Die Insel, die Godzilla schluckte

Insel Oshima vom Festland (Präfektur Chiba)

War­um Tōkyō auch im Meer liegt: Mein Ziel ist Ōshi­ma, die größ­te der Izu-Inseln, 350 Kilo­me­ter süd­lich der Haupt­stadt Japans.

In Japans Haupt­stadt ken­ne ich nur zwei Strän­de, bei­de sind von Men­schen gemacht. Sie lie­gen auf der künst­li­chen Insel Odai­ba in der Bucht von Tōkyō und bie­ten einen spek­ta­ku­lä­ren Blick auf die Sky­line, mit der bunt ange­strahl­ten Rain­bow Bridge. Baden ist dort ver­bo­ten. Möch­te man zu einem ech­ten Strand, und das möch­te ich, muss man zu einer Insel rei­sen. 

Bis zu 350 Kilo­me­ter süd­lich ver­läuft die Izu-Insel­grup­pe im Meer, sie gehört admi­nis­tra­tiv zu Tōkyō. Reist man mit dem Boot noch wei­ter, gelangt man zu den Ogas­a­wa­ra Inseln, unge­fähr 1.000 Kilo­me­ter süd­lich der Stadt. Auch sie sind noch Tōkyō und wer­den von der Stadt ver­wal­tet. Die Rei­se dort­hin dau­ert 24 Stun­den mit dem Schnell­boot, eine Flug­ver­bin­dung gibt es nicht. Der süd­lichs­te Punkt Japans ist bei Oki­no­to­rishi­ma erreicht, einem Koral­len­riff, das näher zu Tai­wan und den Phil­ip­pi­nen ist, als der Bucht von Tōkyō, wo die Rei­se beginnt. Das wei­test­ge­hend unter­mee­ri­sche Atoll beher­bergt eine For­schungs­sta­ti­on aus Beton und bean­sprucht damit prak­ti­scher­wei­se das Meer in einem 370 Kilo­me­ter Radi­us für Japan. Die zwei Fel­sen hier, die weni­ger als einen Meter aus dem Was­ser ragen und 1.733 Kilo­me­ter vom Rat­haus der Metro­po­le ent­fernt lie­gen, sind, man ahnt es, eben­falls Tōkyō. Die Stadt ist immens.

Ganz so weit möch­te ich nicht rei­sen. Mein Ziel ist Ōshi­ma, die ers­te und mit einer Flä­che von 90 Qua­drat­ki­lo­me­tern die größ­te der Izu-Inseln. Ich woh­ne im Nor­den von Tōkyō, daher buche ich mir ein “Zim­mer” in einem Kap­sel­ho­tel in der Nähe des Hafens, um eine der vie­len täg­li­chen Fäh­ren nach Ōshi­ma am nächs­ten Mor­gen zu erwi­schen. Auf acht Stock­wer­ken sta­peln sich hier jeweils zwi­schen 50 und 80 Kojen, die einen Meter hoch, einen Meter breit und cir­ca zwei Meter lang sind. Ein klei­ner Röh­ren­fern­se­her ist fest in die Decke der Kap­sel ein­ge­baut und ein Vor­hang schützt vor frem­den Bli­cken – nicht aber vor schnar­chen­den Men­schen. Wand­far­be und Innen­ein­rich­tung sind auf rei­ne Funk­tio­na­li­tät redu­ziert, kaum jemand wird hier wohl einen gan­zen Urlaub ver­brin­gen. Im Gang vor den Kap­seln öff­ne ich eines der Fens­ter. Die Fin­ger­spit­zen mei­ner Hand kön­nen fast das Nach­bar­ge­bäu­de berüh­ren, so nah ist hier gebaut.

Die Nacht wird kurz, weil ich die ers­te Fäh­re am Mor­gen neh­men möch­te. Als letz­te Akti­on vorm Schla­fen will ich den Akku mei­ner Kame­ra auf­la­den. Die ein­zi­gen funk­tio­nie­ren­den Steck­do­sen hier im vier­ten Stock schei­nen sich beim Auf­zug zu befin­den, neben einem klei­nen Tisch, an dem zwei jun­ge Män­ner Poker spie­len. Der eine mit blas­ser Glat­ze und blau­en Augen, der ande­re mit dich­tem blon­dem Haar. Beim Ein­stöp­seln sto­ße ich ihre Kar­ten vom wack­li­gen Tisch. Die Jungs lächeln nur und wün­schen mir eine gute Nacht. 

Am nächs­ten Mor­gen ren­ne ich zum Hafen, stän­dig geht mein Blick auf die Uhr. Ganz so nah bei der Fäh­re ist das Hotel dann irgend­wie doch nicht. Um 7:26 Uhr bin ich als Letz­ter im Boot, drei Minu­ten spä­ter legen wir schon ab. Die Fäh­re ist kaum gefüllt, viel­leicht liegt das an der Wet­ter­pro­gno­se für den Tag oder der Uhr­zeit. Auf zwei Stock­wer­ken ist Platz für bis zu 300 Per­so­nen, die Sit­ze sind gepols­tert und zu allen Sei­ten gibt es gro­ße Fens­ter, die den Blick auf einen grau­en Him­mel und ein noch graue­res Meer zulas­sen. Ich set­ze mich im Bug oben auf einen der vie­len frei­en Plät­ze, damit ich die Insel mög­lichst früh sehen kann. Das Boot hebt sich bei hohen Geschwin­dig­kei­ten aus dem Was­ser und fährt wie auf Stel­zen ober­halb der Ober­flä­che. Davon spü­re ich über­ra­schend wenig, aber viel­leicht ist genau das, das beson­de­re. Kein Wel­len­gang, kei­ne Gischt am Fens­ter. Es ist eher wie ein Schnell­zug über dem Was­ser.  Nur bei “erhöh­tem Auf­kom­men von gro­ßen Säu­ge­tie­ren”, so zeigt es ein Moni­tor nahe dem Aus­gang, wird die Geschwin­dig­keit redu­ziert. Das Boot bremst nur für Wale. 

An den Wän­den hän­gen Pla­ka­te von den Inseln auf der Stre­cke. Ōshi­ma ist eine Vul­kan­in­sel – wenn der Berg nicht zu gereizt ist, kann man den Kra­ter besich­ti­gen und ihn damp­fen sehen. Der letz­te Aus­bruch war 1986, damals muss­te die Insel eva­ku­iert wer­den. Viel mehr weiß ich bis­her nicht über die Insel. Aber des­we­gen fah­re ich ja auch hin, um mir selbst ein Bild zu machen. 

Der Him­mel ist bewölkt und die Luft feucht, als ich ankom­me. Regen­sai­son. Rund um den asphal­tie­ren Anle­ge­platz lie­gen hun­der­te Tetra­po­de aus Beton, die die Wel­len bre­chen sol­len. Teil­wei­se leh­nen sie an Beton­mau­ern im Meer, die eine ähn­li­che Funk­ti­on haben. Die japa­ni­sche Küs­te ist stets von Tsu­na­mi bedroht, der Beton kann sie nicht auf­hal­ten, nur brem­sen. Das Meer, der Him­mel, der Asphalt und die Kon­struk­te aus Beton – die ver­schie­de­nen Grau­tö­ne sehen mehr nach Stadt als nach Insel aus. Das passt, denn ich habe Tōkyō nicht ver­las­sen.

Die Fäh­re hin­ter mir steu­ert schon die nächs­te Insel an, als ich zum Tou­ris­mus-Info­cen­ter am Hafen gehe. Ich möch­te nur einen Tag und eine Nacht blei­ben, gera­de des­halb soll­te ich mich infor­mie­ren, was es eigent­lich zu sehen gibt. Ich fin­de eini­ge Kar­ten und rufe einen Fahr­rad­ver­leih an. Eine hel­le Frau­en­stim­me fragt mich höf­lich, wie vie­le Fahr­rä­der ich wo und wann mie­ten wol­le. Da mich das doch an mei­ne sprach­li­chen Gren­zen bringt, fra­ge ich, ob jemand viel­leicht Eng­lisch spricht. „War­ten Sie kurz“, ent­geg­net sie. Nach einer län­ge­ren Pau­se mel­det sich eine Män­ner­stim­me: „We have no bikes. Thank you.“ Auf­ge­legt.

Dann eben der Bus. Außer mir sind nur weni­ge ande­re Men­schen an die­sem Mor­gen vom Hafen in Rich­tung Insel­zen­trum im Wes­ten unter­wegs. Ich sehe ein Senio­ren­paar mit Wan­der­stö­cken, eine Mut­ter mit ihrer Toch­ter und einen mit­tel­al­ten Mann, der etwas müde und leer aus dem Fens­ter schaut. Die Land­schaft wird immer grü­ner, links und rechts nur feuch­te Wäl­der, ab und an ein paar Häu­ser. In stei­len Zick­zack-Kur­ven fah­ren wir einen Hügel hin­auf. Mehr und mehr Regen pras­selt gegen die Fens­ter und ich zie­he mir einen Pull­over an, bevor ich mit einem Schirm in der Hand aus­stei­ge. Das Zen­trum vor mir liegt höher als der Hafen und bie­tet einen Blick über die Insel und aufs Meer. Das ist also Ōshi­ma. Grau, kalt und es gibt kei­ne Fahr­rä­der.

Wenn der Regen etwas nach­lässt, hört man die Natur. Vögel, das Mee­res­rau­schen und allen vor­an die Zika­den, die den Som­mer orches­trie­ren. Das größ­te Gebäu­de in der Nähe ist das Rat­haus. Eigent­lich habe ich genug Infor­ma­tio­nen über die Insel, aber ich wür­de mich gern mit jeman­den in einem war­men, tro­cke­nen Umfeld unter­hal­ten und gehe hin­ein. Ein Mann sieht mich, schaut etwas über­for­dert und greift zum Hörer, bevor ich bei ihm bin. Ich fra­ge ihn auf Japa­nisch, ob er viel­leicht etwas Eng­lisch kann. Er schaut beschämt zu Boden und meint nur, ich sol­le kurz war­ten. 

Im Ein­gangs­be­reich sehe ich Fah­nen, die auf die Bewer­bung von Tōkyō als Aus­tra­gungs­ort für die Olym­pi­schen Spie­le hin­wei­sen. Wahr­schein­lich ste­hen die so im Moment auch in jedem ande­ren Amt der Stadt – auch wenn Ōshi­ma von Olym­pia sehr weit weg scheint. Aus einem der hin­te­ren Räu­me kommt eine jun­ge Frau auf mich zu, sie begrüßt mich mit “hel­lo” und Hand­schlag. Sie scheint nicht viel älter als ich zu sein und ihr Eng­lisch ist fast feh­ler­frei. Rei­ko ist mit 16 Jah­ren für ein Jahr in die USA gegan­gen, abge­se­hen davon und ein, zwei Trips zum Tōkyō­ter Stadt­zen­trum, hat sie die Insel kaum ver­las­sen. Sie stellt mir vie­le Fra­gen und ich bin glück­lich, nicht ganz allei­ne auf der Insel zu sein. Im Tou­ris­mus­bü­ro des Rat­hau­ses über­häuft sie mich mit wei­te­ren Bro­schü­ren und Infos.

Ich ler­ne von ihr, dass Ōshi­ma bis zum 18. Jahr­hun­dert eine Straf­ko­lo­nie war, ein Exil für Unge­woll­te. Heu­te leben hier 20.000 Men­schen neben dem 758 Meter hohen Vul­kan Miha­ra, der im Durch­schnitt alle 200 Jah­re ein­mal aus­bricht. Nur wegen ihm gibt es Ōshi­ma. Schicht für Schicht hat er in mehr als 10.000 Jah­ren genug Mate­ri­al her­aus­ge­pus­tet, um eine Insel ent­ste­hen zu las­sen. Und 1984 ist in “Die Rück­kehr des Mons­ters” God­zil­la ein­mal in genau die­sen Vul­kan gefal­len.

Es ist wochen­tags, mit­ten in der Regen­zeit und das Wet­ter ist furcht­bar schwül – vie­le Tou­ris­ten wird es heu­te außer mir wohl nicht geben. Irgend­wann fragt mich Rei­ko, wo ich denn über­nach­te. Ich habe einen Schlaf­sack mit­ge­bracht, aber kei­ne Unter­kunft gebucht und fra­ge Rei­ko, ob sie einen Vor­schlag für mich hat. Es soll ja eh nur eine Nacht sein. Zunächst emp­fiehlt sie ein tra­di­tio­nel­les Gast­haus für umge­rech­net 50 Euro. Ich fra­ge, ob es nicht auch bil­li­ger geht. “Wie wäre es mit einem Hos­tel für Sur­fer?” 15 Euro die Nacht. Gekauft.

Rei­ko bringt mich zum Bus vor dem Rat­haus, war­tet mit mir, bis er kommt und erklärt dem Bus­fah­rer, wo er mich raus­las­sen muss. Von dort wird der Betrei­ber des Hos­tels mich abho­len, sagt sie. Sie gibt mir ihre Visi­ten­kar­te zum Abschied und ich bin dank­bar, wie viel Mühe sie sich mit mir gege­ben hat. 

Als ich aus dem Bus stei­ge, kommt ein breit gebau­ter, bär­ti­ger und selig lächeln­der Kerl auf mich zu. Genau so stel­le ich mir jeman­den vor, der ein Hos­tel für Sur­fer betreibt. Unse­re Fahrt in sei­nem Auto ist recht schweig­sam, erst im Hos­tel ange­kom­men kön­nen wir uns mit einem Über­set­zungs­pro­gramm auf dem Com­pu­ter behel­fen. “Haben Sie ein Fahr­rad für mich?” Klar, kein Pro­blem, sagt er. 500 Yen für den gan­zen Tag. Wun­der­bar, den­ke ich, ich hät­te gern ein mama­cha­ri – ein simp­les Rad mit Korb, wel­ches auf Japans Stra­ßen all­ge­gen­wär­tig ist und ent­ge­gen dem Namen nicht nur von Müt­tern zum Ein­kau­fen gefah­ren wird. Der Betrei­ber lächelt. “Du bist ein Kerl, du kriegst ein Rad für Män­ner!” Da kann ich nicht wider­spre­chen und neh­me das Moun­tain­bike, das er mir zur Ver­fü­gung stellt. Weil es immer noch reg­net, leiht er mir ohne Auf­preis eine kom­plet­te Regen­aus­rüs­tung dazu. 

Es ist ein herr­li­ches Anwe­sen. Ein altes, tra­di­tio­nel­les Haus mit­ten in einem Wald aus Zedern und Tan­nen. Der Holz­bo­den ist so poliert, dass er die Schie­be­tü­ren und Fens­ter aus Papier fast so klar wie ein Spie­gel reflek­tiert. Dazu bie­tet das Haus alles, was ein Hos­tel aus­macht: Wasch­ma­schi­ne und Trock­ner, Brett­spie­le im Schrank und eine gut aus­ge­stat­te­te Küche. Ich bin der ein­zi­ge Gast. 

Mei­ne Tasche, Schlaf­sack und Regen­schirm las­se ich im Hos­tel und schwin­ge mich aufs männ­li­che Moun­tain­bike. Ich möch­te zum nächst­ge­le­ge­nen Geschäft fah­ren, um etwas Essen zu kau­fen. Es ist bereits Mit­tag und ich habe heu­te nicht rich­tig gefrüh­stückt. Die Rich­tungs­an­wei­sun­gen des Hos­tel­be­trei­bers ver­ste­he ich trotz Über­set­zungs­pro­gramm nicht ganz, aber ich werd schon was fin­den, den­ke ich. Auch wenn es mich irri­tiert, dass ein Hos­tel für Sur­fer schein­bar so weit weg vom Strand liegt.

Auf der nicht geteer­ten Stra­ße begeg­net mir nie­mand. Links ist ein dich­ter Wald, nass und grün. Rechts von mir erstreckt sich ein wil­des Feld mit ver­ein­zel­ten Sträu­chern, hin­ter dem sich ein Berg auf­baut. Den Gip­fel sehe ich nicht, graue Wol­ken hän­gen davor. Ich genie­ße das Fah­ren über die Insel so sehr, dass ich in den ers­ten Minu­ten den Regen gar nicht spü­re. Dann jedoch wird es läs­tig. Es ist heiß unter der Regen­ja­cke, die Feuch­tig­keit sam­melt sich außen und innen. Ich ver­su­che mir Luft zu ver­schaf­fen, mache die Jacke auf beim Fah­ren. Dabei mer­ke ich schnell zwei Sachen: Ers­tens: Der Regen hat den erdi­gen Boden auf­ge­weicht. Zwei­tens: Mein männ­li­ches Rad hat kei­ne Schutz­ble­che. Der gan­ze Dreck wird, vor­ne wie hin­ten, von den Rei­fen in mein Gesicht und auf mei­nen Pull­over geschleu­dert. Ich fah­re eine gefühl­te Stun­de durch den Regen, bis mir auf­fällt, dass ich gar nicht weiß wohin. Ich kann kei­ne Schil­der erken­nen und Ver­kehr gibt es auch nicht. Ich habe mich kom­plett ver­fah­ren. Die vie­len Kar­ten, die ich vor­hin bekom­men habe, sind in mei­ner Tasche im Hos­tel, mein Han­dy eben­so. Ich weiß nicht mal den Namen oder die Adres­se, weil Rei­ko alles für mich orga­ni­sier­te. Mei­ne Hoff­nung, schon irgend­wie zurück­zu­fin­den, löst sich auf. Alles sieht gleich aus: süd­pa­zi­fi­scher Dschun­gel mit ein paar Häu­sern und klei­nen Stra­ßen mit­ten­drin. Nir­gend­wo ein Mensch.

Erschöpft mache ich eine Pau­se bei einer Art Gara­ge mit­ten im Nir­gend­wo. Es gibt ein schma­les Vor­dach zum Unter­stel­len, das genügt fürs Ers­te. Was nun?

Plötz­lich kommt ein gro­ßes rotes Auto und möch­te in der Gara­ge par­ken. Ich gehe zur Sei­te und mache Platz. Die zwei Fah­rer schau­en mich skep­tisch und inter­es­siert an. Als sie aus­stei­gen, spre­che ich sie an und ver­su­che, mei­ne Situa­ti­on zu erklä­ren. Mein Taschen­wör­ter­buch ist eben­falls noch im Hos­tel. Mit Hän­den und Füßen kann ich irgend­wie klar­ma­chen, dass ich mich ver­fah­ren habe. Sie rufen im Tou­ris­mus­bü­ro im Rat­haus an, denn wo soll man mit ver­lo­re­nen Tou­ris­ten sonst hin? Aber Moment! Rat­haus? Rei­ko! Ich habe noch ihre Visi­ten­kar­te in der Hosen­ta­sche! Die rei­che ich den Män­nern und sie wäh­len Rei­kos Num­mer. Nach­dem sie ihr erklä­ren, war­um sie anru­fen, rei­chen sie mir das Han­dy und ich erzäh­le Rei­ko pein­lich berührt von mei­ner miss­li­chen Lage. “Bleib, wo du bist, ich hole dich mit dem Auto ab”, sagt sie. Die Män­ner war­ten mit mir, einer gibt mir sogar eine Fla­sche Was­ser, weil ich so erschöpft aus­se­he.

Rei­ko braucht lan­ge, um mich zu fin­den. Nicht nur für mich sehen hier schein­bar alle Wege gleich aus. Irgend­wann taucht sie auf und will mich (dre­ckig) und mein Fahr­rad (noch dre­cki­ger) in ihr Auto laden. Ich habe ein schlech­tes Gewis­sen alles zu ver­schmut­zen, es rei­che doch, wenn sie mir sagt, wie ich wie­der zum Hos­tel kom­me. Doch sie besteht dar­auf. Ich soll wohl nicht noch ein­mal ver­lo­ren gehen. Die Män­ner lächeln erleich­tert und posie­ren zum Abschied noch für mich für ein Foto neben ihrem Wagen.

 Im Auto erzählt mir Rei­ko, was im Rat­haus los war, nach­dem ich gegan­gen bin. Alle waren neu­gie­rig und frag­ten, wo ich denn her­kom­me, was ich hier mache und so wei­ter. Als dann der Anruf ein­ging, dass ich mich ver­lau­fen habe, haben sich alle Sor­gen gemacht. Als Rei­ko mich wie­der zum Hos­tel bringt, bie­tet sie mir an, mich auch am nächs­ten Mor­gen abzu­ho­len, um sicher­zu­stel­len, dass ich mei­ne Fäh­re nicht ver­pas­se. Mir Aus­län­der traut sie wohl berech­tig­ter­wei­se kei­ne gute Ori­en­tie­rung mehr zu. 

Inzwi­schen ist es frü­her Nach­mit­tag. Weil ich immer noch Hun­ger habe – zum nächs­ten Geschäft habe ich es ja nie geschafft – fra­ge ich Rei­ko, ob sie mich kurz noch in den nächs­ten Ort fah­ren kann. Nach Fei­er­abend sei das kein Pro­blem, sagt sie. Sie hat wahr­schein­lich heu­te schon genug ihrer Arbeits­zeit für mich geop­fert. Zeit also für eine Dusche. 

Nach­dem ich mich wie­der ange­zo­gen habe, kom­men zwei wei­te­re Gäs­te durch die Tür. Zwei jun­ge Aus­län­der, die ähn­lich wie ich auf Ōshi­ma rum­frag­ten, wo man güns­tig über­nach­ten kön­ne. Ich fra­ge sie, ob sie bei­de gera­de aus Tōkyō kom­men. Ja, sagen sie, sie haben die Nacht in einem Kap­sel­ho­tel ver­bracht. “Oh, ich auch”, sage ich, “in Asakusa”. Sie auch, sagen sie. In wel­chem Stock, fra­ge ich sie. “Im vier­ten”, ant­wor­ten sie irri­tiert. Plötz­lich fällt es mir auf: Die zwei jun­gen Män­ner, die hier auf der Insel vor mir ste­hen, sind die­sel­ben, die ich in der Nacht zuvor beim Kar­ten­spie­len stör­te. Wir müs­sen alle sehr lachen, über die­sen Zufall. Wir haben letz­te Nacht nicht mit­ein­an­der gespro­chen, wir wuss­ten nicht, dass wir alle nach Ōshi­ma rei­sen, kei­ner von uns hat­te die­ses Hos­tel auf dem Schirm – und trotz­dem lan­den wir hier.

Die zwei kom­men aus Finn­land. Sie haben vor kur­zem ihren Mili­tär­dienst geleis­tet und mit dem gespar­ten Sold sind sie nach Japan gereist. Davor waren sie in Indi­en gewe­sen, erzäh­len sie, und haben von ein paar Dol­lar am Tag gelebt. Wäh­rend der gesam­ten Rei­se blie­ben sie meist nur zu zweit. Fin­nen hal­ten sich eher zurück, erklä­ren sie mir. 

Am spä­ten Nach­mit­tag kommt Rei­ko wie ver­spro­chen zurück. Ich stel­le ihr die neu­en Gäs­te im Hos­tel vor und erzäh­le ihr, dass wir in der Nacht zuvor schon im glei­chen Hos­tel waren. So ganz scheint sie mei­ne Erklä­rung aber nicht zu glau­ben oder zu ver­ste­hen. So ein Zufall ist auch unglaub­lich. Zusam­men fah­ren wir zum nächs­ten Super­markt. Unter­wegs grüßt sie vie­le der Men­schen in den Autos, die uns ent­ge­gen­kom­men. Wäh­rend wir im Laden unse­re Kör­be fül­len, sehe ich, wie eini­ge Per­so­nen zu Rei­ko gehen und immer wie­der in unse­re Rich­tung schau­en. Bestimmt fra­gen sie, was es denn mit den drei jun­gen Aus­län­dern auf sich hat, die sie mit­ge­bracht hat. 

Zurück im Hos­tel gibt es end­lich Essen. Die Fin­nen kochen sich Nudeln, ich wär­me mir Reis mit Fleisch in einer Plas­tik­pa­ckung in der Mikro­wel­le auf. Wir unter­hal­ten uns über Japan, Finn­land und Deutsch­land, wäh­rend das Haus in Dun­kel­heit fällt und die Zika­den drau­ßen lei­se ver­stum­men.

Wie sie es ankün­dig­te, steht am nächs­ten Mor­gen Rei­ko mit dem Auto vor der Tür, um mich zur Fäh­re zu brin­gen. Am Hafen unter­hal­ten wir uns noch eine Wei­le. Beim nächs­ten Besuch, sagt sie mir, kön­ne ich in ihrem Haus über­nach­ten. Mit einem Lächeln bedan­ke ich mich herz­lich bei ihr für die­se Ein­la­dung, die in Japan nicht leicht­sin­nig aus­ge­spro­chen wird. Wäh­rend wir reden, mer­ke ich nicht, dass mei­ne Fäh­re schon ablegt. Wir ren­nen bei­de Rich­tung Anle­ge­steg und wedeln wild mit den Armen, die Fäh­re ist bestimmt schon 50 Meter ent­fernt. Plötz­lich dreht sie um und fährt wie­der Rich­tung Insel. Allei­ne für mich ist sie umge­kehrt. Als sie anlegt, ent­schul­di­ge ich mich fünf­mal bei allen, die ich sehe, win­ke Rei­ko ein letz­tes Mal zu und set­ze mich ganz nach vor­ne. Für mich geht es zur nächs­ten Insel von Tōkyō. 

In Ōshi­ma fand ich das, was ich an Japan bis zu dem Zeit­punkt ver­miss­te und in der Stadt bis­lang nicht ent­deck­te. Die­se ehr­li­che Neu­gier, Freund­lich­keit und Gast­freund­schaft – und auch Aben­teu­er. Es lohn­te sich, nicht zu pla­nen und ein­fach ins Boot zu stei­gen. Ich habe viel mehr erlebt, als wenn ich nur dem Rei­se­füh­rer gefolgt wäre. Ich möch­te unbe­dingt noch­mal nach Oshi­ma. Den Weg zum Strand habe ich dies­mal näm­lich nicht gefun­den.

  • Japan, wer bist du?

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