Dein Warenkorb ist gerade leer!
Einen matschigen Dezember lang trug ich den 1300-Seiten schweren Roman in einem Rucksack mit mir herum, um ihn überall und jederzeit weiterlesen zu können. Blätterte die Seiten in den Berliner U‑Bahnen, in den Zügen quer durch Deutschland und auf der Couch zuhause. Nach der Hälfte wusste ich: Ich wollte nach Georgien reisen. Nach der letzten Seite gab ich Nino Haratischwilis Das achte Leben meinem Freund weiter. Das Jahr darauf flogen wir nach Kutaissi.
Kutaissi
Kühe stehen unter den Dächern verlassener Tankstellen und heben kaum den Kopf, als wir vom Flughafen nach Kutaissi fahren. Ganz anders wir. Wir schauen, sammeln Eindrücke. Lkws, Ladas und andere Autos, die das Lenkgrad je nach Hersteller auf der rechten oder linken Seite haben, rattern die kopfsteingepflasterte Gelati St. entlang, zum Kolchischen Brunnen mit den Tierfiguren, zum Zentralpark Boulevard. Wir schlendern, wir essen Khachapuri, Auberginenröllchen, Spinat-Rote-Beete-Kügelchen. Trinken Weine, die hier Saperavi und Mukuzani heißen. Bewundern die verschnörkelten Tore und versuchen, in die Gärten mit den Obstbäumen dahinter zu spähen. Es riecht nach den Sommerferien bei meinen Großeltern.
Abends tummeln sich kleine Kinder, Jugendliche und Familien auf den Straßen, als wäre es Wochenende und nicht Montag. Bei den georgischen Mädchen denke ich an Die langen hellen Tage, den Film, den ich fand, als ich eigentlich das Buch Die hellen Tage von Zsuzsa Bánk bei Google suchte; der Film war meine erste georgische Kostprobe, erzählt die Geschichte von zwei Mädchen, die sich gegen die Jungs behaupten in blaugrauen Farbtönen, die in der Zeit der georgischen Unabhängigkeit erwachsen werden. Er machte mich neugierig auf das Land.
Die Uroma unserer Unterkunft spricht nur georgisch und russisch. Lächeln wird unsere Sprache, und danke: Madloba. Ihre Tochter Maria spricht deutsch.
„Ich liebe deutsche Literatur, deswegen habe ich deutsch in der Schule gelernt“, erzählt Maria. Ihr Schwiegervater habe seine Doktorarbeit über Hans Fallada geschrieben, und ich bin erstaunt, dass nach Russisch Deutsch und nicht Englisch kommt.
Der Zug holpert vom verlassen wirkenden Rioni-Bahnhof nach Kobuleti Richtung Schwarzes Meer.
Die Berge erscheinen immer wie eine Überraschung, wie etwas Vergessenes. Manchmal ist unklar, was Wolken und was Berge sind. Im Süden der Kleine, im Norden der Große Kaukasus. Das georgische Tal liegt dazwischen, wird sanft festgehalten.
Schwarzes Meer
Das Schwarze Meer ist so grau wie die dicken Wolken, die hinter den Hügeln von Kobuleti hängen bleiben, dann so grün wie der Stein meines Ringes, wenn ich darin schwimme, und so blau wie der Himmel mit hohem Horizont, wenn wir vom vierten Stock des Hotels durch die Bäume gen Westen schauen.
In der Ferne gen Süden taucht die Skyline von Batumi schemenhaft auf, wie eine Fata Morgana, wie eine Kamelherde mit Höckern so hoch wie Häuser.
Es ist sehr schön am Schwarzen Meer, und doch könnte man meinen, wir sind zur falschen Zeit hier.
Kobuleti war ein sehr beliebtes Urlaubsziel zu Zeiten der Sowjetunion. Übrig geblieben sind verfallene, prachtvolle Gebäude in erster Reihe am Meer. Sie wirken romantisch verloren, Pflanzen schlagen darin Wurzeln. Manche stehen den Hotels in der zweiten Reihe im Weg, die Kobuleti wieder zu einem beliebten Urlaubszeit der heutigen Zeit machen möchten.
Auch scheint im Juni noch Nebensaison zu sein. Nur wenige Restaurants haben geöffnet. In den Läden dazwischen hängen Getränketafeln, die Regale und die Theke sind leer. Es wird gebaut wie überall in Georgien, Bänke weiß gestrichen, Regale gehämmert, Stühle zusammengesetzt. Selbst die Rettungsschwimmer kommen nur am Wochenende, legen sich unter die Seebrücke, ziehen die roten Mützen ins Gesicht und schlafen.
Mit der Marshrutka fahren wir nach Batumi, durch Hügel so grün wie Teeanbaugebiete, die es hier tatsächlich zu Sowjetzeiten gab. Was für eine zusammengewürfelte Stadt. Sie hat Kutaissi den Rang der zweitgrößten Stadt abgelaufen. Kuriose Hochhäuser, an denen das georgische Alphabet emporklettert und an denen eine goldene Gondel wie eine Uhr mit Zeigern hängt, treffen auf Kirchen aller Art, Kasinos an jeder Ecke, eine lange Strandpromenade und auf eine Altstadt mit bunten Häusern.
Die Stadt war lange das Tor zu Europa. Aus Asien wurde Waren über diesen Hafen gen Westen exportiert, und ab 1883 hauptsächlich Öl aus Baku. Während der ersten Georgischen Republik flüchteten hunderte von Menschen gen Westen. Heutzutage schlendern Touristen und Glücksspieler aus aller Welt durch Batumi.
Mittendrin steht die Statue von Ali und Nino. Der gleichnamige Roman ist eine Liebesgeschichte, die in Georgien, Aserbaidschan und Iran spielt, die von dem Spagat zwischen Ost und West, zwischen Asien und Europa, zwischen all den Religionen und Kulturen erzählt, aber auch von der Liebe, dem Warten, dem Verzeihen.
Tbilisi
Der Taxifahrer fährt uns die lange, breite Shota Rustaveli Ave entlang und windet sich nach dem goldenen Georg auf seinem Pferd hoch in die Hügel, ein Dach aus Blättern über uns, das alles in ein frisches, grüngetöntes Licht tauchen.
Manchmal mag ich eine Stadt sofort.
Noch höher, über den Dächern im 5. Stock, ist unsere Unterkunft. Im Innenhof kreuzen sich Leinen und Drähte, darunter zwei Fassaden Holzgallerien. Gardinen wehen aus den langen Fenstern, man kann dem Alltag der anderen zuhören.
Jeden Tag bei schönem Wetter findet der Dry Bridge Market statt. Jeden Tag legen die Händler ihre Kameras, Uhren, Tassen, Gläser, Schmuckstücke, Schalen und Vasen (bei denen man vermutet, sie seien aus Indien), Messer, sowjetische Sporturkunden, Flaggen und russische Bücher aus. Das russische sehe ich viel, das georgische suche ich. Erschöpft von so viel Ware, auch fasziniert, und womöglich auch gehemmt – wieso etwas Sowjetisches kaufen, wenn die Familie noch in der DDR einen Ausreiseantrag gestellt hatte und nach dem Mauerfall sofort in den Westen rüber ist? – machen wir ein paar Fotos und laufen weiter.
Abends bei zwei Arten von Gulasch, einem mit Walnusssoße, dem anderen mit Tomaten-Koriander, und einer Flasche Rkaziteli im Hinterhofrestaurant Ezo reden wir über die DDR und unsere Eltern.
Warum wollten deine rüber?, fragt er mich.
Der Freiheit wegen, sage ich. Damit sie nicht wieder wie im Urlaub in Rumänien am Ufer der Donau stehen und nicht auf die andere Seite dürfen.
Zwei Wochen nach dem Mauerfall im November 1989 reisten wir rüber. Ich war zweieinhalb Jahre alt. Wir zogen dorthin, wo die Donau beginnt.
Später gehen wir doch noch einmal zum Dry Bridge Market und kaufen eine Fed 2 für die Weiterreise und die Erinnerung. Inspiriert von den georgischen Fotografien in der Galeria Fotografia. Und von den Gesprächen über damals, als unsere Eltern noch jünger waren als wir es jetzt sind, und eine Zeit und ein Land hinter sich ließen.
In Tbilisi gibt es die Touristenstraßen wie die Kote Afkhazi St, Brücken wie die Friedensbrücke, Plätze wie vor den Schwefelbädern, wo uns ständig Flyer von Flussfahrten und Georgientouren angepriesen werden, wo die restaurierten Balkons durch ihre satten Farben unecht wirken, wo mir das Gefühl für die Stadt fehlt.
Dann gibt es die kleineren Straßen wie die Betlemi St und den Balkonaufgang aus bunten Glas in der Gallery 27, oder die Gia Abesadze St, wo Putz bröckelt, Balkons blättern, wo alles schon jahrzehntealt und ungesehen – nein, unbeobachtet wirkt, wo es ruhig und staubig ist und Pfeiler ganze Häuserwände stützen.
Abends essen wir Khinkali in einem Kellerrestaurant. Die Männer am Nebentisch zeigen uns, wie wir es richtig machen sollen: den Stumpf mit den Händen halten, Pfeffer drauf, reinbeißen. Drinnen ist Brühe und Fleisch. Schmeckt ein bisschen wie Maultaschen.
Vor Jahren habe ich ein Bild vom Schriftstellerhaus gesehen. Es muss 2012 gewesen sein, als ich jeden Tag die Süddeutsche Zeitung in Vorbereitung auf Vorstellungsgespräche las. Ich war gerade aus Australien zurückgekommen und suchte ein Redaktionsvolontariat. Draußen schneite es ohne Unterlass und die Temperaturen fielen auf ‑20 Grad. Mir war ständig kalt, meine Haut noch sonnengebräunt. Ich sah dieses Foto von einem Garten in einem fremden Land, wo Schriftsteller wohnten, und speicherte es in als Rückzugsort in meinem Hinterkopf ab.
Wir sitzen im Garten des Schriftstellerhauses, als es mir wieder einfällt, mit der Sonne auf dem Liter Zitronenminzlimonade, den Blumen, der Fed 2. An der Mauer hängen Bilder vom Inneren des Hauses. Es ist ist Juni, warm, ruhig. Das Bild aus der Zeitung ist schemenhaft in der Erinnerung. Saßen Leute an dem runden Tisch in der Mitte, auf der kleinen Plattform? Ich weiß nicht, ob ich das Bild wiedererkenne, aber es gefällt mir. Das war Georgien zuerst für mich, dieser Garten, diese Poesie.
Udabno
Die Landschaft wird hügelig und weich, als wir aus der Tbilisi herausfahren. Udabno bedeutet Wüste, es ist der Ort, zu dem wir wollen.
Im goldenen Spätnachmittagslicht laufen wir auf einer Allradfahrzeugspur in die Halbwüste hinein, und sobald die Strommasten hinter uns sind, wirkt das Land ganz weit. Ist die Mongolei vielleicht so, voller Steppenhügel? Kühe grasen neben Ruinen, behausen leer stehende Häuser. In anderen wird Heu gelagert.
„Die Häuser kann man hier günstig kaufen,“ hatte einer der Besitzer des Oasis Clubs gesagt. Das Hostel und Restaurant ist das bunte Zentrum des Dorfes, wo Minibusse und Touren auf dem Weg zum David Garescha-Höhlenkloster anhalten, um zu essen, zu trinken, zu singen. Oder zu schlafen, wie wir. „Aber sie hübsch zu machen ist schwierig.“ Hier wird es kaum Arbeiter oder Material geben.
Nach einem Erdrutsch Anfang der 1990er Jahre wurden die Svans aus den Bergen hierhergebracht – gelockt mit günstigen Grundstückpreisen. Die Bergmenschen in der Halbwüste. Was für ein Gedanke.
Über riesige Löcher in der Mitte der Straße holpern wir zum Höhlenkloster David Garedscha. Laufen den Berg hinauf, noch ganz alleine am Morgen. Von oben, wo die Grenze verläuft, haben wir einen herrlichen Ausblick auf das weite, trockene Land von Aserbaidschan. Je länger wir auf die Wüste starren, desto mehr sehen wir. In einem Eck ist ein See, und weiße Pfähle im Tal ziehen eine Linie, die Grenze zum Niemandsland. Ein Satz aus Ali und Nino fällt mir ein: »Vielleicht gibt es nur eine richtige Einteilung der Menschen: In Wald- und Wüstenmenschen.«
Die andere Grenze, wie abgebrochene Pfeiler eines Geländers, verläuft entlang der Höhlen aus dem 9. Jahrhundert. Wir machen einen Schritt auf aserbaidschanischer Seite, einen Schritt auf georgischer Seite. Soldaten aus Georgien und Aserbaidschan beobachten uns, lassen den russischen Mann nach uns nicht durch. Die Höhlen sind beeindruckend, so weit oben in Stein geschlagen. Manche haben Einkerbungen, als könne man Bücher ablegen. In den hinteren Höhlen befinden sich Fresken, erstaunlich bunt.
Wir bleiben noch eine weitere Nacht in Udabno. Die Wüste geleitet zu bleiben. Abends spielten die Jugendlichen im Oasis Club svanetische Musik. Bei einem nächtlichen Spaziergang durch das Dorf liegen die Kühe vor den Häusern wie Hunde auf der Fußmatte und schlafen.
Kazbegi
Abwechselnd tauchen der Kazbek und die Gergeti-Dreifaltigkeitskirche auf, dann verschwinden sie wieder hinter den Wolken, als wäre es ein Theaterstück mit Wolkenvorhängen. Jedes Mal, wenn wir aus dem Fenster schauen, hat sich das Bild verändert. Der Schatten der Kirche, die weißen Schneeflecken des Kazbeks bleiben an Ort und Stelle. Sie sind die Kulisse des Großen Kaukasus, das Postkartenmotiv von Georgien.
Am Vormittag wandern wir hinauf zur Bergkulisse durch Stepanzminda und den Wald. Als es oben zu regnen beginnt, stellen sich die einen im Glockenturm, die anderen im Nebenraum der Kirche unter, wo die Wickelröcke für die Frauen bereit liegen. Als Frau sind selbst lange Hosen in der Kirche untersagt. Jahrhundertelang lag hier das Weinrebenkreuz der heiligen Nino. Gebaut wurde die Kirche von 1318 bis 1346 auf dem 2170 Meter hohen Kvemi Mta.
An diesem und anderen verregneten Nachmittagen in Georgien lese ich mich näher: Das Birnenfeld von Nana Ekvtimishvili, Am Schwarzen Meer von Kéthévane Davrichewy, Die vergessene Mitte der Welt von Stephan Wackwitz. Und östlicher: Ali und Nino von Edward Said.
Am nächsten Tag laufen wir in das Tulso-Tal hinein. Die Löcher auf der Straße sind groß und voller Wasser. Wir lassen das Auto stehen, ein Allradfahrzeug wäre gut gewesen. Ein Reiter überholt uns im wilden Galopp. Ein Mann im schwarzen Gewand schaut aus seinem Trailer hinaus. In dem verfallenen Dorf wohnt schon lange niemand mehr. Zur Grenze von Südoessetien ist es nicht weit. Russland bewacht das Land, um das Georgien im Fünftagekrieg 2008 erfolglos und stark verwundet kämpfte. Tritt man hinüber, darf man nicht mehr nach Georgien. Wir haben vorsichtshalber die Reisepässe im Rucksack.
Die Berge rücken näher, als wir die Brücke überqueren. Die herabgefallenen Steinplatten sehen aus wie Holz. Das Wasser ist rot vor Schwefel.
Es regnet, als wir zur russischen Grenze losfahren. Die Berge berühren sich fast. Wir fühlen uns ganz klein im Tal auf der Straße, die sich an den Bergen entlang schlängelt. Fahren durch einen dunklen, unbeleuchteten Tunnel. Die Grenzlichter leuchten zwischen dem Regen und den Bergen. Was für ein dramatischer Grenzübergang. Kurz lockt die Idee, den langen Weg nach Hause zu fahren. Doch wir kehren um. Haben kein Visum, keine Einladung nach Russland, müssen das Mietauto wieder in Tbilisi abgeben. Und möchten noch länger in Georgien bleiben, fahren bald vorbei am Denkmal der Georgisch-Russischen Freundschaft die Georgische Heerstraße hinunter.
Ananuri
Be my guest, ruft uns unsere Gastgeberin aus ihrem schwarzen Allradfahrzeug vor der Kirche in Ananuri zu, und wir folgen ihr in ihr schönes Haus. Während sie türkischen Kaffee auf dem Gasherd aufkochen lässt und wir durch das Küchenfenster auf den Zhinvali-Stausee schauen, der so kanadisch und gar nicht künstlich aussieht, erzählt sie mir in kurzen, englischen Sätzen von ihrer 14-jährigen Tochter von anderen Leuten aus Tbilisi, die hier Häuser besitzen. Trotzdem ist wenig los. Der kleine Laden ums Eck ist manchmal geöffnet, im See hinter der Kirche baden eine Handvoll Leute. An jedem dritten Haus wird gebaut. Vielleicht ist hier bald mehr los. Wir genießen die Ruhe in der Hängematte.
Kutaissi
Wir begeben uns auf den Rückweg. Der Zug Nr. 18 von Tbilisi nach Kutaissi ist langsam, braucht 5 Stunden für 200 Kilometer. Der Zug macht Raucherpausen, Umkopplungspausen. Und ist doch – oder deswegen – pünktlich auf die Minute.
Noch ein letztes Mal Tomaten-Gurken Salat, Auberginen-Walnuss-Paste, Ostri und Mukuzani-Wein im Papavero, wo wir draußen sitzen bleiben. Vom Spätnachmittagslicht bis zur blauen Stunde und zur Dunkelheit reden wir über unsere drei Wochen in Georgien, wie man das so macht an letzten Abenden, solange man noch in der Magie des Ortes weilt.
Schreibe einen Kommentar