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Warum Tōkyō auch im Meer liegt: Mein Ziel ist Ōshima, die größte der Izu-Inseln, 350 Kilometer südlich der Hauptstadt Japans.
In Japans Hauptstadt kenne ich nur zwei Strände, beide sind von Menschen gemacht. Sie liegen auf der künstlichen Insel Odaiba in der Bucht von Tōkyō und bieten einen spektakulären Blick auf die Skyline, mit der bunt angestrahlten Rainbow Bridge. Baden ist dort verboten. Möchte man zu einem echten Strand, und das möchte ich, muss man zu einer Insel reisen.
Bis zu 350 Kilometer südlich verläuft die Izu-Inselgruppe im Meer, sie gehört administrativ zu Tōkyō. Reist man mit dem Boot noch weiter, gelangt man zu den Ogasawara Inseln, ungefähr 1.000 Kilometer südlich der Stadt. Auch sie sind noch Tōkyō und werden von der Stadt verwaltet. Die Reise dorthin dauert 24 Stunden mit dem Schnellboot, eine Flugverbindung gibt es nicht. Der südlichste Punkt Japans ist bei Okinotorishima erreicht, einem Korallenriff, das näher zu Taiwan und den Philippinen ist, als der Bucht von Tōkyō, wo die Reise beginnt. Das weitestgehend untermeerische Atoll beherbergt eine Forschungsstation aus Beton und beansprucht damit praktischerweise das Meer in einem 370 Kilometer Radius für Japan. Die zwei Felsen hier, die weniger als einen Meter aus dem Wasser ragen und 1.733 Kilometer vom Rathaus der Metropole entfernt liegen, sind, man ahnt es, ebenfalls Tōkyō. Die Stadt ist immens.
Ganz so weit möchte ich nicht reisen. Mein Ziel ist Ōshima, die erste und mit einer Fläche von 90 Quadratkilometern die größte der Izu-Inseln. Ich wohne im Norden von Tōkyō, daher buche ich mir ein “Zimmer” in einem Kapselhotel in der Nähe des Hafens, um eine der vielen täglichen Fähren nach Ōshima am nächsten Morgen zu erwischen. Auf acht Stockwerken stapeln sich hier jeweils zwischen 50 und 80 Kojen, die einen Meter hoch, einen Meter breit und circa zwei Meter lang sind. Ein kleiner Röhrenfernseher ist fest in die Decke der Kapsel eingebaut und ein Vorhang schützt vor fremden Blicken – nicht aber vor schnarchenden Menschen. Wandfarbe und Inneneinrichtung sind auf reine Funktionalität reduziert, kaum jemand wird hier wohl einen ganzen Urlaub verbringen. Im Gang vor den Kapseln öffne ich eines der Fenster. Die Fingerspitzen meiner Hand können fast das Nachbargebäude berühren, so nah ist hier gebaut.
Die Nacht wird kurz, weil ich die erste Fähre am Morgen nehmen möchte. Als letzte Aktion vorm Schlafen will ich den Akku meiner Kamera aufladen. Die einzigen funktionierenden Steckdosen hier im vierten Stock scheinen sich beim Aufzug zu befinden, neben einem kleinen Tisch, an dem zwei junge Männer Poker spielen. Der eine mit blasser Glatze und blauen Augen, der andere mit dichtem blondem Haar. Beim Einstöpseln stoße ich ihre Karten vom wackligen Tisch. Die Jungs lächeln nur und wünschen mir eine gute Nacht.
Am nächsten Morgen renne ich zum Hafen, ständig geht mein Blick auf die Uhr. Ganz so nah bei der Fähre ist das Hotel dann irgendwie doch nicht. Um 7:26 Uhr bin ich als Letzter im Boot, drei Minuten später legen wir schon ab. Die Fähre ist kaum gefüllt, vielleicht liegt das an der Wetterprognose für den Tag oder der Uhrzeit. Auf zwei Stockwerken ist Platz für bis zu 300 Personen, die Sitze sind gepolstert und zu allen Seiten gibt es große Fenster, die den Blick auf einen grauen Himmel und ein noch graueres Meer zulassen. Ich setze mich im Bug oben auf einen der vielen freien Plätze, damit ich die Insel möglichst früh sehen kann. Das Boot hebt sich bei hohen Geschwindigkeiten aus dem Wasser und fährt wie auf Stelzen oberhalb der Oberfläche. Davon spüre ich überraschend wenig, aber vielleicht ist genau das, das besondere. Kein Wellengang, keine Gischt am Fenster. Es ist eher wie ein Schnellzug über dem Wasser. Nur bei “erhöhtem Aufkommen von großen Säugetieren”, so zeigt es ein Monitor nahe dem Ausgang, wird die Geschwindigkeit reduziert. Das Boot bremst nur für Wale.
An den Wänden hängen Plakate von den Inseln auf der Strecke. Ōshima ist eine Vulkaninsel – wenn der Berg nicht zu gereizt ist, kann man den Krater besichtigen und ihn dampfen sehen. Der letzte Ausbruch war 1986, damals musste die Insel evakuiert werden. Viel mehr weiß ich bisher nicht über die Insel. Aber deswegen fahre ich ja auch hin, um mir selbst ein Bild zu machen.
Der Himmel ist bewölkt und die Luft feucht, als ich ankomme. Regensaison. Rund um den asphaltieren Anlegeplatz liegen hunderte Tetrapode aus Beton, die die Wellen brechen sollen. Teilweise lehnen sie an Betonmauern im Meer, die eine ähnliche Funktion haben. Die japanische Küste ist stets von Tsunami bedroht, der Beton kann sie nicht aufhalten, nur bremsen. Das Meer, der Himmel, der Asphalt und die Konstrukte aus Beton – die verschiedenen Grautöne sehen mehr nach Stadt als nach Insel aus. Das passt, denn ich habe Tōkyō nicht verlassen.
Die Fähre hinter mir steuert schon die nächste Insel an, als ich zum Tourismus-Infocenter am Hafen gehe. Ich möchte nur einen Tag und eine Nacht bleiben, gerade deshalb sollte ich mich informieren, was es eigentlich zu sehen gibt. Ich finde einige Karten und rufe einen Fahrradverleih an. Eine helle Frauenstimme fragt mich höflich, wie viele Fahrräder ich wo und wann mieten wolle. Da mich das doch an meine sprachlichen Grenzen bringt, frage ich, ob jemand vielleicht Englisch spricht. „Warten Sie kurz“, entgegnet sie. Nach einer längeren Pause meldet sich eine Männerstimme: „We have no bikes. Thank you.“ Aufgelegt.
Dann eben der Bus. Außer mir sind nur wenige andere Menschen an diesem Morgen vom Hafen in Richtung Inselzentrum im Westen unterwegs. Ich sehe ein Seniorenpaar mit Wanderstöcken, eine Mutter mit ihrer Tochter und einen mittelalten Mann, der etwas müde und leer aus dem Fenster schaut. Die Landschaft wird immer grüner, links und rechts nur feuchte Wälder, ab und an ein paar Häuser. In steilen Zickzack-Kurven fahren wir einen Hügel hinauf. Mehr und mehr Regen prasselt gegen die Fenster und ich ziehe mir einen Pullover an, bevor ich mit einem Schirm in der Hand aussteige. Das Zentrum vor mir liegt höher als der Hafen und bietet einen Blick über die Insel und aufs Meer. Das ist also Ōshima. Grau, kalt und es gibt keine Fahrräder.
Wenn der Regen etwas nachlässt, hört man die Natur. Vögel, das Meeresrauschen und allen voran die Zikaden, die den Sommer orchestrieren. Das größte Gebäude in der Nähe ist das Rathaus. Eigentlich habe ich genug Informationen über die Insel, aber ich würde mich gern mit jemanden in einem warmen, trockenen Umfeld unterhalten und gehe hinein. Ein Mann sieht mich, schaut etwas überfordert und greift zum Hörer, bevor ich bei ihm bin. Ich frage ihn auf Japanisch, ob er vielleicht etwas Englisch kann. Er schaut beschämt zu Boden und meint nur, ich solle kurz warten.
Im Eingangsbereich sehe ich Fahnen, die auf die Bewerbung von Tōkyō als Austragungsort für die Olympischen Spiele hinweisen. Wahrscheinlich stehen die so im Moment auch in jedem anderen Amt der Stadt – auch wenn Ōshima von Olympia sehr weit weg scheint. Aus einem der hinteren Räume kommt eine junge Frau auf mich zu, sie begrüßt mich mit “hello” und Handschlag. Sie scheint nicht viel älter als ich zu sein und ihr Englisch ist fast fehlerfrei. Reiko ist mit 16 Jahren für ein Jahr in die USA gegangen, abgesehen davon und ein, zwei Trips zum Tōkyōter Stadtzentrum, hat sie die Insel kaum verlassen. Sie stellt mir viele Fragen und ich bin glücklich, nicht ganz alleine auf der Insel zu sein. Im Tourismusbüro des Rathauses überhäuft sie mich mit weiteren Broschüren und Infos.
Ich lerne von ihr, dass Ōshima bis zum 18. Jahrhundert eine Strafkolonie war, ein Exil für Ungewollte. Heute leben hier 20.000 Menschen neben dem 758 Meter hohen Vulkan Mihara, der im Durchschnitt alle 200 Jahre einmal ausbricht. Nur wegen ihm gibt es Ōshima. Schicht für Schicht hat er in mehr als 10.000 Jahren genug Material herausgepustet, um eine Insel entstehen zu lassen. Und 1984 ist in “Die Rückkehr des Monsters” Godzilla einmal in genau diesen Vulkan gefallen.
Es ist wochentags, mitten in der Regenzeit und das Wetter ist furchtbar schwül – viele Touristen wird es heute außer mir wohl nicht geben. Irgendwann fragt mich Reiko, wo ich denn übernachte. Ich habe einen Schlafsack mitgebracht, aber keine Unterkunft gebucht und frage Reiko, ob sie einen Vorschlag für mich hat. Es soll ja eh nur eine Nacht sein. Zunächst empfiehlt sie ein traditionelles Gasthaus für umgerechnet 50 Euro. Ich frage, ob es nicht auch billiger geht. “Wie wäre es mit einem Hostel für Surfer?” 15 Euro die Nacht. Gekauft.
Reiko bringt mich zum Bus vor dem Rathaus, wartet mit mir, bis er kommt und erklärt dem Busfahrer, wo er mich rauslassen muss. Von dort wird der Betreiber des Hostels mich abholen, sagt sie. Sie gibt mir ihre Visitenkarte zum Abschied und ich bin dankbar, wie viel Mühe sie sich mit mir gegeben hat.
Als ich aus dem Bus steige, kommt ein breit gebauter, bärtiger und selig lächelnder Kerl auf mich zu. Genau so stelle ich mir jemanden vor, der ein Hostel für Surfer betreibt. Unsere Fahrt in seinem Auto ist recht schweigsam, erst im Hostel angekommen können wir uns mit einem Übersetzungsprogramm auf dem Computer behelfen. “Haben Sie ein Fahrrad für mich?” Klar, kein Problem, sagt er. 500 Yen für den ganzen Tag. Wunderbar, denke ich, ich hätte gern ein mamachari – ein simples Rad mit Korb, welches auf Japans Straßen allgegenwärtig ist und entgegen dem Namen nicht nur von Müttern zum Einkaufen gefahren wird. Der Betreiber lächelt. “Du bist ein Kerl, du kriegst ein Rad für Männer!” Da kann ich nicht widersprechen und nehme das Mountainbike, das er mir zur Verfügung stellt. Weil es immer noch regnet, leiht er mir ohne Aufpreis eine komplette Regenausrüstung dazu.
Es ist ein herrliches Anwesen. Ein altes, traditionelles Haus mitten in einem Wald aus Zedern und Tannen. Der Holzboden ist so poliert, dass er die Schiebetüren und Fenster aus Papier fast so klar wie ein Spiegel reflektiert. Dazu bietet das Haus alles, was ein Hostel ausmacht: Waschmaschine und Trockner, Brettspiele im Schrank und eine gut ausgestattete Küche. Ich bin der einzige Gast.
Meine Tasche, Schlafsack und Regenschirm lasse ich im Hostel und schwinge mich aufs männliche Mountainbike. Ich möchte zum nächstgelegenen Geschäft fahren, um etwas Essen zu kaufen. Es ist bereits Mittag und ich habe heute nicht richtig gefrühstückt. Die Richtungsanweisungen des Hostelbetreibers verstehe ich trotz Übersetzungsprogramm nicht ganz, aber ich werd schon was finden, denke ich. Auch wenn es mich irritiert, dass ein Hostel für Surfer scheinbar so weit weg vom Strand liegt.
Auf der nicht geteerten Straße begegnet mir niemand. Links ist ein dichter Wald, nass und grün. Rechts von mir erstreckt sich ein wildes Feld mit vereinzelten Sträuchern, hinter dem sich ein Berg aufbaut. Den Gipfel sehe ich nicht, graue Wolken hängen davor. Ich genieße das Fahren über die Insel so sehr, dass ich in den ersten Minuten den Regen gar nicht spüre. Dann jedoch wird es lästig. Es ist heiß unter der Regenjacke, die Feuchtigkeit sammelt sich außen und innen. Ich versuche mir Luft zu verschaffen, mache die Jacke auf beim Fahren. Dabei merke ich schnell zwei Sachen: Erstens: Der Regen hat den erdigen Boden aufgeweicht. Zweitens: Mein männliches Rad hat keine Schutzbleche. Der ganze Dreck wird, vorne wie hinten, von den Reifen in mein Gesicht und auf meinen Pullover geschleudert. Ich fahre eine gefühlte Stunde durch den Regen, bis mir auffällt, dass ich gar nicht weiß wohin. Ich kann keine Schilder erkennen und Verkehr gibt es auch nicht. Ich habe mich komplett verfahren. Die vielen Karten, die ich vorhin bekommen habe, sind in meiner Tasche im Hostel, mein Handy ebenso. Ich weiß nicht mal den Namen oder die Adresse, weil Reiko alles für mich organisierte. Meine Hoffnung, schon irgendwie zurückzufinden, löst sich auf. Alles sieht gleich aus: südpazifischer Dschungel mit ein paar Häusern und kleinen Straßen mittendrin. Nirgendwo ein Mensch.
Erschöpft mache ich eine Pause bei einer Art Garage mitten im Nirgendwo. Es gibt ein schmales Vordach zum Unterstellen, das genügt fürs Erste. Was nun?
Plötzlich kommt ein großes rotes Auto und möchte in der Garage parken. Ich gehe zur Seite und mache Platz. Die zwei Fahrer schauen mich skeptisch und interessiert an. Als sie aussteigen, spreche ich sie an und versuche, meine Situation zu erklären. Mein Taschenwörterbuch ist ebenfalls noch im Hostel. Mit Händen und Füßen kann ich irgendwie klarmachen, dass ich mich verfahren habe. Sie rufen im Tourismusbüro im Rathaus an, denn wo soll man mit verlorenen Touristen sonst hin? Aber Moment! Rathaus? Reiko! Ich habe noch ihre Visitenkarte in der Hosentasche! Die reiche ich den Männern und sie wählen Reikos Nummer. Nachdem sie ihr erklären, warum sie anrufen, reichen sie mir das Handy und ich erzähle Reiko peinlich berührt von meiner misslichen Lage. “Bleib, wo du bist, ich hole dich mit dem Auto ab”, sagt sie. Die Männer warten mit mir, einer gibt mir sogar eine Flasche Wasser, weil ich so erschöpft aussehe.
Reiko braucht lange, um mich zu finden. Nicht nur für mich sehen hier scheinbar alle Wege gleich aus. Irgendwann taucht sie auf und will mich (dreckig) und mein Fahrrad (noch dreckiger) in ihr Auto laden. Ich habe ein schlechtes Gewissen alles zu verschmutzen, es reiche doch, wenn sie mir sagt, wie ich wieder zum Hostel komme. Doch sie besteht darauf. Ich soll wohl nicht noch einmal verloren gehen. Die Männer lächeln erleichtert und posieren zum Abschied noch für mich für ein Foto neben ihrem Wagen.
Im Auto erzählt mir Reiko, was im Rathaus los war, nachdem ich gegangen bin. Alle waren neugierig und fragten, wo ich denn herkomme, was ich hier mache und so weiter. Als dann der Anruf einging, dass ich mich verlaufen habe, haben sich alle Sorgen gemacht. Als Reiko mich wieder zum Hostel bringt, bietet sie mir an, mich auch am nächsten Morgen abzuholen, um sicherzustellen, dass ich meine Fähre nicht verpasse. Mir Ausländer traut sie wohl berechtigterweise keine gute Orientierung mehr zu.
Inzwischen ist es früher Nachmittag. Weil ich immer noch Hunger habe – zum nächsten Geschäft habe ich es ja nie geschafft – frage ich Reiko, ob sie mich kurz noch in den nächsten Ort fahren kann. Nach Feierabend sei das kein Problem, sagt sie. Sie hat wahrscheinlich heute schon genug ihrer Arbeitszeit für mich geopfert. Zeit also für eine Dusche.
Nachdem ich mich wieder angezogen habe, kommen zwei weitere Gäste durch die Tür. Zwei junge Ausländer, die ähnlich wie ich auf Ōshima rumfragten, wo man günstig übernachten könne. Ich frage sie, ob sie beide gerade aus Tōkyō kommen. Ja, sagen sie, sie haben die Nacht in einem Kapselhotel verbracht. “Oh, ich auch”, sage ich, “in Asakusa”. Sie auch, sagen sie. In welchem Stock, frage ich sie. “Im vierten”, antworten sie irritiert. Plötzlich fällt es mir auf: Die zwei jungen Männer, die hier auf der Insel vor mir stehen, sind dieselben, die ich in der Nacht zuvor beim Kartenspielen störte. Wir müssen alle sehr lachen, über diesen Zufall. Wir haben letzte Nacht nicht miteinander gesprochen, wir wussten nicht, dass wir alle nach Ōshima reisen, keiner von uns hatte dieses Hostel auf dem Schirm – und trotzdem landen wir hier.
Die zwei kommen aus Finnland. Sie haben vor kurzem ihren Militärdienst geleistet und mit dem gesparten Sold sind sie nach Japan gereist. Davor waren sie in Indien gewesen, erzählen sie, und haben von ein paar Dollar am Tag gelebt. Während der gesamten Reise blieben sie meist nur zu zweit. Finnen halten sich eher zurück, erklären sie mir.
Am späten Nachmittag kommt Reiko wie versprochen zurück. Ich stelle ihr die neuen Gäste im Hostel vor und erzähle ihr, dass wir in der Nacht zuvor schon im gleichen Hostel waren. So ganz scheint sie meine Erklärung aber nicht zu glauben oder zu verstehen. So ein Zufall ist auch unglaublich. Zusammen fahren wir zum nächsten Supermarkt. Unterwegs grüßt sie viele der Menschen in den Autos, die uns entgegenkommen. Während wir im Laden unsere Körbe füllen, sehe ich, wie einige Personen zu Reiko gehen und immer wieder in unsere Richtung schauen. Bestimmt fragen sie, was es denn mit den drei jungen Ausländern auf sich hat, die sie mitgebracht hat.
Zurück im Hostel gibt es endlich Essen. Die Finnen kochen sich Nudeln, ich wärme mir Reis mit Fleisch in einer Plastikpackung in der Mikrowelle auf. Wir unterhalten uns über Japan, Finnland und Deutschland, während das Haus in Dunkelheit fällt und die Zikaden draußen leise verstummen.
Wie sie es ankündigte, steht am nächsten Morgen Reiko mit dem Auto vor der Tür, um mich zur Fähre zu bringen. Am Hafen unterhalten wir uns noch eine Weile. Beim nächsten Besuch, sagt sie mir, könne ich in ihrem Haus übernachten. Mit einem Lächeln bedanke ich mich herzlich bei ihr für diese Einladung, die in Japan nicht leichtsinnig ausgesprochen wird. Während wir reden, merke ich nicht, dass meine Fähre schon ablegt. Wir rennen beide Richtung Anlegesteg und wedeln wild mit den Armen, die Fähre ist bestimmt schon 50 Meter entfernt. Plötzlich dreht sie um und fährt wieder Richtung Insel. Alleine für mich ist sie umgekehrt. Als sie anlegt, entschuldige ich mich fünfmal bei allen, die ich sehe, winke Reiko ein letztes Mal zu und setze mich ganz nach vorne. Für mich geht es zur nächsten Insel von Tōkyō.
In Ōshima fand ich das, was ich an Japan bis zu dem Zeitpunkt vermisste und in der Stadt bislang nicht entdeckte. Diese ehrliche Neugier, Freundlichkeit und Gastfreundschaft – und auch Abenteuer. Es lohnte sich, nicht zu planen und einfach ins Boot zu steigen. Ich habe viel mehr erlebt, als wenn ich nur dem Reiseführer gefolgt wäre. Ich möchte unbedingt nochmal nach Oshima. Den Weg zum Strand habe ich diesmal nämlich nicht gefunden.
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