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Ich will ganz vorne beginnen. Ein Inder hat mich mitgenommen. Mein erster Lift an diesem Tag. Es war kalt an diesem Morgen und im Auto lief die Heizung auf maximaler Stufe. Angenehme 45 Grad im Innenraum des Autos und auch meiner Brille konnte ich nicht verhindern, dass der warme Luftstrom langsam und unablässig meine Augenflüssigkeit vernichtete.
Ich hatte schnell bemerkt, dass mein Fahrer immer wieder über den Seitenstreifen fährt. Ich dachte erst es er kann nicht fahren, schob es aber dann auf kulturelle Gründe. Ein Inder mag es vielleicht nicht so genau nehmen mit diesen Linien auf der Straße. Mein Fahrer trug einen Kapuzen-Pulli und zusammen mit seinem stachligen und durchaus imponierenden Bart, den ich allerdings nicht weiter beschreiben kann, wirkte er leicht bedrohlich. Während der ganzen Fahrt sagte er kein Wort. Nach 50 km merkte er schlicht an: „I have not english.“. Wir schwiegen.
Die 600 km von Armstrong nach Seattle trampte ich schon zum 4ten mal und kannte dementsprechend jeden Ort und jede Ausfahrt auswendig. Mein Inder ließ mich in Kamloops an der Autobahnkreuzung raus. Ich kannte Kamloops und das war sicherlich der Ort, an dem ich am wenigsten stehen wollte. Autobahnkreuz, viel schneller Verkehr. Solche Positionen sind immer eine Herausforderung. Ich fand eine Stelle mit guter Haltefläche, es war sehr viel (zuviel) Verkehr und die Autos rasten über den Autobahnzubringer an mir vorbei schnell. Nach 20 Minuten hielt Ryan an.
„Get in!“, raunzte er mich unfreunlich an, als ich die Tür öffnete. Wohin er fährt? Merrit. Nagut. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und bemerkte als Erstes, dass ich mich nicht zurücklehnen konnte, weil ein Röhrenfernseher über die abmontierte Kopfstütze in mein Kreuz ragte. „I was hitchhiking by myself, thats why i picked you up“, sprach Ryan, mehr schimpfend als erzählend.
Ryan trug eine Neongelbe Arbeitsjacke, sein Bus war voll mit Müll und war er ziemlich schlecht gelaunt. Irgendwas mit Alberta und Kollegen, die ihm den Sprit geklaut haben. Und natürlich die Polizei, die hinter ihm her war. Er fing an zu schreien, tobte regelrecht an seinem Lenkrad. Seine Augen waren blutunterlaufen und ein rauer Stoppelbart belegte sein grimmiges Gesicht. Ich wusste sofort, dass ich mit einem Psychopathen fuhr.
Ich habe keine Angst vor solchen Leuten, noch bin ich kontaktscheu in solchen Situationen. In Autos muss man sich mit jeder Art Mensch auseinandersetzen. Ich trampe nun seit 8 Jahren und nie wollte mir ein Fahrer Gewalt antun. Er hatte eine scheiß Zeit hinter sich, ich versuchte also mit ihm zu reden, ihn zu beruhigen. Ich erwarte nie, dass mir mein Fahrer etwas antun würde, auch wenn er offensichtlich total durchgeknallt ist. Und bisher war ich mit meine Bauchgefühl auch immer richtig gelegen.
Wir fuhren ins Niemandsland von Kanada, nächste Stadt 80 km entfernt. Merrit. Dazwischen nichts. Sein Seitenspiegel klappte sich immer wieder ein. Ich musste ihn mit der Hand halten, damit er sieht, was neben der Straße los war. Wir fuhren ganz rechts. Er sah ständig Polizeiautos ankommen, die dann doch keine waren. Paranoia.
Wir fuhren weiter und sprachen nicht. Ein LKW überholte uns links. Kurz nachdem der LKW passierte, schwenkte Ryan langsam auf die linke Spur aus, als ob er überholen wollte. Aber vor uns war gar kein Auto! Ich wurde hellwach, schaute ihn fragend an. Ryan hatte die Augen weit aufgerissen, der Mund war leicht geöffnet und er hielt das Lenkrad so verkrampft, als ob ihm gerade jemand ein Messer in den Rücken gestochen hätte. Ist er jetzt völlig durchgeknallt? Ich brauchte wenige Millisekunden, um zu begreifen. Irgendwie zogen wir auf die linke Fahrbahn und er drehte das Lenkrad ganz leicht, sodass wir wieder nach rechts drifteten, zielstrebig auf den Abhang zu. Er hatte einen epileptischen Anfall. Ich ergriff sofort das Lenkrad, versuchte den wieder auf die Straße zu lenken Wagen, aber seine Arme waren verkrampft, das Lenkrad bewegte sich nur um Millimeter. Kann sein, dass ich mir hier das Leben gerettet habe.
Wir kamen von der Straße ab, ich sah uns in den Graben gleiten. Wir hielten direkt auf den Anfang einer steilen, aufwärts verlaufenden Böschung zu. Dann der Aufprall. Ich kann mich noch an alles erinnern. Ich hatte keinen Gurt, weil das alte Auto keinen Gurt auf dem Beifahrersitz hatte. Von Airbags ganz zu schweigen. Ich bin sofort abgehoben und nach vorne in die Scheibe geschleudert worden, dann gegen meine eigene Tür, der Wagen prallte wohl gegen die Böschung bevor er letztendlich nach links kippte. Alles flog hin und her. Dann war Ruhe.
Ich konnte mich noch bewegen, war total unter Schock und panisch. Ich schrie vor mich hin: „Holy shit, holy shit!“ Der erste Gedanke: „Raus hier, raus hier, raus hier.“ Wo ist die Tür? Über meinem Kopf. Ich versuchte die Tür aufzumachen. Ging nicht. Ich versuchte die Windschutzscheibe rauszutreten. Raus raus raus. Gott da bewegte sich nichts. In all meiner Verzweiflung nochmal die Tür zu öffnen. Wie sollte ich hier sonst rauskommen? „Are you allright?“, raunzte ich reflexartig zu Ryan ohne mir bewusst zu sein, was ich hier eigentlich mache. Er war irgendwo unter mir, auf ihm lag ein Kühlschrank und auf diesem war ich. Das Fenster. Ich konnte das Fenster hoch kurbeln und stieg auf, wie aus einem U‑Boot. Umschauen. Ein Mann kam bereits von der anderen Straßenseite an gelaufen ein anderer hatte schon das Telefon in der Hand. Ich spürte warmes Blut an meinem Gesicht herunterlaufen und es tropfte auf meine neuen Handschuhe.
Sofort war meine Aufmerksamkeit umgeschwenkt. „Buddy, are you allright?“ Ich hörte ein Stöhnen unter dem Kühlschrank hervor kommen. „Buddy, don´t worry, we get you out here.“ Ich glitt ins Auto, nur den Gedanken, diesen Kühlschrank irgendwie von Ryan herunter zu kriegen und versuchte völligst hilflos diesen aus dem Fenster zu hieven. Das war natürlich viel zu klein und mein Unterfangen hoffnungslos. Draußen hatten sich mehr Menschen versammelt. Die Tür wurde aufgebrochen, wir holten den Kühlschrank raus. Irgendwer sagte zu mir im Befehlston: „You look like you should sit down here now!“
Mittlerweile waren 8–10 Personen vor Ort. Alles Ersthelfer. Eine Sanitäterin, Ein Auto mit zwei Krankenschwestern hielt an. Es tut eigentlich nichts zur Sache, aber mir kommen die Tränen, während ich dies hier schreibe. Ich bin diesen Menschen so dankbar. Die Kanadier waren der Wahnsinn. Ich stand unter Schock in dieser Situation, zitterte am ganzen Körper. Konnte keine Emotionen heraus bringen. Ich bin traumatisiert.
Irgendwann fand ich mich dann in der Ambulanz wieder. Man wischte mir die Scherben aus dem Gesicht und den Augen. Ob sie mich ins Krankenhaus bringen? Ja. Wohin? Nach Kamloops zurück. Ryan wurde rein geschoben. Er konnte sich an nichts erinnern, meinte er hätte keinen Tramper mitgenommen. Nach einigen Minuten bemerkte er, dass ich hinter ihm saß. Er brauchte 3 Versuche um sich umdrehen zu können. Als er mich sah, riss er weit die Augen auf: „Ah youuu dude!“, nun wurde ihm alles klar! „I am so sorry man. Sorry for that! Sorry that this happened to you!“, entschuldigte er sich sofort. „No worries man, shit happens.“
Ich wusste ja, er war viel schlimmer dran, als ich mit meinen leichten Blessuren. Er wollte nach Merrit und dort seinen Van für den Winter abstellen und reparieren. Sein ganzer Besitz lag nun im Graben, sein Auto war hinüber und die Polizei, vor der er gerade noch weggelaufen ist, war nun an seiner Seite. Er würde wohl ins Gefängnis kommen.
Ich suchte meine Mütze und meine Brille, von welcher ich nur die Hälfte wiederfand. Wirklich Kamloops ins Krankenhaus? Der Polizist meinte, er könne mir einen Lift nach Merrit geben. Ich fühlte mich, den Umständen entsprechend, gut und es machte keinen Sinn zurück zu fahren, um dann ein paar Stunden im Krankenhaus zu verbringen und dann wieder auf die Straße nach Seattle. Ich wollte nur noch ankommen. Erst recht nach dieser Sache! Es waren noch 400km vor mir.
Nachdem ich irgendeine Erklärung unterschieben habe und die Ambulanz noch nichtmal meine Krankenversicherung wissen wollte (danke Kanada!), durfte ich gehen, aber sollte sofort ein Krankenhaus aufsuchen, falls ich mich schwindelig oder anderweitig schlecht fühlen würde.
Brad, der Polizist, gab mir einen Lift, in einem Bundesstaat, wo trampen illegal ist. Er war selber Tramper, ist vor 2 Jahren von Kanada nach Mexico und zurück getrampt. In 10 Tagen. Respekt. Reiste ähnlich wie ich, immer auf der Straße, viel campieren. Wir verstanden uns prächtig. In Merrit kaufte er mir noch einen Kaffee und einen Muffin, bevor er mich an der Auffahrt absetzte, von wo aus ich dann nach Seattle weiter trampte.
An der Grenze, wo ich von der Immigration Police die letzten Male konsequent auseinandergenommen wurde, war diesmal eine etwas ältere Frau, die das Interview führte. Wo ich hin will? Seattle. Warum? Muss da einen Schlafsack abholen und morgen dann nach Calgary. Aha, machte sie immer. Ich konnte nicht erkennen, ob das Zustimmung oder Misstrauen war. Ich kannte das prozedere und fing einfach an zu erzählen, was ich immer erzähle: Dass ich um die Welt trampe und nach Alaska will.…im Dezember. Wieso Dezember? Muss. Keine Straßen da im Sommer, brauche Wintertrails und ich will nach Rußland übersetzen. Aha. Ich erzählte ihr, dass ich letzte Woche schon mal die 1200 km von Kanada nach Seattle getrampt bin, um dieses scheiß Paket abzuholen, was dann nicht da war. Der ganze Blues. Sie fragte nicht danach, aber ich erzählte ihr auch, dass ich heute morgen einen Unfall hatte und zeigte gleichzeitig auf mein verbeultes Gesicht.
„Stefan Stefan.…“. Sie schüttelte mit dem Kopf und presste die Lippen leicht zusammen. Wir schauten uns lange und ernst an. „Your poor Mum!“, sagte sie langsam aber herzlich. Ich nickte zustimmend. (Sorry Mum!) „But, you gotta do, what you gotta do.“, erwiderte. „You gotta do, what you gotta do.“, wiederholte sie verständnisvoll, gab mir meinen Reisepass und wünschte mir einen sichere Weiterreise.
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Antworten
Die Geschichte geht mir echt nach. Ich habe zwar in meinem Leben auch viel Erfahrung mit Trampen gemacht, aber noch nie so eine harte Nummer miterlebt. Die Wunden sind hoffentlich alle verheilt, jetzt, später.
Moin Chris,
ja, die Wunden sind zum Glück verheilt. Zumindest die körperlichen. Ich hatte in der Zeit danach immer mal wieder kurze Stressattacken, als ich in Autos gesessen habe. Und ein Jahr später ist mir fast eine identische Situation passiert, nur dass ich diesmal in einem LKW saß und meine Lenkaktion erfolgreich war. Wir sind im Straßengraben gelandet, aber es gab glücklicherweise keine Schäden am Vehikel oder Menschen. Jetzt hab ich aber auch erstmal genug von solchen Situationen. 🙂
Hey Stefan,
ich fand deine Geschichte echt Krass. Ich war bis zum Ende total gefesselt und fasziniert. Das sind Erfahrungen die das Leben schreibt. Als du erzählt hast, wie du nicht angeschnallt warst, dachte ich schon »ohhhh was kommt jetzt.« Habe mit dem schlimmsten Gerechnet. Evlt. hast du nicht nur dein Leben durch die Millimeter Lenkradbewegung gerettet. Sonder auch das von Ryan.lg Daniel
Hey Daniel,
ja, das kann man so im nachhinein natürlich nur schlecht feststellen, aber glaube das hat wirklich den Unterschied gemacht.
Liebe Grüße,
Stefan
ach du meine Güte, das ist ja eine echt erschreckende Geschichte. Zum Glück ist dir/ euch nichts weiter passiert… Liebe Grüße aus Seis
MannMannMann.…..
Super Post. Toll geschrieben und jede Sekunde zum mitfühlen!
LG
Alex
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