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Katmandu I’ll soon be seeing you
And your strange bewildering time
Will hold me down
Cat Stevens – Katmandu, 1970
Cat Stevens hat es nie geschafft. Das, was vom US-amerikanischen Liedermacher der 1960er und 70er Jahre Kathmandu am Nähsten kam, war die eigene Phantasie. Doch Cat Stevens hatte eine Armee: Ein Bataillon bewaffnet mit Blumenketten, Schlaghosen und Weltverbesserungsideen, das sich auf den Weg nach Osten macht. Die Hippies! Sie fliehen vor den Wohlstandsidealen der Mittelschicht und den bürgerlichen Zwängen der westlichen Welt. Naturverbunden und konsumkritisch, propagieren sie Frieden, freie Liebe und Drogenkonsum. In den fernöstlichen Religionen und Wertevorstellungen erhoffen sie sich Antworten auf die Fragen ihrer desillusionierten Generation.
Die Worte Cat Stevens werden zum Soundtrack einer Reise. Einer Reise, die zur Sinnsuche wird – und zum bewusstseinserweiternden Zustand. Eine Reise, die als Hippie Trail Tausende in ihren Bann zieht und deren wichtigste Station, neben dem indischen Goa, das nepalesische Kathmandu ist.
Direkt südlich des Durbar Squares, Kathmandus historischem Zentrum, befindet sich das Ziel: die Freak Street. Diese schmale Gasse ist Treffpunkt für Hippies und Rucksackreisende aus aller Welt. Die kiffenden, singenden, philosophierenden Typen mit ihren langen Haaren und zerschlissenen Kleidern gelten damals in Kathmandu als wahre Exoten. Ihr Auftreten, ihre Kleidung, wenn sie denn welche tragen, ihr Drogenkonsum sind wesentlich für den Namen Freak Street verantwortlich. Die Hippies lassen sich hier vor allem deshalb nieder, weil es in der Freak Street bis 1973 legale, von der Regierung betriebene Haschisch-Läden gibt, die erstklassige, cremige Ware aus dem Himalaja verkaufen.
Allein deshalb ist Kathmandu eine der bedeutendsten Stationen auf dem Hippie Trail, der von Europa durch den Nahen Osten bis nach Indien führt. Noch bevor Wander- und Bergsteigertourismus den Himalajastaat Nepal vollständig für sich beanspruchen, ziehen hunderte Individualpazifisten feinstes Haschisch durch hölzerne, konisch geformte Schillums.
Während das indische Goa in den Wintermonaten der Nabel der Hippiewelt ist, avanciert Kathmandu im Sommer zum spirituellen Zentrum der Blumenkinder. Hier tauchen sie in die buddhistische Lehre ein. Hier öffnen sich unter bunten tibetischen Gebetsfahnen transzendente Welten. Auf der Suche nach Spiritualität lassen sich Musiker wie Cat Stevens und Bob Seger von Kathmandu zu Liedtexten inspirieren.
Doch dann deklariert die nepalesische Regierung 1973 Haschisch und Marihuana zu illegalen Substanzen und Kathmandu verblasst langsam auf der geblümten Landkarte des Friedens. Sechs Jahre später bricht im Nahen Osten die Islamische Revolution aus und zeitgleich beginnt die Sowjetunion ihre Invasion in Afghanistan. Der Landweg von Europa nach Indien ist durch politische Spannungen blockiert, der Hippie Trail ist nur noch Geschichte, ein sagenumwobener Mythos.
Die komischen Gestalten in der Freak Street sind plötzlich verschwunden. Die Haschischwolken verwehen, ziehen auf unbestimmte Zeit hinaus in die Berge. Doch der Hippiegeist verfängt sich irgendwo in den schmalen Gassen. Festgesetzt, stark geschwächt und eingestaubt ist von ihm kaum noch etwas übrig. Doch ganz verschwunden ist er nicht. Heute hockt er in einem Lokal, in dem er noch immer sein darf, wie er vor 50 Jahren war. Zwischen Tee und Kuchen, Fruchtsäften und Milchshakes qualmt er eine Zigarette nach der anderen und das schon Dienstag früh um 8:23 Uhr. Mit ihm sitzen junge Nepalesen an Holztischen, über denen gefärbte Papierlampenschirme den finsteren Raum in ein dämmriges Licht tauchen. Die Wände sind so dunkel und verraucht wie in einer Hafenspelunke und beschmiert, beschrieben und bemalt wie in einem S‑Bahntunnel.
In der hinteren Ecke des Raumes, dort wo man nicht mehr unterscheiden kann, ob es draußen nun Tag oder Nacht ist, leuchtet eine kleine Lampe an der Wand. Das einzige Licht, das sie in die Umgebung wirft, fällt auf ein grün-gelb-rotes Hanfblatt, das sich genau unter ihr befindet. Neben dem Wirt, dessen rundliches Gesicht ein schneeweißer Bart rahmt, lächelt der junge Bob Marley von der Wand. Hier sitzen wir und wärmen unsere Hände von der morgendlichen Kälte an einem Glas Schwarztee. In der anderen Ecke des Raumes sitzt ein alter Mann am Fenster. Er beobachtet die Straße und genießt das erste Kuchenstück des Tages – Chocolate Love. Die langen ergrauten Dreadlocks sind zu einem Turban auf seinem Kopf zusammengebunden, der lockige Bart hängt in Flusen bis auf die Brust. Flickenweste und Jeans vervollständigen die Erscheinung. In der Hand steckt eine Selbstgedrehte. Der Mann, vielleicht ist er 60 oder 70 Jahre alt, sieht so aus, als hätte er das Ende des Hippie Trails verpasst. Als hätte er einfach inmitten einer Rauchwolke vergessen, dass diese Zeit vorbei ist. Als hätte er vergessen, Kathmandu zu verlassen. Das stimmt natürlich nicht; so lange hält kein Drogenwahn. Doch in und um die Freak Street herum begegnen uns immer wieder ein paar Althippies, die Kathmandu noch immer die Ehre geben. Für sie hat die Freak Street noch immer ihren Reiz.
Zurück in der Tee- und Kuchenbar sitzen zwischen uns und dem Mann am Fenster junge Nepalesen in der Mitte des Raumes. Fünf Jungs und zwei Mädchen in ihren letzten Teenagertagen, zwängen sich um einen der Tische. Auch sie rauchen. Doch anders als der Alte, der aus dem Fenster starrt, starren sie auf ihre Handys. Ein Wechsel der Perspektive. Ein Generationswandel. Hinter modischen Brillen schauen kluge Augen, die sich immer wieder vom leuchtenden Bildschirm lösen. Gesprächsfetzen wechseln zwischen verschiedenen Tonlagen und Lautstärken. Auf dem Tisch stehen Tee- und Kaffeegläser und ein Schachbrett. Gerade stürmt ein schwarzer Läufer nach vorn und rennt sich am weißen Turm den Kopf ein. Es ist noch immer Dienstagmorgen. Die einheimischen Jugendlichen sind die Bohemiens ihrer Zeit.
Mittlerweile stehen auch vor uns zwei Kuchenteller. Wir hatten die Wahl zwischen Karotten‑, Ingwer- und Apfelkuchen, zwischen Kokosnuss- und Kaffeekuchen. Entschieden haben wir uns für zwei schmackhafte Stücke Chocolate Love: Ein lockerer, saftiger Schokoladenteig mit einem luftig-cremigen Schokoladen-Sahne-Überzug. Dazu der Rauch aus einem Dutzend Zigaretten. Es ist ein Mix aus Kaffeeklatsch bei Oma und Hafenkneipe kurz vor Mitternacht. Das Flair stimmt. Ich bin begeistert!
Im ersten Stock ein etwas anderes Bild. Fünf Tische vor einer großen Fensterfront, 17-jährige in Schuluniformen, halb geleerte Gläser Chai. Motorradhelme beanspruchen mehrere Stühle. Warmes Licht durchflutet den Raum, dringt durch dichte Rauchschwaden. Die Wände sind mit Sinnsprüchen einer Generation beschrieben, die die Welt noch vor sich hat.
“If you want to achieve greatness stop asking for permission“, steht da, oder auch “Be u! The world will adjust”, oder “if u can read this, u can read”. Daneben fährt ein kiffender Hase mit langen Ohren und leeren Augen einen VW-Bus über die vergilbte Wand. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes fliegt ein Affe mit Pilotenhelm, Badehose und brennendem Schwanz durch die Luft. Mit der einen Hand schultert er die Streitkeule des hinduistischen Affengenerals Hanuman, mit der anderen trägt er ein Tablet Momos, gedünstete tibetische Teigtaschen, vor sich her. Im Hintergrund trällert Rihanna irgendetwas Poppiges, dann dröhnen Angus Youngs mächtige Gitarrenriffs aus den Boxen, bevor brasilianische Sambarhythmen durch den blaugrauen Zigarettendunst wabern. Die Musikauswahl ist so wild, wie die einander überlappenden Texte an den Wänden.
Seit 1965 existiert das Snowman Café bereits. Hier saßen die Hippies während ihrer Hochzeit, hier schlemmten die Einwohner Kathmandus, als die Hippies fern blieben und heute teilen sich sowohl Einheimische als auch Ausländer den kleinen Laden mit dem leckersten Kuchenangebot der Stadt.
Draußen auf der Freak Street schaffen es die Strahlen der Sonne gerade auf die Pflasterstraße. Billige Hotels und Gasthäuser reihen sich neben Restaurants und Souvenirläden in schmalen, heruntergekommenen Häusern. Mehrere Stockwerke ragen sie in die Höhe. Hölzerne Balustraden und Flügeltüren befinden sich vor den Fensteröffnungen in den oberen Etagen. Hier in den Kneipen der Freak Street ziehen junge Nepalesen abends an Wasserpfeifen und teilen sich große Flaschen des herben Gorkha Biers.
Unten auf der Straße wird Kifferbedarf verkauft. Winzige Tattoostudios befinden sich neben Wechselstuben. Schmuck- und Edelsteingeschäfte folgen auf Reiseagenturen und Buchläden. Hunde mit flauschig-staubigem Fell liegen in der Sonne. Hölzerne nepalesische und tibetische Masken hängen vor den Eingängen der Geschäfte, in denen Wanderkarten, Gebetsketten und buddhistische Klangschalen angeboten werden. Die Verkäufer sitzen auf kleinen Schemeln auf der Straße, freundlich mit den Nachbarn schwatzend und Chai trinkend.
Zwischen den Touristengeschäften befinden sich immer wieder kleine Krämerläden und mobile Obstverkäufer. Etwas abseits Apotheken und Drogeriegeschäfte. Lokale Restaurants verkaufen Dal Bhat, das Nationalgericht Nepals, bestehend aus Reis, Linsen und verschiedenen Curries. Einheimisches Leben trifft auf touristische Wirtschaftsbetriebe. Doch die Ausländer bleiben in einer angenehmen Minderheit.
Die Freak Street wirkt ausgeglichen, harmonisch. Aus einem Geschäft, das spirituelle CDs – Himalajaklänge und Meditationsmusik – verkauft, klingt das buddhistische Mantra des Mitgefühls „Om Mani Padme Hum“ in einer sanft wiegenden Melodie über die Straße. Ununterbrochen, den ganzen Tag. Daneben sitzen Nepalesen und Touristen auf den Treppenstufen eines kleinen Cafés, das neben organischem Kaffee und heißer Zitrone mit Ingwer und Honig auch Käsebrote verkauft.
Motorräder und klapprige Taxis rollen mit stinkenden Abgasen an uns vorbei, immer bereit, sich mit lautem Hupen Aufmerksamkeit zu verschaffen. Zwischen den Schatten der Häuser spazieren einheimische Jugendliche, deren Frisuren ich bisher nur auf den Köpfen von Fußballspielern gesehen habe. Sie tragen Collegejacken, Wollpullover, lässige Hemden und tief sitzende Hosen. Der eine oder andere bedeckt seine Atemwege mit einem Mundschutz, um sich vor dem immerwährenden Staub der Stadt zu schützen. Junge Frauen flanieren wahlweise mit kurzen Röcken und hohen Hacken oder in hautengen Jeans und schweren, knöchelhohen Stiefeln an uns vorbei. Roter Lippenstift glänzt in der Sonne.
In der Freak Street kleidet man sich offen, nach westlichem Vorbild. Der Stil ist dennoch authentisch. Die vielen jungen Menschen wirken ungebunden, natürlich. Hier trauen sich Paare Hand in Hand spazieren zu gehen und sich öffentlich zu küssen – etwas, dass wir in anderen Teilen des Landes, in anderen Teilen der Stadt kaum zu Gesicht bekommen. Kathmandus junge Mittelschicht saugt an der Freak Street den freien Geist vergangener Hippietage, wie ein Baby die Milch an der Brust seiner Mutter.
Am Abend verengt sich die ohnehin schmale Straße mit einer Hundertschaft parkender Motorräder. Wenn die Sonne untergeht und der Arbeitstag endet, füllen sich die vielen Bars und Restaurants. Freunde kommen zusammen, Tee wird getrunken, Bierflaschen werden geöffnet und Wasserpfeifen zum Dampfen gebracht. An den Wochenenden dröhnt Livemusik aus den Bars über der Freak Street. Unbeschwerte Stunden in lockerer Atmosphäre. Doch die Nacht ist kurz, der nepalesische Tagesrhythmus verschoben. Spätestens um 22 Uhr ist die Party zu Ende, die Lichter gehen aus. Morgen ganz früh, sitzen wir wieder vor einem Stück Chocolate Love.
Antworten
Schöner Bericht sehr gut beschrieben ich war selbst das erste mal 1991 und nochmals 2014 ein Jahr vor dem Erdbeben in Nepal. Vieles hat sich in dieser Zeitspanne verändert natürlich auch die Freak Street. Aber es gab immer wieder Momente und Situationen wie bei einer kleinen Zeitreise. Ja der Snowman der ist immer noch ein wunderbarer Ort und die cakes sind ein Teil der Zeitreise.
Was gibt es schöneres als mit Schokokuchen in die Vergangenheit zu schlittern? 🙂
Das werde ich mit Sicherheit tun! Ihr habt das Flair so schön eingefangen.
Wir waren vor kurzem in Kathmandu. Leider haben wir es auf unserer Rundreise nicht in die Freakstreet geschafft. Zu gerne wäre ich auf den Spuren der Hippies gewandelt auch wenn diese Zeit lange vorbei ist.
LG
RenateDie Freak Street liegt gleich neben dem Durbar Square. Wenn du das nächste Mal nach Kathmandu kommst, solltest du unbedingt vorbei schauen – nicht nur für Chocolate Love und Hippie-Flair 😉
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