Dein Warenkorb ist gerade leer!
Am Anfang stand der Wunsch nach – ja, nach was eigentlich? Nach einer extremen Erfahrung? Nach einsamen Wanderungen im peitschenden Regen, der rauen Natur trotzend? Oder trieb mich irgendeine Art von übergeordneter Agenda, eine vage Hoffnung, dass ich am Ende auf mehr als eine ausgedehnte Wanderung zurückblicken würde, an? Auf mehr zurückblicken. Was würde das überhaupt sein? Und was genau müsste passieren, dass dieses Mehr erfahrbar wird? Diese Fragen trieben mich im Vorfeld um.
Ich hatte Bilder im Kopf von dem was kommen könnte
Ich sah mich in unwegsamen Gelände, gegen den Wind anlaufend. Mir gefiel die Idee. Einfach irgendwo laufen. Mit einer Karte im Rucksack und bestenfalls einer groben Vorstellung, in welche Richtung ich wollte. Es ging nicht so sehr darum, wo ich mich befand, sondern vielmehr darum, wo ich mich nicht mehr befand: Die vertrauten urbanen Strukturen, so viel stand fest, wollte ich hinter mir lassen. Ich wollte in den offenen Raum. Ich sah Gras, Flüsse, Bäume. Ich sah weichen Waldboden. Ich hörte tiefes Laub unter meinen Stiefeln rascheln und stellte mir vor, wie ich über querliegende Äste stieg. Ich sah urige Wirtshäuser mit gelbgetönten Fensterscheiben, an denen ich des Nachts anklopfen würde, um nach einer Unterkunft zu fragen. Darin würde die Luft biergeschwängert sein und eine homogene Gruppe aus leicht betrunkenen Dorfbewohnern würde etwas irritiert zu mir sagen: »Leute wie dich sehen wir hier selten.«
Mein Bruder, immer für eine Wanderung zu begeistern, macht Nägel mit Köpfen. Den »Spessartbogen« wirft er als Schauplatz für dieses Vorhaben in den Ring. Ich buche ein Bahnticket. Sparpreis. Zugbindung. Vorfreude.
Unwetter über Deutschland am Vortag der Abfahrt. Klaus Kleber legt die Stirn in Falten. Heftige Regenfälle, ganze Dörfer stehen unter Wasser, Menschen sterben. Dennoch: Hessen, so die Erkenntnis aus dem Heute-Journal, ist weitestgehend verschont geblieben. Das Handy vibriert umgehend. Mein Bruder: »das wird ’ne Regenschlacht.« Aber wir wollten es so.
Tag 1: Schlüchtern-Mernes
Hier stehe ich nun mit einer Stunde Verspätung auf dem Marktplatz von Schlüchtern in Südhessen. Es nieselt aus einem durchweg grauen Himmel. Dennoch scheint mir das Adrenalin bis in die Fingernägel zu schießen, die Vorfreude lässt mich kaum ruhig stehen. Uli erscheint, das GPS-Gerät hält er bereits in der Hand. Wir sind uns einig: Jetzt soll es losgehen.
Es geht zum Start steil bergauf. Wir brauchen eine Weile, um unseren Rhythmus zu finden. Der tiefgrüne, üppige Spessart verschluckt uns förmlich. Die Geräusche der Tiere, des Windes und des Regens – es ist nichts da, was sie unterbrechen könnte. Als der Wald sich wieder lichtet, zieht sich unser Weg wie eine Schneise durch hohe Wiesen. Wir beobachten Rehe in der Ferne, zwei Hasen hoppeln über die Strecke. Da liegt er, der freie Raum. Wir füllen ihn mit großen Schritten.
Was wir zunächst als unangenehme Begleiterscheinung abtun, wird uns später noch an unsere Grenzen bringen: nasse Socken. Beim Stapfen durch nasses, hohes Gras sickert Wasser in die Schuhe. Da kann auch das GoreTex am Wanderstiefel nichts mehr ausrichten. Die Folgen machen sich kurz darauf bemerkbar: Der Fuß reibt am nassen Socken, wodurch sich schmerzhafte Blasen an den Unterseiten der Zehen bilden. Es deutet sich an, in welche Richtung das gesamte Unterfangen geht: Es wird stark von seiner physischen Herausforderung geprägt sein.
Wir behalten unsere positive Einstellung und laufen unentwegt durch den manchmal sonderbar dunklen Wald. Es scheint ein Rhythmus gefunden. Die Pause legen wir auf einem Hochsitz ein und unterhalten uns. Der Wald wirkt wie ein großes Labyrinth.
Das Laufen könnte so beiläufig sein, wenn nur diese Blasen nicht wären!
Als wir unsere Herberge erreichen, zeigt das GPS-Gerät 24 Kilometer an. Wir essen Schnitzel im Gasthaus, dessen Fensterscheiben tatsächlich diese urige gelbe Tönung haben. Trotzdem, der Innenraum ist hell und freundlich und wie exotische Sonderlinge aus der Stadt werden wir hier auch nicht behandelt. Klar, Wanderer wie wir sind schließlich genau die Zielgruppe des einzigen Gasthofs in Mernes. Die Erwartungen an die Nacht sind klar formuliert. Schuhe und Socken sollen trocknen und der Körper maximal regenerieren.
Tag 2: Mernes-Gelnhausen
Wir behandeln die Blasen mit Pflastern, doch so leicht lässt sich deren Existenz nicht kaschieren. Als wir nach 10 Kilometern durch den Kurort Bad Orb stapfen, schmerzt jeder Schritt. Weil ich offenbar eine Schonhaltung einnehme, ziehen die Schmerzen bis ins Bein hoch. Für einen Moment scheint mir die Idee, jetzt noch 24 Kilometer draufzulegen, fast unverantwortlich. Wir pausieren. Schuhe aus und erstmal was Essen. Dann der innere Monolog:
»Du wolltest eine doch extreme Erfahrung machen. Jetzt liegt sie vor dir, sogar auf dem Silbertablett. Es geht um’s durchhalten. Weiter zu machen, obwohl es wehtut.«
Okay weiter. Ich will es jetzt schaffen. Motivationsschub. Das Ziel ist das Ziel.
Solange wir warm bleiben und wenig Pausen machen, geht es. Hinsetzen ist fatal, dabei rostet sofort alles ein. Ich werde läppisch, mache schlechte Sprüche und lache mich selbst halbtot darüber. Anscheinend hilft das.
Seit zwei Tagen laufen wir nun, ohne dass uns auch nur ein einziger Mensch begegnet. Dabei sind die Bedingungen inzwischen perfekt. Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg durch das üppig feuchte Geäst. Schnecken nehmen ehrgeizige Routen quer über den Wanderweg. Vereinzelte Weiher absorbieren das aufgeregte Konzert der Frösche.
Warum kommen hier nicht mehr Leute vorbei?
Die Ankunft wird mir wohl immer in Erinnerung bleiben. Wie wir uns mit letzter Kraft ins Ziel schleppen. Wie der stolz darüber aufsteigt, dass ich durchgehalten habe. Das hat ehrlich gesagt, ziemlich gut getan.
Wo war es denn jetzt, das Mehr?
Vielleicht liegt das Mehr in der Differenz von Erinnerung und Erfahrung. Die Erinnerung ist ein Bild im Kopf. Eine Erfahrung jedoch bleibt an einem haften. Sie ist ein punktuelles Erlebnis, das die Kraft hat, in die Zukunft auszustrahlen.
Vielleicht geht es auch darum, dass basale Glücksformeln immer erst explizit erfahrbar werden müssen, um gültig zu werden. Dass es gut tut, Dinge, die man anfängt, auch zu Ende zu bringen weiß man ja irgendwie. Trotzdem muss man es erst einmal tun, um zu begreifen, wie sich dieses »gut tun« in Realität auf einen auswirkt.
Zum Video der Wanderung mit Interviewsequenzen und ein paar geballten Wander-Weisheiten geht’s hier lang.
Antworten
Das ist ein toller Artikel. So eine Wanderung macht Spaß und bringt einen an seine Grenzen, aber das ist immer wieder eine tolle Erfahrung, finde ich. Mit ein paar Freunden bin ich jedes Jahr im Defereggental Hotel und es geht von da aus jeden Tag in die Berge. Manchmal nur für ein paar Stunden, aber oft auch morgens früh los und abends erst zurück und am nächsten Tag irgendwohin weiter. Meine Frau sagt, dass ich jedes mal ganz verändert zurück komme – ausgepowert, aber tiefenentspannt und glücklich.
Beste Grüße, Rob
Hey Rob,
freut mich, dass Dir der Artikel gefallen hat! Irgendwas passiert anscheinend beim Wandern mit uns – mir geht es da genauso wie dir. Dieses Gefühl, ausgepowert aber zufrieden zu sein, kann echt süchtig machen 🙂
Liebe Grüße
Schreibe einen Kommentar