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Irgendwo in diesem überquellenden Warenlager, den Souks, nahe der Djemaa el Fna – dort wo Marrakesch atmet – wartet immer Leila mit ihrer Olivetti. Die zwanzig Jahre alte Zauberin mit arabischen Schriftzeichen ist Zeuge unzähliger Geschichten, Geheimnisse und Gefühle, von Fragen, Zweifeln und Antworten, von Dankbarkeit, Trost und Freude, Freundschaft und Liebe. Leila schreibt auf der Schreibmaschine Briefe, für die, die selbst nicht schreiben und lesen können – in Marokko ist es die Hälfte.
In Marrakesch sagen sie: Jeder Mensch hat eine Geschichte seines Herzens. Wie glücklich die sein müssen, die sie kennen. Weil sie es sind, die um ihre Hintertür wissen. Die Tür, die immer einen Spalt offen steht, wenn alles festzufrieren droht. Ja, weil es diejenigen sind, die von innen mit einer Fluchtmöglichkeit gepolstert sind. Weil sie gewinnen, wenn sie verlieren. Die Maske, den Panzer, den Zinnober. Das Wissen zieht an, hebt einen, läßt federleicht leben.
Leila weiß unzählige Geschichten zu berichten. Sie lauscht dem Herzschlag von Marrakesch. Tachykardie und Bardykardie pumpen sie in ihr Ohr hinein. Und Leila besitzt eine Gabe, die in der stumpfen Moderne so selten ist wie das schnalzende Tack-Tack-Tack einer Olivetti: Die Gabe des Zuhörens und Schreibens. Die Gabe, Buchstaben zu polieren, bis sie in der Sahara leuchten wie ein Spiegel. Leila ist Herzenshelferin. Eine Seelensammlerin. Eine, die Stimmen schenkt.
Und so schreibt Leila die marrokanische Tradition des Geschichtenerzählens fort. Seit Generationen verzaubern die Stimmen der Nomaden aus den Bergen und Wüsten Marokkos mit ihren Erzählungen. Ihre Wächter sind die Halaiqi: die Geschichtenerzähler. Sie fühlen, wissen, wer Schauspieler ist, Betrüger, Lügner, Gauner und wer Bettler, Krüppel oder Gerichteter. Jedes gesprochene Wort fangen sie mit den Ohren ein. Ihre Schule ist »La place«, der Platz, Herz von Marrakesch. Hier lernen die Halaiqi das Leben. Die Worte fließen durch sie hindurch. Mit Wucht werden sie nachts wieder ausgespuckt. Dann erzählen sie aus dem Buch der Welt. Und manchmal entdeckt einer, während er gefesselt dem Zauber der Sprache lauscht, plötzlich seine ganz eigene Geschichte. Das sind die Halaiqi.
Ich hatte gerade ein Glas eiskalten, zuckersüßen Orangensaft getrunken, um mich von der Gluthitze des Nachmittags abzukühlen, die aus den Poren der nackten, roten Mauern der Medina zu kriechen scheint – und den Weg aus dem Gekräusel der Souks nicht mehr herausfinden will -, als mir gegenüber ein Mann in einer weißen Dschellaba und mit einem Gesicht wie schwarze Bitterschokolade auffiel, weil er sich mit einer Frau unterhielt. Bislang hatte ich in Marrakesch Männer mit Männern und Frauen mit Frauen sprechen sehen. Der Tisch mit Leilas Olivetti steht immer in der Gasse, die hinunter zu den Gewürzsouks führt und so kam es, dass es nach Koriander, Gewürznelken und Amber roch, als ich zu ihr hinüber ging. Aus der Ferne brodelten wie immer Tröten und Tamburine, die den Untergang der Sonne zuverlässiger ankündigen, als die geschleuderten Rufe vom Koutoubia-Minarett.
Leila nimmt sich Zeit für eine Geschichte, fühlt, hört, bietet Herzenshilfe. Und trotzt damit dem ewigen Treiben in der Medina und den Tyranneien unserer mechanischen Zeit. Denen, die hastig an unserer Lebenszeit zerren. Die unsere Seelen so demolieren. Leilas Mund glüht lippenstiftrot und ihre Augenfalten lachen, als sie ihre Lider senkt, um Blindheit zu bezwingen. Damit nichts mehr ihren Sinn blockiert, damit das verborgene Orchester schwingt. Ihre Augenlider flackern ein wenig und legen sich erst schlafend über beide Ӧffnungen, als der Mann das Sprechen anfängt. Leila hört dem Mann mit den Babuschen – den spitz zulaufenden gelben Pantoffeln – zu und lauscht dem Klang seiner Stimme. Sie ergründet seine Worte, will die Geschichte des Mannes verstehen. Will alles andere vergessen: den Staub, das Dröhnen, die Schwaden, die Leila beiseite wischt, damit sie etwas sehen kann. Das, was unter der Dschellaba verborgen ist, die Oper, die hinter der Aufführung spielt.
Und während es Abend wird und dunkel in Marrakesch, kommt mehr Rhythmus rein. Leila spannt einen neuen Bogen und sofort tanzen ihre Finger wie auf den Saiten einer Gambri-Gitarre, tippen auf der Olivetti und fräsen Worte auf das Papier, wo man sie sehen kann, sie Kontur bekommen. Weil Leila einem Stummen eine Stimme schenken will. Den Lauten lauschen, die Essenz erkennen. Aus der sich Geschichten, Träume, manchmal Weisheit formen. Darin liegt es, Leilas Glück.
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»Und Leila besitzt eine Gabe, die in der stumpfen Moderne so selten ist wie das schnalzende Tack-Tack-Tack einer Olivetti: Die Gabe des Zuhörens und Schreibens.« <3
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