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Anreise:
Der Busbahnhof von Jammu war ein abstoßender Ort. Überall lag Müll, die Fassaden und die Straße waren völlig heruntergekommen und es roch erbärmlich. Ich hatte gerade die Fahrt im Jeep eines Wahnsinnigen aus Kaschmir heraus überstanden. Am Bahnhof traf ich auf zwei Israelis, die ebenfalls nach Dharamsala fahren wollten und in wilden Verhandlungen versuchten, den Preis für das Busticket zu drücken. Auch wenn ich solche Verhandlungen nicht leiden kann, war ich froh über ihre Gesellschaft. Die krassen Erfahrungen mit den Betrügern in Kaschmir saßen mir noch heftig in den Knochen und die Verunsicherung hatte mich nicht verlassen.
Ich werde nie vergessen, welche Luft uns empfing, als wir durch die Industriegebiete Jammus fuhren. Es war kein Zufall, dass viele Busreisende Atemmasken trugen. Die Luft war schwarz und rußig, einatmen musste um jeden Preis vermieden werden. Die unzähligen Fabriken hatten offensichtlich keine Filter und verströmten dicken Qualm, der die Sonne verdunkelte. In meine Nase stiegen die abstoßenden Gerüche von brennenden Plastikbergen und die Abgase der Busse, Autos und Trucks. In der Kombination erzeugte das ein widerliches und lebensfeindliches Gemisch. Nach der klaren Luft in den Bergen kam ich mir vor, als wäre ich in die Hölle hinabgefahren.
Die versprochene Ankunftszeit um zwei Uhr morgens war nichts als Wunschdenken. Nach einer Höllentour über eine Piste voller Schlaglöcher, die mir mehrfach Kontakt mit der Decke des Busses einbrachten, wurden wir um drei Uhr morgens vor den Pforten eines Regionalflughafens abgesetzt. Uns blieb nichts anderes übrig, als uns einen überteuerten Wagen nach Dharamsala zu teilen. Um diese Zeit gibt es halt keine große Konkurrenz. Die Israelis versuchten zwar wieder, zu verhandeln, aber ich verspürte keine übertriebene Lust, die Nacht auf dem Bordstein zu verbringen.
Dharamsala erreichten wir schließlich um vier. Wir begannen den Ort im faden Licht der wenigen Laternen zu erkunden, konnten aber kein Gasthaus mit besetzter Rezeption finden. So froren wir eine Stunde in dem dunklen Kabuff der örtlichen Bushaltestelle vor uns hin. Endlich erspähte uns ein Hotelangestellter, der in den frühen Morgenstunden auf der Suche nach gestrandeten Touristen war.
Nach der Ankunft im Gasthaus war ich euphorisch und die Anspannung der letzten Woche fiel ein wenig von mir ab. Seit meiner Ankunft hatte ich mich nur in Extremsituationen bewegt.
Ich hörte Musik und wartete noch, bis die Sonne aufgegangen war, um einen Blick auf meine Umgebung zu werfen. Das eigentliche Dharamsala liegt weiter unten im Tal, der obere Teil, Mclodeonganj, ist in den Hang gebaut und von meinem Balkon hatte ich einen Blick auf die umliegenden Berge.
Dharamsala / McLodeonganj:
In Mclodeonganj lebt der Dalai Lama. Aus Tibet ist er über den Hauptkamm des Himalaja hierher geflüchtet und hat von der indischen Regierung Asyl erhalten. Deshalb findet sich hier die größte tibetische Gemeinschaft außerhalb von Tibet. Noch weiter oben liegt Dharamkot, das ursprünglicher und dörflicher daherkommt und fast keine Souvenirläden besitzt, dafür einen hohen Hippieanteil.
Leider hielt mein positives Gefühl nicht lange an, das Erlebte wirkte zu stark nach.
Ich hatte mich noch nie so fremd und alleine gefühlt wie in diesen ersten Wochen in Indien. Bislang war ich recht abgeschirmt von der Armut, hier war ich nun endgültig mit ihr konfrontiert. Dharamsala zog eine Menge armer Menschen an, die sich erhofften, von den Touristen zu profitieren. Bettler zerrten an mir und folgten mir längere Strecken, während sie mir ihr Elend klagten. Mir fiel vor allem eines auf: Viele Frauen bettelten mit einem Säugling auf dem Arm und riefen schon von Weitem, dass sie kein Geld wollten, sondern nur Milchpulver für ihr Baby. Ersteht man jedoch das gewünschte Gut, so wird es umgehend wieder an den Shop zurückverkauft. Ich will und kann das nicht bewerten, aber ein bisschen verstört war ich allemal, als ich begriff, welche Masche dahintersteckte. Vor allem, dass es sich in der Regel nicht um den eigenen Säugling handelt, sondern dass viele Babys ausgeliehen werden, um Mitleid zu erzeugen. Freilich schmälert das in keiner Weise die bestehende Armut.
Ansonsten präsentierte sich der Ort als bunter Mix. Es gab unzählige Läden, die wunderbare Kleinode, aber auch furchtbaren Kitsch im Angebot hatten. Daneben prägten vereinzelte Tempel, Gasthäuser, Restaurants, Yogaschulen, Massagesalons und Treckingagenturen den Ort. Die Angebote waren zumeist auf den spirituellen Touristen und die Verehrung des Dalai Lamas zugeschnitten. Leider geht das in meinen Augen oft zu weit. Schon lange ist die grundsätzlich zu unterstützende »Free Tibet«-Kampagne zu einem echten Kassenschlager und einer eigenen Marke mutiert. Und längst nicht alles Geld, das unter diesem Slogan verkauft wird, kommt wirklich den Projekten und Hilfsangeboten der tibetischen Gemeinde zugute. Trotz allem ist Dharamsala ein Mikrokosmos, den es so auf der Welt sicher kein zweites Mal gibt.
Ich besuchte das tibetische Museum. Trotz allem was man zu wissen meint, ist es sehr bedrückend zu erfahren, wie systematisch die tibetische Kultur im Zuge von Maos »Kulturrevolution« zerstört wurde. Ganze Klöster und Kultstätten wurden dem Erdboden gleich gemacht, Aktivisten für die tibetische Sache gnadenlos verfolgt, gefoltert und ermordet. Ich würde so gerne einmal Tibet bereisen – doch ich fürchte, das heutige Bild würde mich sehr deprimieren.
In Dharamsala schien sich jeder im Yogafieber zu befinden. Gerade das stieß mich ab. Wenn ich das Gefühl bekomme, nur Esoteriker um mich herum zu haben, dann will ich selbst keiner mehr sein. Auch der Dalai Lama war in McLodeonganj, was aufgrund der vielen Reisen »seiner Heiligkeit« nicht selbstverständlich ist. Es bestand die Möglichkeit, an seinen »teachings« teilzunehmen. Ich entschied mich jedoch dagegen. Mir ging ziemlich auf die Nerven, dass fast alle Backpacker und Touristen von nichts anderem als Yoga und diesen »teachings« sprachen. Das erschien mir oberflächlich. Ich persönlich wusste noch immer viel zu wenig über den Buddhismus, um mich ernsthaft mit ihm auseinanderzusetzen. Auch der Charakter dieser »teachings«, zu denen über tausend Menschen strömen – die meisten davon Touristen – stieß mir bitter auf. In meinen Augen muss das Ganze zu einer Show verkommen, mochte der Dalai Lama noch so sehr er selbst sein. Ich hätte gerne einmal seine Aura verspürt, aber in diesem Rahmen verzichtete ich lieber darauf. Ein Mal sah ich, wie Touristen und Mönche eines dieser »teachings« verließen. Während die Touristen tief in Gedanken versunken waren, verließen die Mönche lachend den Ort. Scheinbar ließ sich die Botschaft des Dalai Lama besser mit dem Herzen verstehen als mit dem Verstand.
Versteckt in den Gassen stieß ich hingegen auf kleinere Klöster, die mehr Ursprünglichkeit ausstrahlten und mir verdeutlichen, dass trotz allen Ausverkaufs die Spiritualität vieler Mönche und ihrer Unterstützer ungebrochen ist.
Um mit dem Städtchen warm zu werden, war mir jedoch zu viel los und den Kommerz um den Dalai Lama fand ich unerträglich. So zog ich jeden Tag alleine los, um meinen Frieden in den Bergen zu finden. Oftmals brach ich unvorbereitet auf, mit dem vagen Ziel, den nächsten, vor mir aufragenden Berg zu erklimmen.
Als Verpflegung hatte ich nur ein paar Momos im Gepäck – geröstete oder gedünstete Teigtaschen, gefüllt mit Gemüse und garniert mit einer Chilisauce. Häufig unterschätzte ich die Aufstiege. Manchmal blieb mir nichts anderes übrig, als mich am Gestrüpp nach oben zu ziehen, wenn die Steigung zu groß wurde. Auf den Gipfeln traf ich häufig auf Schäfer, die hier mit ihren Hunden und Schafen weideten.
Eine weitere Spezialität von mir wurden Aufstiege im Dunklen, weil ich mich gerne überschätzte.
So schön solche Bilder sind, wer sie aufnimmt und kein Zelt danebensteht, macht eindeutig etwas falsch…
Noch gefährlicher war, wenn ich eine leichte Entrückung verspürte und unbekümmert von einem Felsen zum anderen sprang, so als könne ich gar nicht abstürzen. Ich bekam zwar mit der Zeit eine gewisse Sicherheit, aber ich musste mir immer wieder neu in Erinnerung rufen, dass ein kleiner Fehltritt schwerwiegende Folgen haben würde. Doch ich wagte mich immer wieder halsbrecherische Wege hinauf. Hier spürte ich mich.
Selten zuvor fühlte ich mich so eng mit der Natur verbunden. Ich kletterte bis zur Erschöpfung und weit darüber hinaus. Manchmal musste ich mich ganz auf meinen Tastsinn verlassen. Je weniger die Wege begangen waren und je weiter ich mich abseits der Zivilisation begab, desto wohler fühlte ich mich. Das Naturerleben erdete mich und meine Sinne schärften sich. Es tat mir ausgesprochen gut, so viel zu laufen.
Es dauerte jedoch immer einige Stunden, bis der fortwährende Strom meiner Gedanken allmählich verstummte oder zumindest abnahm und an ihre Stelle eine selten erlebte Klarheit trat. Nun benötigte ich meinen Geist dazu, die Konzentration aufrecht zu erhalten, um keine Fehler zu machen, die nahe am Abgrund zu fatalen Konsequenzen führen konnten. Ich fühlte mich lebendig wie selten in meinem Leben. Die umgebenden Geräusche, ein vorbeiziehender Vogel, die Berge um mich herum und der Pfad vor meinen Augen – das war alles was zählte. Im Hier und Jetzt zu sein, das gelang mir sonst nur selten und ich genoss diese Momente in vollen Zügen.
Auf meinen Streifzügen stieß ich auf kleinere Dörfer, die noch viel ursprünglicher der tibetischen Kultur folgen und von Ackerwirtschaft geprägt sind.
Doch Indien blieb mir weiter sehr fremd. Ich vermisste Freunde und Familie. Aus der Ferne erschien mir das Leben, das ich aufgegeben hatte, oft verlockend und ich hatte viele Ideen, was ich dort anders machen würde. Denn eigentlich wünschte ich mir in diesen Tagen nichts sehnlicher, als nach Hause zurückzukehren. Doch aufgeben kam nicht in Frage, sonst hätte ich mich nur als Versager gefühlt. Ich war schließlich aufgebrochen, um ein neues Kapitel aufzuschlagen und ein anderes hinter mir zu lassen. Irgendwann musste der der Funken von der friedlichen Umgebung auf mich überspringen!
Ich blieb ein Einzelgänger. An diesem Punkt war ich ambivalent: Eigentlich wünschte ich mir nichts sehnlicher, als endlich auf Gleichgesinnte zu treffen, mit denen ich Erlebnisse und Reisewege teilen konnte; gleichzeitig war ich für Andere verschlossen und tat alles, um meine Einsamkeit zu manifestieren.
Doch zwei Begegnungen beeindruckten mich tief. Zunächst traf ich in den Bergen einen jungen Tibeter, wir kamen ins Gespräch und teilten einen Teil des Weges. Wir unterhielten uns über die Zukunft des tibetischen Volkes und der Welt. Er betonte, wie entscheidend es sei, Gutes zu tun, um ebensolches zu erfahren. Karma. Sich selbst deswegen aber nicht als »gut« oder gar »besser« anzusehen, sondern darüber Andere entscheiden zu lassen. Ehrlich zu sein und nicht mit Fingern auf Andere zu zeigen, sondern sie direkt auf ihre Fehler anzusprechen. So banal diese Weisheiten wirken mochten, so gut tat es, sie so unschuldig ausgesprochen zu hören, von jemandem, der offenbar genau das lebte. Mein Begleiter hatte seine Heimat verlassen müssen, meinte jedoch, es sei völlig normal, mit dem Körper die Heimat zu verlassen und trotzdem über die Seele mit den Ahnen in Verbindung zu bleiben. Seine Ausgeglichenheit und seine Fröhlichkeit haben mich umso mehr beeindruckt, da er nach dem Tod seiner Eltern seinen Weg alleine gehen musste und dies offenbar voller Würde tat, ohne Zorn und Verbitterung.
Pinku und Siddartha:
An einem anderen Tag wurde ich am Waldesrand von einem Sikh auf mein Athen-Shirt angesprochen, das mir mein Bruder zu meinem Geburtstag geschenkt hatte. Ob ich wohl ein griechischer Philosoph sei? Jedenfalls nahm ich seine Einladung an, mit ihm in seine Teestube zu kommen. Er hieß Pinku und wir redeten uns schnell in Fahrt. Wir sprachen über seine und meine Welt und das hektische Leben in der westlichen Welt. Bald erzählte ich ihm offen aus meinem Leben.
Wie üblich für einen Sikh trug Pinku einen langen, in seinem Fall bereits ergrauten Bart, sein Alter konnte ich schwer schätzen, er wirkte uralt und blutjung zugleich. Auffällig und einladend waren seine Augen – voll wacher Intelligenz, aber auch Wärme, als würde ein inneres Feuer in ihm brennen. Er strahlte eine Güte aus, die ich selten erlebt habe und die ihn jugendlich erscheinen ließ. Da ich das starke Gefühl empfand, ihm grenzenloses Vertrauen entgegen bringen zu können, erzählte ich ihm offen über die Traurigkeit in meinem Herzen aufgrund der schrecklichen Dinge, die in der Welt passieren. Ich schilderte ihm meine Probleme damit, immer über Gott und die Missstände der Welt zu grübeln und daher nie zur Ruhe zu kommen und kaum genießen zu können. Ich erzählte ihm Teile meiner Lebensgeschichte und von meiner Suche nach Glück und Essenz, die mich nun zu ihm in die Teestube am Rande des Waldes geführt hatte.
Pinku betonte, wie wichtig es sei, mit dem Herzen und nicht so sehr mit dem Verstand zu handeln und auf die innere Stimme zu hören. Er meinte, das Heimweh, das ich verspürte, hinderte mich nur daran, meine Auszeit zu genießen und glücklich wieder zurück zu kommen, was die Daheimgebliebenen viel glücklicher machen würde, als wenn ich erschöpft und traurig heimkäme. Sein Anliegen war mir zu vermitteln, dass all dieses Grübeln keinen Sinn hätte, gleichzeitig verstand er, warum ich ein Buch über meine Erfahrungen schreiben wollte. Schließlich sollte das der Verarbeitung dienen und Andere erreichen, die ähnlich trostlose Zeiten durchmachten. Er riet mir aber, mich nicht zu sehr von dieser Arbeit bestimmen zu lassen, sondern mich immer wieder auf positivere Dinge zu fokussieren, um nicht meine innere Kraft zu verlieren.
Anschließend erzählte mir Pinku aus seinem Leben. Er stammte wie die meisten Sikhs aus dem Bundestaat Punjab, war in begüterten Verhältnissen aufgewachsen, hatte lange Jura studiert und schließlich als Anwalt gearbeitet. Später hatte er sich von der Welt abgewandt und war Mönch geworden. Nach Jahren des inneren Rückzugs war ihm die Liebe seines Lebens begegnet. So wandte er sich erneut der Welt zu, bis er seine Liebe vor einem Jahr verloren hatte. Seitdem lebte Pinku – wie er sich ausdrückte – in großer »Konfusion« und versuche sich selbst wieder zu finden. Mir war besonders sympathisch, dass er kein perfekter Lehrer war, wie der Dalai Lama oft erschien, sondern ein Mensch mit Fehlern, der sich dieser bewusst war und sich nicht scheute, über sie zu sprechen. Er erzählte mir, wie wenig er von den Einheimischen anerkannt wird und das es unmöglich für ihn sei, sich deren Respekt zu erwerben. Auch die heiligen Männer stehen außerhalb des Kastensystems und ihre Wahrnehmung schwankt zwischen Bewunderung und Verachtung.
Was mich sehr fasziniert, aber auch erschreckte, war, als er erzählte, dass er seit über einem Jahr das Licht in seiner Hütte nicht mehr angemacht hatte. Weil er nichts sehen wollte und die Dunkelheit um sich herum brauchte. Ich kannte solche Phasen gut, in solchen Zeiten war es um den Seelenzustand nicht gut bestellt. Doch trotz aller offensichtlichen Widrigkeiten besaß Pinku diese Fröhlichkeit, diesen Schalk in seinen Augen und ein ausgeprägtes Interesse an anderen Menschen. Die Teestube ermöglichte ihm eine äußerst bescheidene Existenz. Voller Freude und neuer Kraft habe ich ihn an diesem Abend verlassen.
Parallel zu den Begegnungen mit ihm las ich Siddhartha. Das Buch offenbarte mir viele spannende Aspekte. Auch ich musste wohl eines Tages lernen, aufzuhören, die Welt aufgrund der Ungerechtigkeit in ihr zu verachten, mir selbst und anderen zu verzeihen und die Ambivalenz der Welt als Einheit und weniger als Gegensatz zu verstehen. Meine moralischen Ansprüche waren vielleicht nicht falsch, aber wohl von kaum einem Menschen zu erfüllen und auch ich scheiterte immer wieder selbst an ihnen. Besonders angesprochen hat mich, dass Siddhartha in der Erzählung Buddha nicht nachfolgt (in Hesses Erzählung sind Buddha und Siddhartha zwei verschiedene Personen), obwohl er diesen als heiligen Mann wahrnimmt, weil er spürt, dass er nur eigenständig Erleuchtung finde. Er kann Buddhas Weisheit nicht einfach übernehmen. Nur die Wahrheit, die Siddhartha in sich selbst entdecken konnte, erschien ihm wertvoll, lebendig und wirksam. Das entsprach sehr stark meinen eigenen Vorstellungen, meinen eigenen Weg jenseits von vorgefertigten Glaubens- und Moralvorstellungen zu finden. Mit Hesse teile ich auch das „Schicksal“ des Pfarrerkindes. Die Überwindung des Leids als Weg der Erleuchtung konnte vielleicht auch meinem Leben einen ganz anderen Sinn verleihen. Andererseits war das vielleicht genau die Bürde, die ich überwinden musste. Schließlich versuchte auch ich, das Kreuz der Welt zu tragen und konnte nicht anders, als daran zu zerbrechen und zu scheitern. Spannend war für mich, wie es Siddhartha trotz massiver Rückschläge gelingt, im Verlauf der Erzählung seine Perspektive auf die Welt zu verändern:
„Das Ich war es, von dem ich loskommen, das ich überwinden wollte. Ich konnte es aber nicht überwinden, konnte es nur täuschen, konnte nur von ihm fliehen, mich nur vor ihm verstecken. Wahrlich, kein Ding in der Welt hat so viel meine Gedanken beschäftigt wie dieses meine Ich, dies Rätsel, dass ich lebe, dass ich einer und von allen anderen getrennt und abgesondert bin…“
Am Ende der Erzählung erlebt sich Siddhartha dann als Teil eines großen Ganzen, das uns alle ausmacht und fühlt sich nicht mehr getrennt von den anderen Menschen und der ihn umgebenden Natur. Alles ist beseelt von demselben Funken, der nichts anderes ist als augenblickliche Existenz.
„… langsam blühte, langsam reifte in Siddhartha die Erkenntnis, das Wissen darum, was eigentlich Weisheit sei, was seines langen Suchens Ziel sei. Es war nichts als eine Bereitschaft der Seele, eine Fähigkeit, eine geheime Kunst, jeden Augenblick, mitten im Leben, den Gedanken der Einheit denken, die Einheit fühlen und einatmen zu können. Langsam blühte das in ihm auf, strahlte ihm aus Vasudevas altem Kindergesicht wider: Harmonie, Wissen um die ewige Vollkommenheit der Welt, Lächeln, Einheit.«
Hermann Hesse, Siddhartha.
Dies war die Essenz, meinen Weg musste ich jedoch ähnlich wie Siddhartha selbst entdecken. Erlebt hatte ich diesen Zustand schon einige Male, in der Regel jedoch mithilfe psychoaktiver Substanzen. Dennoch wusste ich, dass es auch für mich einen Weg geben musste; doch ich musste einen organischen Pfad finden, ihn zu beschreiten. Nur dann würde ich in der Lage sein, dauerhaften Frieden zu erlangen.
Am letzten Tag wollte ich mich von Pinku verabschieden, aber leider war sein Shop geschlossen. Ich habe ihm einen Schwarzwälder Kirschkuchen mit einer persönlichen Nachricht hinterlassen und dem Zusatz: „sugar for the whole month.“ Sollte ich nochmal nach Dharamsala kommen, werde ich nah ihm suchen. Ich hatte den Eindruck, dass er mich noch viel hätte lehren können.
Wer erfahren will, was hinter mir lag, als ich Dharamsala erreichte, erfährt das in der Reisedepesche »Gefangener des Hausboots – Lost in Paradise«…
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Also nur kurz: Es macht mich entsetzlich traurig, wenn ich Reiseberichte aus dem Himalaya lese. Ich bin 1979 im Himalaya gewesen: von West nach Ost, Kaschmir, Manali, Himachal Pradesh, Dharamsala, Pokhara…Die Luft war so rein und klar. Der Himalaya war frei von Touristen und wenn ich gewußt hätte, daß wir Freaks u Hippies die Tore öffneten für all die,die folgen würden, ich hätte darauf verzichtet…So schade, so schade…
Wundervoll. Ich habe selten einen Bericht gelesen, der mich so tief bewegt hat wie deiner. Die Sehnsucht nach Freunden und Familie, aber gleichzeitig der Wille, nicht aufzugeben – Einzelgängertum und der Wunsch, auf Gleichgesinnte zu treffen…das sind Dinge, die mir so vertraut sind. Ich finde, wenn man es durchzieht, fühlt man sich am ende einfach großartig, weil man etwas erlebt hat, was man so wahrscheinich nie wieder tun wird. Nach meiner Reise als Backpackerin durch Thailand ging meine nächste Reise erst mal wieder ganz gesittet ins Hotel Brixen. 😉
Liebe Isa! Danke für Deine tolle Rückmeldung; schön, dass Du DIch in Teilen meines Berichts wiedererkennst. Ich habe diese Ambivalenz auf all meinen Reisen erlebt und auch mir ging es so, dass ich nach langen Phasen der Einsamkeit glücklich war, diese Erfahrungen gemacht zu haben und habe es gegen Ende meiner Reisen genossen, mich mit Anderen Reisenden, denen es ähnlich erging, auszutauschen. Nur eines ist bei mir ganz anders: ich möchte oder muss diese Erfahrungen immer wieder machen, mich zieht es immer weiter weg von den ausgetretenen Pfaden. Ich kann allerdings gut nachvollziehen, dass es irgendwann genug ist mit dem (oft) einsamen Herumziehen. Ich scheine das (noch) zu brauchen, bis ich den Ort finde, an dem ich mich niederlassen will. Trotzdem glaube ich nicht, dass ich jemals aufhören werde, zu reisen. Ganz liebe Grüße! Oleander
Ein toller Bericht ! Ganz ehrlich und ohne Schnörkeleien.
Herzlichen Dank!
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