Der 55km Spessart-Hike

Am Anfang stand der Wunsch nach – ja, nach was eigent­lich? Nach einer extre­men Erfah­rung? Nach ein­sa­men Wan­de­run­gen im peit­schen­den Regen, der rau­en Natur trot­zend? Oder trieb mich irgend­ei­ne Art von über­ge­ord­ne­ter Agen­da, eine vage Hoff­nung, dass ich am Ende auf mehr als eine aus­ge­dehn­te Wan­de­rung zurück­bli­cken wür­de, an? Auf mehr zurück­bli­cken. Was wür­de das über­haupt sein? Und was genau müss­te pas­sie­ren, dass die­ses Mehr erfahr­bar wird? Die­se Fra­gen trie­ben mich im Vor­feld um.

Ich hatte Bilder im Kopf von dem was kommen könnte

Ich sah mich in unweg­sa­men Gelän­de, gegen den Wind anlau­fend. Mir gefiel die Idee. Ein­fach irgend­wo lau­fen. Mit einer Kar­te im Ruck­sack und bes­ten­falls einer gro­ben Vor­stel­lung, in wel­che Rich­tung ich woll­te. Es ging nicht so sehr dar­um, wo ich mich befand, son­dern viel­mehr dar­um, wo ich mich nicht mehr befand: Die ver­trau­ten urba­nen Struk­tu­ren, so viel stand fest, woll­te ich hin­ter mir las­sen. Ich woll­te in den offe­nen Raum. Ich sah Gras, Flüs­se, Bäu­me. Ich sah wei­chen Wald­bo­den. Ich hör­te tie­fes Laub unter mei­nen Stie­feln rascheln und stell­te mir vor, wie ich über quer­lie­gen­de Äste stieg. Ich sah uri­ge Wirts­häu­ser mit gelb­ge­tön­ten Fens­ter­schei­ben, an denen ich des Nachts anklop­fen wür­de, um nach einer Unter­kunft zu fra­gen. Dar­in wür­de die Luft bier­ge­schwän­gert sein und eine homo­ge­ne Grup­pe aus leicht betrun­ke­nen Dorf­be­woh­nern wür­de etwas irri­tiert zu mir sagen: »Leu­te wie dich sehen wir hier sel­ten.«

Mein Bru­der, immer für eine Wan­de­rung zu begeis­tern, macht Nägel mit Köp­fen. Den »Spes­sart­bo­gen« wirft er als Schau­platz für die­ses Vor­ha­ben in den Ring. Ich buche ein Bahn­ti­cket. Spar­preis. Zug­bin­dung. Vor­freu­de.

Unwet­ter über Deutsch­land am Vor­tag der Abfahrt. Klaus Kle­ber legt die Stirn in Fal­ten. Hef­ti­ge Regen­fäl­le, gan­ze Dör­fer ste­hen unter Was­ser, Men­schen ster­ben. Den­noch: Hes­sen, so die Erkennt­nis aus dem Heu­te-Jour­nal, ist wei­test­ge­hend ver­schont geblie­ben. Das Han­dy vibriert umge­hend. Mein Bru­der: »das wird ’ne Regen­schlacht.« Aber wir woll­ten es so.

Tag 1: Schlüchtern-Mernes

Hier ste­he ich nun mit einer Stun­de Ver­spä­tung auf dem Markt­platz von Schlüch­tern in Süd­hes­sen. Es nie­selt aus einem durch­weg grau­en Him­mel. Den­noch scheint mir das Adre­na­lin bis in die Fin­ger­nä­gel zu schie­ßen, die Vor­freu­de lässt mich kaum ruhig ste­hen. Uli erscheint, das GPS-Gerät hält er bereits in der Hand. Wir sind uns einig: Jetzt soll es los­ge­hen.

Es geht zum Start steil berg­auf. Wir brau­chen eine Wei­le, um unse­ren Rhyth­mus zu fin­den. Der tief­grü­ne, üppi­ge Spes­sart ver­schluckt uns förm­lich. Die Geräu­sche der Tie­re, des Win­des und des Regens – es ist nichts da, was sie unter­bre­chen könn­te. Als der Wald sich wie­der lich­tet, zieht sich unser Weg wie eine Schnei­se durch hohe Wie­sen. Wir beob­ach­ten Rehe in der Fer­ne, zwei Hasen hop­peln über die Stre­cke. Da liegt er, der freie Raum. Wir fül­len ihn mit gro­ßen Schrit­ten.

Was wir zunächst als unan­ge­neh­me Begleit­erschei­nung abtun, wird uns spä­ter noch an unse­re Gren­zen brin­gen: nas­se Socken. Beim Stap­fen durch nas­ses, hohes Gras sickert Was­ser in die Schu­he. Da kann auch das Gore­Tex am Wan­der­stie­fel nichts mehr aus­rich­ten. Die Fol­gen machen sich kurz dar­auf bemerk­bar: Der Fuß reibt am nas­sen Socken, wodurch sich schmerz­haf­te Bla­sen an den Unter­sei­ten der Zehen bil­den. Es deu­tet sich an, in wel­che Rich­tung das gesam­te Unter­fan­gen geht: Es wird stark von sei­ner phy­si­schen Her­aus­for­de­rung geprägt sein.

Wir behal­ten unse­re posi­ti­ve Ein­stel­lung und lau­fen unent­wegt durch den manch­mal son­der­bar dunk­len Wald. Es scheint ein Rhyth­mus gefun­den. Die Pau­se legen wir auf einem Hoch­sitz ein und unter­hal­ten uns. Der Wald wirkt wie ein gro­ßes Laby­rinth.

Das Lau­fen könn­te so bei­läu­fig sein, wenn nur die­se Bla­sen nicht wären!

Spessart-Waldweg

Als wir unse­re Her­ber­ge errei­chen, zeigt das GPS-Gerät 24 Kilo­me­ter an. Wir essen Schnit­zel im Gast­haus, des­sen Fens­ter­schei­ben tat­säch­lich die­se uri­ge gel­be Tönung haben. Trotz­dem, der Innen­raum ist hell und freund­lich und wie exo­ti­sche Son­der­lin­ge aus der Stadt wer­den wir hier auch nicht behan­delt. Klar, Wan­de­rer wie wir sind schließ­lich genau die Ziel­grup­pe des ein­zi­gen Gast­hofs in Mer­nes. Die Erwar­tun­gen an die Nacht sind klar for­mu­liert. Schu­he und Socken sol­len trock­nen und der Kör­per maxi­mal rege­ne­rie­ren.

Tag 2: Mernes-Gelnhausen

Wir behan­deln die Bla­sen mit Pflas­tern, doch so leicht lässt sich deren Exis­tenz nicht kaschie­ren. Als wir nach 10 Kilo­me­tern durch den Kur­ort Bad Orb stap­fen, schmerzt jeder Schritt. Weil ich offen­bar eine Schon­hal­tung ein­neh­me, zie­hen die Schmer­zen bis ins Bein hoch. Für einen Moment scheint mir die Idee, jetzt noch 24 Kilo­me­ter drauf­zu­le­gen, fast unver­ant­wort­lich. Wir pau­sie­ren. Schu­he aus und erst­mal was Essen. Dann der inne­re Mono­log:

»Du woll­test eine doch extre­me Erfah­rung machen. Jetzt liegt sie vor dir, sogar auf dem Sil­ber­ta­blett. Es geht um’s durch­hal­ten. Wei­ter zu machen, obwohl es weh­tut.«

Okay wei­ter. Ich will es jetzt schaf­fen. Moti­va­ti­ons­schub. Das Ziel ist das Ziel.

Bad-Orb

Solan­ge wir warm blei­ben und wenig Pau­sen machen, geht es. Hin­set­zen ist fatal, dabei ros­tet sofort alles ein. Ich wer­de läp­pisch, mache schlech­te Sprü­che und lache mich selbst halb­tot dar­über. Anschei­nend hilft das.

Seit zwei Tagen lau­fen wir nun, ohne dass uns auch nur ein ein­zi­ger Mensch begeg­net. Dabei sind die Bedin­gun­gen inzwi­schen per­fekt. Son­nen­strah­len bah­nen sich ihren Weg durch das üppig feuch­te Geäst. Schne­cken neh­men ehr­gei­zi­ge Rou­ten quer über den Wan­der­weg. Ver­ein­zel­te Wei­her absor­bie­ren das auf­ge­reg­te Kon­zert der Frö­sche.

War­um kom­men hier nicht mehr Leu­te vor­bei?

Weiher-Spessart

Die Ankunft wird mir wohl immer in Erin­ne­rung blei­ben. Wie wir uns mit letz­ter Kraft ins Ziel schlep­pen. Wie der stolz dar­über auf­steigt, dass ich durch­ge­hal­ten habe. Das hat ehr­lich gesagt, ziem­lich gut getan.

Wo war es denn jetzt, das Mehr?

Viel­leicht liegt das Mehr in der Dif­fe­renz von Erin­ne­rung und Erfah­rung. Die Erin­ne­rung ist ein Bild im Kopf. Eine Erfah­rung jedoch bleibt an einem haf­ten. Sie ist ein punk­tu­el­les Erleb­nis, das die Kraft hat, in die Zukunft aus­zu­strah­len.

Viel­leicht geht es auch dar­um, dass basa­le Glücks­for­meln immer erst expli­zit erfahr­bar wer­den müs­sen, um gül­tig zu wer­den. Dass es gut tut, Din­ge, die man anfängt, auch zu Ende zu brin­gen weiß man ja irgend­wie. Trotz­dem muss man es erst ein­mal tun, um zu begrei­fen, wie sich die­ses »gut tun« in Rea­li­tät auf einen aus­wirkt.

Zum Video der Wan­de­rung mit Inter­view­sequen­zen und ein paar geball­ten Wan­der-Weis­hei­ten geht’s hier lang.

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Antworten

  1. Avatar von Robert

    Das ist ein tol­ler Arti­kel. So eine Wan­de­rung macht Spaß und bringt einen an sei­ne Gren­zen, aber das ist immer wie­der eine tol­le Erfah­rung, fin­de ich. Mit ein paar Freun­den bin ich jedes Jahr im Defer­eg­gen­tal Hotel und es geht von da aus jeden Tag in die Ber­ge. Manch­mal nur für ein paar Stun­den, aber oft auch mor­gens früh los und abends erst zurück und am nächs­ten Tag irgend­wo­hin wei­ter. Mei­ne Frau sagt, dass ich jedes mal ganz ver­än­dert zurück kom­me – aus­ge­powert, aber tie­fen­ent­spannt und glück­lich.

    Bes­te Grü­ße, Rob

    1. Avatar von Stefan

      Hey Rob,

      freut mich, dass Dir der Arti­kel gefal­len hat! Irgend­was pas­siert anschei­nend beim Wan­dern mit uns – mir geht es da genau­so wie dir. Die­ses Gefühl, aus­ge­powert aber zufrie­den zu sein, kann echt süch­tig machen 🙂

      Lie­be Grü­ße

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