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Der Hochgall in fünf Akten

I. Stal­ler Sat­tel, 8 Uhr: Auf­bruch /​ Zuver­sicht

Die Son­ne ist bereits die Fels­wän­de her­un­ter­ge­klet­tert, durch Fich­ten­wäl­der hin­ab­ge­stie­gen, am Tal­grund ange­kom­men. Der Tag hat sich breit­ge­macht im Gebir­ge, strah­lend, satt. Nur west­sei­tig kle­ben noch ein paar Schat­ten an den Hän­gen.

Doch der Mor­gen hat eine leich­te Küh­le, die Luft eine Feuch­tig­keit, ich bin spät dran für das, was ich vor­ha­be. Vor mir der Hoch­gall, mäch­tig und schroff. Die Süd­wand fällt 800 Meter ab, dann Berg­wei­den, dann Zir­ben. Ein Grat zeich­net eine schwar­ze dia­go­na­le Linie durch den Fels. Ich muss wei­ter nach Ant­holz Ober­tal, nach unten ins Tal, ich muss erst noch tie­fer. Dort beginnt die Rei­se die­ses Tages, aus den Schat­ten des Wal­des hin­auf zum kah­len Gip­fel und den gan­zen Weg wie­der zurück.

Das Auto auf einem Park­platz abge­stellt, den Ruck­sack geschul­tert. Leicht ist das Gepäck, denn der Anstieg for­dernd und lang. Den Ein­stieg zum Weg gefun­den, das Wan­der­zei­chen erspäht, schon geht es auf­wärts. Stei­le Ser­pen­ti­nen, gro­bes Wur­zel­werk, der Geruch von feuch­ter Erde. Die Fich­ten schir­men die Son­ne ab, noch.

Was für ein Gefühl es ist, wie­der hier zu sein, in den Ber­gen. Die mor­gend­li­che Küh­le im Gesicht, der Schweiß im Nacken, die leich­te Span­nung in den Waden. Wie der Wald duf­tet nach Harz und Blu­men! Wie mir leicht wird ums Herz!

Berg­an, berg­an, immer­zu, ich bin so bereit. Die Augen lesen den Weg wie ein Schrift­ge­lehr­ter das hei­li­ge Wort, gie­rig und sicher und kennt­nis­reich; die Füße fin­den Trit­te und Stu­fen, bestimmt und rasch und sanft, sie huschen über Stei­ne und Stö­cke wie jun­ge Gäm­se. Schon lich­tet sich der Wald, rauscht der Berg­bach in der Son­ne, steigt die Hit­ze aus den Wie­sen. So gehen die ers­ten Stun­den dahin, ein hei­te­res Spiel ohne Mühen.

11Ant­hol­zer Tal und Hoch­gall (Mit­te rechts) vom Stal­ler Sat­tel.

12Auf dem Weg zur Ant­hol­zer Schar­te, Blick zurück ins Ant­hol­zer Tal.

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13Unter­halb der Ant­hol­zer Schar­te, Blick in Rich­tung Dolo­mi­ten.

II. Ant­hol­zer Schar­te, 11.30 Uhr: Rast /​ Prä­senz

Die Vege­ta­ti­on hat sich zurück­ge­zo­gen, ist Geröll und Stei­nen gewi­chen. Immer auf­wärts geht es durch das Hoch­tal, nun der letz­te stei­le Auf­schwung, und ganz oben – Schnee. Ein alter, gräu­li­cher Rest ist noch nicht geschmol­zen unter die­ser sat­ten Juli­son­ne, Zeu­ge eines lang­ver­gan­ge­nen Win­ters. Ja, hier auf über 2800 Metern kann es kalt wer­den, doch heu­te nur Wär­me, Mil­de, lieb­li­che Luft.

Abschüs­si­ge letz­te Meter berg­an, dann die Schar­te. Der Blick fällt ins Hoch­tal auf der ande­ren Sei­te des Gebirgs­kamms, auf Geröll­fel­der, Morä­nen und einen Glet­scher­bach. Dar­über ein nahe­zu wol­ken­lo­ser Him­mel, blas­ses Mit­tags­blau. Zeit für Brot, einen Apfel, Tro­cken­früch­te und etwas Scho­ko­la­de. Ein ein­zel­ner Wan­de­rer grüßt. Man tauscht sich aus, macht Fotos, doch viel Zeit ist nicht, der Weg ist weit.

Rechts des Tals türmt er sich auf, der Hoch­gall, der »hohe glän­zen­de Berg«, wie es im Alt­hoch­deut­schen heißt. Höchs­ter Gip­fel der Rie­sen­fern­er­grup­pe. In einem nahe­zu per­fek­ten 45-Grad-Win­kel fällt der Nord­west­grat seit­lich ab, scharf gezeich­net von der Son­ne. Der Gip­fel­auf­bau thront als graue Pyra­mi­de über den umlie­gen­den Ber­gen, die Per­spek­ti­ve macht es, ja tat­säch­lich: ein Mount Ever­est in Minia­tur.

Der stür­mi­sche Rausch des mor­gend­li­chen Auf­stiegs ist aus mir gewi­chen, Ratio ein­ge­kehrt. Ich rech­ne und kal­ku­lie­re, schät­ze und prü­fe, ver­su­che den Weg vor mir mit mei­nen Augen in Stun­den­ein­hei­ten auf­zu­tei­len. Habe ich mir zu viel vor­ge­nom­men? Ich muss nun zunächst wie­der etwas abstei­gen. Wann errei­che ich die Furt, ab der es wie­der berg­an geht, wann das Graue Nöckl, jene Erhe­bung am Anfang des Gip­fel­grats? Heiß brennt die Son­ne aufs Gestein, der Tag war­tet nicht, wohl­an, die Bei­ne sind stark.

21Ant­hol­zer Schar­te.

22Hoch­gall mit Nord­west­grat von der Ant­hol­zer Schar­te.

III. Hoch­gall, 15 Uhr: Gip­fel /​ Eupho­rie

Der Weg hin­auf über den Grat zieht sich, erst zum Grau­en Nöckl, dann über Draht­sei­le hin­ab in eine Sen­ke und fort­an wie­der nach oben. Links fällt die Wand ab, rechts der stei­ni­ge Hang. Ein Schnee­feld muss gequert wer­den, abschüs­sig, auf sorg­sa­men Soh­len also, die für eine Minu­te die ver­gan­ge­nen Stun­den in Waden und Ober­schen­keln ver­ges­sen. So muss es sein, sonst wird es gefähr­lich.

Auf dem Gip­fel dann: Erleich­te­rung, Eupho­rie. Die Son­ne hat ihre höchs­ten Bah­nen wie­der ver­las­sen. Wol­ken­flo­cken über Berg­gip­feln, das Blau des Him­mels. Die Aus­sicht geht im Nor­den bis zu den Zil­ler­ta­ler Alpen, wei­ter rechts zu Vene­di­ger­grup­pe und Glock­ner­grup­pe. Im Süden erhe­ben sich die Dolo­mi­ten, im Licht und im Schat­ten, je nach Him­mel. Fei­ne Spit­zen sind es, wie sorg­sam her­aus­ge­ar­bei­tet mit ruhi­ger Hand und spit­zem Mei­ßel.

Ein Pan­ora­ma zu allen Sei­ten; die sat­ten Far­ben eines Hoch­som­mer­ta­ges, tan­nen­grün, wie­sen­grün, fel­sen­braun, wand­grau, schnee­weiß; eine ver­träum­te Col­la­ge. Erhe­bend ist das Gefühl, Gran­deur der Ber­ge, Erbau­ung der See­le über den win­zi­gen Dör­fern der Men­schen, irgend­wo dort unten, wo der Tag schon bald wie­der zu schwin­den beginnt.

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35Hoch­gall-Nord­west­grat vom Grau­en Nöckl.

36Hoch­gall-Vor­gip­fel mit Beginn des Nord­west­grats.

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IV. Weg­ga­be­lung Hoch­gall­hüt­te, 17.15 Uhr: Abstieg /​ Zwei­fel

Der Abstieg vom Grat: müh­sam. Ich muss gro­be Fels­blö­cke umklet­tern, weil ich die genaue Rou­te nicht aus­ma­chen kann, es gibt kei­ne Mar­kie­run­gen. Undurch­sich­tig scheint mir der Weg nun, ganz anders als zuvor.

Das Gestein ist brü­chig. Ein »ein­zi­ger Schutt­hau­fen« sei der Hoch­gall, sagt ein Berg­füh­rer spä­ter. Es ist so. Die Grif­fe sind vor­sich­tig, die Augen kön­nen das Gelän­de berg­ab nicht so gut lesen wie berg­auf. So wird die Fort­be­we­gung unend­lich lang­sam. Die Bei­ne müs­sen die Span­nung eines zag­haf­ten Tritts aus­hal­ten, vor­tas­tend, prü­fend. Immer wie­der. Es kos­tet alles unge­heu­re Kraft, aber es ist der ein­zig siche­re Weg.

Ab dem Grau­en Nöckl scheint die Anord­nung der Stein­män­ner, die auf dem Weg zum Gip­fel die Rou­te gezeigt haben, uner­klär­li­cher­wei­se selt­sam ver­scho­ben, gar unsicht­bar. Über gro­bes Block­werk muss ich hin­ab, doch wel­che Rich­tung ein­schla­gen? Die Trit­te sind weit und tief, erschüt­tern die Gelen­ke, zer­mür­ben die Mus­keln.

Nach drei elen­den Stun­den Abstieg kommt end­lich die Furt. Bei­ne wie Säcke voll Mehl, doch vor­aus bloß der Gegen­an­stieg zur Schar­te. Die Füße las­sen sich kaum noch heben, jetzt drin­gend Scho­ko­la­de, und Was­ser, Was­ser, nur immer mehr Was­ser, die drei Liter aus dem Ruck­sack sind längst leer, da ist der Bach.

Ich weiß nicht, ob ich noch wei­ter­ge­hen kann. Rechts führt der Weg zur Hoch­gall­hüt­te, dort war­tet ein Bett für die Nacht, und der Tag ver­ab­schie­det sich schon, ein­sa­mer Nach­mit­tag im Hoch­ge­bir­ge. Eine Stun­de wäre es viel­leicht, doch der Pfad zur Hüt­te führt in ein ande­res Tal, weg vom Auto. Kei­ne Ersatz­klei­dung, kei­ne Zahn­bürs­te. So will ich mich nicht bet­ten, also doch wei­ter, hin­auf zur Schar­te, ein Kraft­akt.

41Dolo­mi­ten von der Ant­hol­zer Schar­te.

V. Ant­holz Ober­tal, 21.15 Uhr: Ankom­men /​ Ruhe

Rast in der Ant­hol­zer Schar­te, die Bei­ne haben sich erstaun­lich gut ange­stellt, ja ange­passt, als wüss­ten sie nun, das ist noch nicht das Ende. Es hat sich nun jene Tür auf­ge­tan, hin­ter der vie­les mög­lich ist, noch eine Stun­de, drei Stun­den, fünf. Es scheint plötz­lich egal. Die Müh­sal wird zum ste­ten Beglei­ter, das ist in Ord­nung.

Die Wol­ken hän­gen am Him­mel wie abs­trak­te Plas­ti­ken, zacki­ge Dolo­mi­ten-Gip­fel am Hori­zont. Wie ver­söhn­lich es ist, die­ses war­me, seich­te, lie­be­vol­le Abend­licht. Dort unten in Ant­holz hat die Nacht bereits damit begon­nen, die Wie­sen ein­zu­neh­men, unauf­halt­sam rückt sie vor auf die ande­re Tal­sei­te. Die letz­ten zwei­ein­halb Stun­den des Weges lie­gen im Schat­ten.

Hin­ab geht es nun wie­der, zuerst über stei­ni­ge Pfa­de, dann hin­ein in die Wie­sen und schließ­lich in die immer noch duf­ten­den Zir­ben. Es sind 1300 Höhen­me­ter von der Schar­te zum Park­platz, und jeder von ihnen fol­tert die Bei­ne. Stumpf füh­len sie sich an, selt­sam ange­spannt und doch labil, wie kurz vor dem Weg­kni­cken. Ver­zweif­lung bei jedem Schritt, Unwil­le, Resi­gna­ti­on. Doch kein Obdach gibt es hier.

Als es den Mus­keln schließ­lich wider­strebt, die Schrit­te des müden Wan­de­rers abzu­fe­dern, bleibt nur noch der Trab, ja tat­säch­lich, ich kom­me ins Lau­fen. Es ist so viel ange­neh­mer für die Bei­ne als das Gehen. Die Fich­ten sind zurück, doch der Atem schwä­chelt, obschon es berg­ab geht. Die Anstren­gung sitzt jetzt auch in den Lun­gen. Tro­cke­ner kal­ter Schweiß unter der Klei­dung, trotz der fünf Liter.

Fast schon fins­ter ist der Wald kurz vor dem Park­platz, tückisch sind nun die Wur­zeln, doch die Füße flie­gen, noch ein letz­tes Mal, in dem Wis­sen, dass es als­bald vor­bei ist. Erschöp­fung und Eupho­rie, die Erin­ne­rung an einen fer­nen Mor­gen, letz­te Meter. Die Bäu­me lich­ten sich, Abend­stil­le im Tal, die nack­ten Füße im Gras. Ich bin wie­der zurück. Tie­fe Ruhe.

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Antwort

  1. Avatar von Isabella

    Hey Phil­ipp, tol­ler Ein­trag mit super Bil­dern! Fah­re die­sen Som­mer zwar nicht nach Süd­ti­rol son­dern ein­fach in den Som­mer­ur­laub Tirol aber ich freue mich jetzt schon rie­sig! Viel­leicht fin­de ich da in der Nähe ja auch einen Berg den ich hoch­stei­gen kann! 🙂 Mach wei­ter so! LG Isa­bel­la

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