­wei­se selbst nutzt, wer­den dafür an Tou­ris­ten ver­mie­tet. Meh­re­re Male sind wir in den ver­gan­ge­nen Tagen und Wochen auf dem Pamir High­way bereits in eben­die­sen Homestays unter­ge­kom­men. Für Über­nach­tung, Abend­essen und Früh­stück wer­den zwi­schen zehn und fünf­zehn Dol­lar pro Per­son fäl­lig. Ein will­kom­me­nes Zusatz­ein­kom­men für die Bewoh­ner einer der abge­le­gens­ten Regio­nen der Welt. Aber auch Sai­son­ge­schäft. Im Win­ter wer­den die Gebirgs­stra­ßen nicht oder nur spo­ra­disch geräumt. Dass Dör­fer dann tage- oder wochen­lang von der Außen­welt abge­schnit­ten sein kön­nen, gehört hier zum Leben dazu.

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Obwohl wir uns lang­sam ange­nä­hert haben und bereits seit mehr als zwei Wochen auf Höhen um 3.000 Meter unter­wegs sind, hat sich mein Kör­per noch nicht voll­stän­dig an die dün­ne Luft ange­passt. Tags­über ist es in der Regel kein Pro­blem; sofern ich nicht gera­de im Dau­er­lauf unter­wegs bin, oder einen stei­len Berg­hang nach oben kra­xeln will, fällt mir der Unter­schied kaum auf. Doch beim Schla­fen, wenn der Kör­per zur Ruhe kommt, wenn Atmung und Puls lang­sam und gleich­mä­ßig wer­den, reicht der Sau­er­stoff­ge­halt der Luft nicht aus, um mei­nen Kör­per voll­stän­dig und befrie­di­gend mit Ener­gie zu ver­sor­gen. Diver­se Male bin ich in den ver­gan­ge­nen Näch­ten bereits mit einem beklem­men­den Gefühl ein­set­zen­der Atem­not auf­ge­wacht, das sich nur schwer lin­dern lässt.

Eini­ge Minu­ten und vie­le tie­fe, bewuss­te Atem­zü­ge spä­ter, geht es mir bes­ser. Doch sofort wie­der ein­schla­fen kann ich nicht. Beim gemüt­li­chen Abend­essen, für das die Frau des Hau­ses fri­schen Fisch aus dem nahe­ge­le­ge­nen See zube­rei­tet hat, habe ich wohl die ein oder ande­re Tas­se Tee zu viel getrun­ken. Die Bla­se drückt, ich muss auf die Toi­let­te. Nor­ma­ler­wei­se kei­ne gro­ße Sache, hier in Bulun­kul jedoch schon. Begibt man sich in Deutsch­land ganz ein­fach ins Bade­zim­mer neben­an, so ist es hier anders. Im tra­di­tio­nel­len Pamir­haus ist die Toi­let­te oft nicht Teil des Gebäu­des, son­dern steht etwas abseits in Hof oder Gar­ten. Ein stil­les Ört­chen. Meis­tens zumin­dest.

Eine Kana­li­sa­ti­on oder Was­ser­spü­lung sucht man hier abseits der Pro­vinz­haupt­städ­te ver­ge­bens. Statt­des­sen wird ein klei­nes Häus­chen auf eine Sicker­gru­be gesetzt – fer­tig. Ist die Gru­be voll, wird sie ver­schlos­sen und die Toi­let­te an einem ande­ren Ort wie­der­auf­ge­baut. Hin­set­zen ist nicht. Das Geschäft wird im Hocken ver­rich­tet und erfor­dert eini­ges an Ziel­ge­nau­ig­keit, um das in den Holz­bo­den gesäg­te Loch nicht zu ver­feh­len. Das wäre unschön. Beglei­tet vom gleich­mä­ßi­gen Sum­men nim­mer­mü­der Flie­gen und einem ein­schlä­gi­gen Geruch, ist man geneigt, sei­nen Auf­ent­halt hier so kurz wie mög­lich zu gestal­ten.

An die­ser Stel­le ein klei­ner Exkurs in Sachen Klo­pa­pier (hat so oder so ähn­lich für Groß­tei­le Zen­tral­asi­ens Gül­tig­keit):

- Es ist rat­sam, stets eine Not­fall­rol­le eige­nen Toi­let­ten­pa­piers mit­zu­füh­ren.

- Nicht immer ist letz­te­res vor­han­den und kann im schlimms­ten Fall auch nicht zeit­nah beschafft wer­den.

- Klo­pa­pier ist in länd­li­chen Gebie­ten eher ein Luxus­ar­ti­kel. Ein ver­schwen­de­ri­scher Umgang damit ist nicht ger­ne gese­hen.

- Das Papier darf nach Benut­zung auf kei­nen Fall in die Toilette/​Sickergrube gewor­fen wer­den (Ver­stop­fungs­ge­fahr). Statt­des­sen ab damit in den bereit­ste­hen­den Eimer. Wird spä­ter ver­brannt bzw. in Städ­ten im Rest­müll ent­sorgt.

- Das Wort „Recy­cling-Papier“ erhält hier eine ganz neue Bedeu­tung: Uns sind drei Här­te­gra­de begeg­net, die – spe­zi­ell bei Här­te­grad III – an eine Mischung aus Schmir­gel­pa­pier und Schwei­zer Käse erin­nern. Daher emp­fiehlt es sich, das Papier zu fal­ten. Mit jedem Mal Fal­ten ver­rin­gert sich die Wahr­schein­lich­keit, dass zwei der oft fin­ger­ab­druck­gro­ßen Löcher direkt über­ein­an­der­lie­gen.

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Zurück zu mir, zurück zu mei­nem Ent­schluss, mei­nen gemüt­li­chen war­men Schlaf­sack mit­ten in der Nacht zu ver­las­sen, um das oben beschrie­be­ne Toi­let­ten­häus­chen auf­zu­su­chen. Da es bestimmt kalt wird, zie­he ich mir einen Pull­over über. Mit der Stirn­lam­pe in der Hand suche ich den Weg nach drau­ßen. In die­sem Homestay sind wir in einem Sei­ten­trakt des Gebäu­des unter­ge­bracht. Bis zur Haus­tü­re muss ich zwei Durch­gangs­zim­mer pas­sie­ren. „Hof­fent­lich ist nicht abge­schlos­sen!“ Ich habe Glück. Als ich gera­de vor die Haus­tü­re tre­ten will, huscht wie von der Taran­tel gesto­chen etwas an mir vor­bei ins Haus. Ich fol­ge dem Etwas mit dem Licht­strahl mei­ner Taschen­lam­pe und erken­ne gera­de noch, wie eine Kat­ze um die Ecke des angren­zen­den Zim­mers biegt. Das darf doch nicht wahr sein! Die Her­bergs­mut­ter hat­te uns extra gebe­ten, die Kat­ze nicht ins Haus zu las­sen.

Doch dar­um küm­me­re ich mich spä­ter. Zuerst mache ich mich auf den Weg Rich­tung Toi­let­te. Ein eisi­ger Wind pfeift mir ins Gesicht. Der Nacht­him­mel ist ster­nen­klar, die fri­sche Berg­luft klir­rend kalt. Sel­ten habe ich einen so schö­nen Ster­nen­him­mel gese­hen, wie hier im Pamir-Gebir­ge. Weit weg von jeg­li­cher städ­ti­schen Zivi­li­sa­ti­on, weit weg von Autos, Lärm und Stra­ßen­be­leuch­tung. Hier gibt es schein­bar nichts und doch gleich­zei­tig alles. Zumin­dest in die­sem Moment. Kein Strom, kein Inter­net, kein flie­ßend Was­ser und auch kei­nen Super­markt. Dafür Stil­le, Ein­sam­keit, intak­te Natur und einen unglaub­lich schö­nen Blick in den Him­mel, des­sen Ster­ne ich am liebs­ten stun­den­lang beob­ach­ten wür­de – wenn es nur nicht so ver­dammt kalt wäre.

Auf mei­nem Rück­weg zum Haus kom­me ich am Wasch­raum vor­bei, in dem wir uns am Abend mit Hil­fe einer soge­nann­ten „Bucket show­er“ erfri­schen durf­ten. Eine Dusche, wie wir sie von daheim ken­nen, gibt es hier fast nir­gends. Oft besteht die ein­zi­ge Mög­lich­keit zur Kör­per­pfle­ge aus einem ein­fa­chen Wasch­be­cken, des­sen Was­ser­hahn von einem klei­nen 5‑Li­ter-Behäl­ter mit zuvor ein­ge­füll­tem Was­ser gespeist wird. Daher freu­ten wir uns über die hier vor­han­de­ne Eimer­du­sche umso mehr. End­lich konn­ten wir mal wie­der mehr als nur unser Gesicht rei­ni­gen. Dafür misch­ten wir hei­ßes Was­ser aus einem Fass mit kal­tem aus dem Was­ser­hahn dane­ben. Dann ab damit in den Kanis­ter an der Decke – fer­tig!

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Zurück im Haus erin­ne­re ich mich an die Kat­ze. Wo ist das blö­de Viech nur? Mir ist kalt und ich will wie­der ins Bett. Mit mei­ner Lam­pe leuch­te ich in die Ecken des Haus­flurs, hin­ter die Türe, unter den Schrank. Doch es ist nichts zu sehen. Ich arbei­te mich ins nächs­te Zim­mer vor, doch auch hier habe ich kei­nen Erfolg. „Hof­fent­lich hält man mich nicht für einen Ein­bre­cher, wenn ich mit­ten in der Nacht alle Win­kel des Hau­ses durch­stö­be­re!“ Ich suche wei­ter und rech­ne jeden Augen­blick damit, dass sich die Fami­lie nach dem Anlass mei­nes nächt­li­chen Trei­bens erkun­digt. Doch zum Glück bleibt alles ruhig. Wo die Kat­ze wohl abge­blie­ben sein mag? Augen­bli­cke spä­ter been­de ich die Such­ak­ti­on erfolg­los und bege­be mich zurück in unser Zim­mer.

Nach­dem ich es mir im Schlaf­sack gemüt­lich gemacht habe, leuch­te ich noch kurz hin­über zu Leo, die von Such­ak­ti­on, knar­zen­den Türen und mei­ner vor­an­ge­gan­ge­nen „Nah­tod­erfah­rung“ 😉 über­haupt nichts mit­be­kom­men hat. Sie schlum­mert fried­lich vor sich hin, doch direkt neben ihrem Kopf leuch­tet mir ein grü­nes Augen­paar ent­ge­gen. „Das gibt’s doch nicht!“ Nach­dem ich die Kat­ze im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes vor die Türe gesetzt habe, kann auch ich wei­ter­schla­fen.

***

Den nächs­ten Tag nut­zen wir für einen Aus­flug zum nahe­ge­le­ge­nen Jaschil­kul-See. Vor­bei an Yaks, Kühen und Eseln wan­dern wir zu einer Jur­te, die den Ein­gang zum Natio­nal­park mar­kiert. Eigent­lich müss­ten wir hier Ein­tritt bezah­len, doch es ist weit und breit nie­mand zu sehen. Nach knapp zwei Stun­den Fuß­marsch durch eine raue Land­schaft aus Ber­gen, klei­nen Seen und fla­chem Wei­de­land kom­men wir an unse­rem Ziel an. Der von beein­dru­cken­den Ber­gen ein­ge­fass­te Jaschil­kul-See liegt vor uns. Trotz des küh­len Win­des machen wir hier Mit­tags­pau­se. Es gibt Brot, Kek­se, Äpfel und eine Dose Sprot­ten, die wir in einem der spär­lich bestück­ten klei­nen Geschäf­te auf dem Pamir High­way gefun­den haben.

Auf dem Rück­weg tref­fen wir einen Mann, der in Beglei­tung zwei­er Jungs an einem klei­nen Bach Fische angelt. Und das mit über­ra­schend gro­ßem Erfolg! Neben ihnen steht ein fast voll­stän­dig mit Fischen gefüll­ter Eimer. Ein Stück wei­ter tref­fen wir auf eine Grup­pe Frau­en, die im Bach die Wäsche der Fami­lie wäscht. Wei­ter hin­ten treibt ein jun­ger Mann eine Her­de Scha­fe zusam­men. Vor den Häu­sern beob­ach­ten wir ein Mäd­chen, das gera­de mit zwei Eimern Was­ser vom Dorf­brun­nen zurück­kommt.

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Wie es wohl sein mag, hier zu leben? Im Som­mer wirkt die­ses Leben auf uns fried­lich, ein­fach, lang­sam, roman­tisch. Doch wie mag es im Win­ter aus­se­hen? Bei meter­ho­hem Schnee, Tem­pe­ra­tu­ren weit unter dem Gefrier­punkt, abge­schnit­ten von der Außen­welt? Hier kann man nicht ein­fach in den Laden um die Ecke gehen und kau­fen, wonach einem gera­de ist. Und mal eben in den Urlaub abdü­sen oder gar eine Aus­zeit neh­men ist auch nicht. Die hier leben­den Men­schen müs­sen den kur­zen Som­mer nut­zen, um für die Win­ter­mo­na­te vor­zu­sor­gen. Kar­tof­feln anbau­en, sich dar­um küm­mern, dass das lie­be Vieh kräf­tig und gesund ist.

Obwohl wir fast einen Monat auf dem Pamir High­way unter­wegs sind, erhal­ten wir nur einen klei­nen Ein­blick in den All­tag der Men­schen hier. Wir erle­ben nur einen Aus­schnitt aus einem Leben, das es in Deutsch­land so seit vie­len Jahr­zehn­ten nicht mehr gibt. Ich bin dank­bar, dass wir die­se Chan­ce erhal­ten haben und uns unser Weg unge­plan­ter­wei­se nach Tadschi­ki­stan geführt hat. Der Pamir High­way – in vie­ler­lei Hin­sicht ein High­light unse­rer bis­he­ri­gen Rei­se. Die Luft nach oben wird dün­ner…

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Antworten

  1. Avatar von Ursula Neumann
    Ursula Neumann

    Hal­lo ihr bei­den,
    Vie­len Dank für euren inter­es­san­ten Blog. Mein Freund und ich waren selbst vor kur­zen auf dem Pamir High­way unter­wegs und haben noch ca. 40€ in Somo­ni, die wir lei­der in Kir­gi­si­stan nicht mehr ein­tau­schen konn­ten.
    Weißt ihr was man damit an bes­ten machen kann?
    Vie­le Grü­ße Ulla

    1. Avatar von Leo Sibeth & Sebastian Ohlert

      Lie­be Ulla,

      dan­ke für dei­nen Kom­men­tar. Da unse­re Rei­se auf dem Pamir High­way mitt­ler­wei­le schon mehr als 2 Jah­re zurück­liegt, wis­sen wir lei­der nicht mehr genau, wo und wie wir unse­re rest­li­chen Somo­ni umge­tauscht haben. Nor­ma­ler­wei­se ver­su­chen wir, das direkt an der Gren­ze zum Nach­bar­land zu erle­di­gen. Da wir uns schon vor­her über den aktu­el­len Wech­sel­kurs infor­mie­ren, klappt das meis­tens ganz gut.

      Ver­such doch, das Geld mit ande­ren Rei­sen­den zu tau­schen, die bald nach Tadschi­ki­stan fah­ren. Das hat bei uns auch schon funk­tio­niert.

      Viel Erfolg und bes­te Grü­ße aus der­zeit Cos­ta Rica
      Sebas­ti­an und Leo

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