Die schöns­ten Rei­se­er­fah­run­gen sind oft die, die nicht im Rei­se­füh­rer ste­hen und sich auch nicht so leicht nach­ah­men las­sen. Die einem in den Schoß fal­len, wäh­rend man dabei ist, ande­re Rei­se­plä­ne zu machen. Die schöns­ten Rei­se­er­fah­run­gen sind Gele­gen­hei­ten, die man mit bei­den Hän­den ergreift.

Am Anfang das Ende

Ich lau­sche den gos­pel­ar­ti­gen Gesän­gen der Lai­en­band und schaue Tan­zen­den zu. Jun­ge Frau­en dre­hen Sel­fie-Vide­os, ste­cken die Köp­fe zusam­men und kichern. Bier- und ande­re fla­schen wer­den in dem sti­cki­gen Raum ver­teilt, an die Lip­pen gesetzt und zügig geleert, damit Nach­schub kommt. Die Sän­ger schrei­en mit geschlos­se­nen Augen ins Mikro­fon, stamp­fen wie in Trance mit den Füßen auf den Boden. Der stren­ge Blick einer älte­ren Frau trifft mei­nen – von meh­re­ren bun­ten, bedruck­ten T‑Shirts, wel­che die Sän­ger und Tän­zer tra­gen. Gän­se­haut über­zieht mei­nen Nacken. „Gol­die“ steht fett unter dem auf­ge­druck­ten Foto der streng aus­schau­en­den Dame, dar­über „Gone but not for­got­ten“. Auf dem Rücken der T‑Shirt-Trä­ger prangt eine rie­si­ge, blaue 80, wie auf einem Fuß­ball­tri­kot. So alt ist Gol­die gewor­den. Je län­ger ich dort sit­ze, den Geschich­ten und Gesän­gen lau­sche und den Blick auf die lachen­den Gesich­ter rich­te, um die Trä­nen und schmerz­ver­zerr­ten Mie­nen auf der ande­ren Sei­te nicht zu sehen, des­to mehr glau­be ich, Gol­die auch gekannt zu haben. Denn die größ­te Dorf­par­ty ist nun mal auch Gol­dies Toten­fei­er. Und ich bin mit­ten­drin. Wie­so, das ist eine lan­ge Geschich­te.

Die Ankunft

Ich bin auf Andros, der größ­ten Baha­mas-Insel, so groß, dass ihre Land­mas­se locker alle ande­ren Inseln des Lan­des abde­cken wür­de, und sie ist sogar die fünft­größ­te Kari­bik­in­sel. Dabei dau­ert der Flug von Nas­sau – nach einem spä­ten Check-in durch eine Frau mit lila Haa­ren – schlap­pe 15 Minu­ten, mit Zwi­schen­stopp auf Süd-Andros.

Ob man in den Süden, ins Zen­trum oder in den Nor­den will, soll­te man vor­her genau wis­sen. Jeder Teil ver­fügt über einen eige­nen Flug­ha­fen, und der Süden ist durch brei­te Mee­res­ar­me vom Nor­den abge­schnit­ten und wird nur sel­ten per Boot ange­fah­ren. Im Ver­gleich zu vie­len der etwas ‚schi­cke­ren‘ Baha­mas-Inseln wird der Natur­star Andros weni­ger besucht. Zwar gibt es hier das für Tau­cher span­nen­de, dritt­größ­te Bar­ri­er Reef der Welt und unzäh­li­ge Sink­lö­cher, blue holes, in denen die mys­ti­sche Gestalt ‚Lus­ca‘ woh­nen soll, aber ansons­ten über­wie­gend Dschun­gel und Wild­nis. Auf Andros sucht man ver­geb­lich nach den Stars und Stern­chen oder schwim­men­den Schwei­nen, wel­che die Exu­ma-Inseln bevöl­kern, und auch 4- und 5‑S­ter­ne-Glit­zer­bun­ker und Casi­nos sind dort Wel­ten ent­fernt.

Der Flug­ha­fen von Cen­tral Andros, wo ich lan­de, ist so groß wie der durch­schnitt­li­che Kram­la­den um die Ecke und ähn­lich geschäf­tig, wenn ein­mal pro Tag eine Maschi­ne lan­det. Ver­fah­ren ist auf der Insel aus­ge­schlos­sen – es gibt näm­lich nur eine ziem­lich stau­bi­ge Stra­ße ent­lang der Ost­sei­te, und solan­ge man kapiert, wo Nor­den und Süden sind, ist alles gut.

Es exis­tie­ren Orte, da wer­de ich von irgend­ei­nem Kahn oder – im Fal­le von Andros – von einer klapp­ri­gen Pro­pel­ler­ma­schi­ne aus­ge­spuckt und füh­le mich ange­kom­men. Bis­her war das noch nie in den wum­mern­den Mega­ci­tys der Welt der Fall, da möch­te ich mich zuerst ein­mal ver­krie­chen. Am ein­fachs­ten ist das Ankom­men für mich dort, wo es fast nichts gibt. Oder doch, das Meer gehört meis­tens dazu. Und viel Natur. Auch eini­ge weni­ge Men­schen, die bei mei­nem Anblick kei­ne Dol­lar­zei­chen in den Augen haben. Andros ist mein Para­dies. Vom ers­ten Moment an. Es müss­te gar nicht Weiß auf Schwarz an einem Auto­kenn­zei­chen ste­hen, ich wür­de es an die­sem Ort auch so spü­ren: „No worries. God’s got it cover­ed.“

Die Aus­wahl an Unter­künf­ten ist klein, dar­un­ter die Small Hope Bay Lodge unweit von Andros Town, die 1960 von dem Kana­di­er Dick Birch eröff­net und heu­te noch von des­sen Sohn Jeff und den Enkel­kin­dern Casey und Bryan – mitt­ler­wei­le wasch­ech­ten Baha­maern, halt nur weiß – wei­ter­ge­führt wird.

Die „klei­ne Hoff­nung“ für Gäs­te besteht dar­in, dass sie für kur­ze Zeit ohne Ablen­kung durch die hek­ti­sche und vir­tu­el­le Welt (das WiFi funk­tio­niert so lala in der Lob­by und wird beim Essen ganz abge­stellt – die Leu­ten sol­len gefäl­ligst mal mit­ein­an­der reden, statt aufs Dis­play zu star­ren) in Hän­ge­mat­ten mit Blick auf rol­len­de Wel­len und tür­kis­far­be­nes Was­ser ent­span­nen kön­nen. Dol­ce far nien­te aus­drück­lich erwünscht.

Aber auch für die Ein­hei­mi­schen stellt die Lodge mit ihren Bun­ga­lows am Meer einen Hoff­nungs­fun­ken dar, denn sie ist neben der Insel­re­gie­rung und dem ame­ri­ka­ni­schen Mili­tär der Haupt­ar­beit­ge­ber in die­sem Teil von Andros. Wie immer, wenn es mir an einem Ort so rich­tig gut gefällt, juckt es mich, zu erfah­ren, wie man dort lebt und was die Men­schen zwi­schen dem Auf­ste­hen und Zubett­ge­hen anders als ich oder aber gleich machen. Also zie­he ich los.

Bei der Arbeit

Etwas, das vie­le Andro­si­ans in Cen­tral Andros tun, ist arbei­ten. Andros steht neben sei­ner Natur auch für Andro­sia hand­ge­mach­te Batik, die Baha­mas-weit bekannt ist. „Mei­ne Groß­mutter hat in den spä­ten 60ern am Strand damit begon­nen“, erzählt mir Casey. „Sie bemal­te Stof­fe mit Wachs und färb­te sie, und die ein­hei­mi­schen Frau­en näh­ten dar­aus Klei­dung.“ 1973 wur­de eine Tex­til­ma­nu­fak­tur gegrün­det, die bis heu­te flo­riert.

Ich fah­re hin und tref­fe Phyl­lis Bain, die mir den Pro­duk­ti­ons­pro­zess zeigt. Ich kann mir nicht rich­tig vor­stel­len, wie man mit Wachs Figu­ren auf T‑Shirts, Röcke, Vor­hän­ge und Tisch­de­cken zau­bern kann, bis ich selbst Hand anle­ge. Phyl­lis drückt mir eini­ge For­men in die Hand, die man an einem eiser­nen Griff hält, in hei­ßes, flüs­si­ges Wachs tunkt und dann auf die gewünsch­ten Tex­ti­li­en presst. Sie sind ein biss­chen wie über­di­men­sio­na­le Weih­nachts­plätz­chen-Aus­ste­cher.

Die ers­ten Male drü­cke ich viel zu fest, die For­men ver­schwim­men. Bis mir däm­mert, dass es umso schö­ner wird, je leich­ter ich auf­set­ze und je weni­ger ich dar­über nach­den­ke. Ich darf mir selbst ein T‑Shirt bedru­cken, vol­ler Vögel und Fische und Muscheln. Mit einem Wachs-Stift kann man auch etwas schrei­ben. Bald hal­te ich ein tür­kis­far­be­nes Tank-Top in den Hän­den, in der Far­be des baha­mai­schen Mee­res, mit wei­ßen Figu­ren. Auf dem Rücken steht „Love my life“.

Auch Laver­ne ist begeis­tert von mei­nem neu­en Shirt – die gro­ße, stäm­mi­ge Ver­käu­fe­rin im Laden von Andro­sia Hand Made Batik. Sie trägt die­sel­be Far­be Shirt wie ich, lauscht christ­li­chen Gesän­gen aus dem Radio in vol­ler Laut­stär­ke und plau­dert so viel und schnell, als kom­me Jesus Chris­tus sie sonst höchst­per­sön­lich holen.

In brei­tem baha­mai­schen Dia­lekt erklärt sie mir, dass sie bereits seit 22 Jah­ren für Andro­sia Batik arbei­te. „Ich woh­ne oben im Nor­den, kom­me jeden Mor­gen eine Stun­de mit dem Bus hier­her und fah­re um 16.30 Uhr wie­der zurück.“ Es sei der ein­zi­ge Bus am Tag, um die Leu­te von Nor­den nach Süden zur Arbeit zu fah­ren. Ihre Toch­ter woh­ne auf Nas­sau und brin­ge öfter Sachen aus der Haupt­stadt mit, doch müs­se man für Waren auf der Fäh­re extra zah­len. „Außer­dem kommt die Fäh­re nur am Frei­tag­mor­gen.“ Als ich eine Batik­ho­se anpro­bie­re, sieht mir Laver­ne nei­disch zu. „Ich pas­se da nicht rein, aber mei­ne Schwes­ter schon, und die hat vier Kin­der!“ Sie selbst habe neben ihrer Toch­ter nur einen Sohn, 16. „Er ist schreck­lich, schaut nur den Mädels nach! Ich sage ihm immer, er soll lie­ber mal ler­nen. Vom Mädels­gu­cken kommt kein Job.“

On the road

Oft tref­fe ich die inter­es­san­tes­ten Men­schen auf Rei­sen irgend­wo am Weges­rand. Und auf der Stra­ße ist es, dass ich den Baha­mas weit hin­ter der Glit­zer­fas­sa­de näher­kom­me. Einem Land mit ganz nor­ma­len, aber auch außer­ge­wöhn­li­chen Men­schen, die in den Urlaubs­bro­schü­ren nicht abge­druckt wer­den, denen man in den Tou­ris­ten­tem­peln nicht begeg­net und die sich auch nicht für die Hol­ly­wood-Stars inter­es­sie­ren, die ihre schöns­ten Inseln auf­kau­fen. Wie an mei­nem zwei­ten Tag auf Andros, als ich mir einen der kos­ten­lo­sen Draht­esel an der Lodge schnap­pe und los­ra­de­le. Nach weni­gen Gesprä­chen ist klar: Alle auf Zen­tral-Andros ken­nen ein­an­der. Hya­c­in­th Han­na, die Ver­käu­fe­rin aus einem Laden ent­lang der Stra­ße Rich­tung Nor­den, der sowohl Ersatz­tei­le für Ven­ti­la­to­ren und ande­re Elek­tro­ge­rä­te als auch Klo­pa­pier und Sou­ve­nirs anbie­tet, kennt Phyl­lis aus dem Batik­shop, mit der sie für die Cen­tral Andros Han­di­craft Asso­cia­ti­on tätig ist.

Und sie kennt Hen­der­son New­ton, der 2007 an der Haupt­stra­ße begann, mit blo­ßen Hän­den ein Haus und Restau­rant aus Holz und Stei­nen auf­zu­bau­en, das er drei Jah­re spä­ter fer­tig­stell­te. „Ich habe vie­le Fein­de“, ver­rät er mir, als ich das uri­ge Gebäu­de betre­te, in dem es nach fri­schem Weih­nachts­baum und Fleisch­sup­pe riecht. „Die sind alle nei­disch auf mein Haus.“ Nun, da er sich sei­nen Traum erfüllt habe, sei er ver­zwei­felt auf der Suche nach einem neu­en Ziel, denn er kön­ne nicht ein­fach taten­los rum­sit­zen. „Das Leben macht nur Sinn, wenn man auf etwas hin­ar­bei­ten kann.“

Das sieht auch der 76-jäh­ri­ge ‚Dad­dy Cool‘ so, der im Sicher­heits­bü­ro einer Feld­sta­ti­on unweit von Hen­der­sons Restau­rant arbei­tet. Er steht am See mit einem über­di­men­sio­na­len Stroh­hut auf dem Kopf, einem wei­ßen Hemd und eben­so wei­ßen Gum­mi­stie­feln, schwar­zer Hose, einem Fern­glas um den Hals und einem fre­chen Lächeln auf den Lip­pen. Die Wind­schutz­schei­be sei­nes roten Gelän­de­wa­gens zie­ren die Let­ter ‚Dad­dy Cool‘. „Komm zu mir, Baby“, lockt er mich an, und schließt mich in sei­ne Arme wie eine lang­jäh­ri­ge Freun­din. Ich deu­te auf sein Auto, fra­ge, was es mit Dad­dy Cool auf sich habe. „Seit mei­ner Hei­rat bin ich Dad­dy Cool“, erzählt mir der alte Mann, der mit bür­ger­li­chem Namen Max Well Roberts heißt. „Da habe ich mir gedacht, jetzt darf ich kei­ner Ver­su­chung mehr nach­ge­ben und muss ganz cool blei­ben. Wir haben kei­ne Mög­lich­keit, Gott zu ent­kom­men, dann kön­nen wir auch ein­fach cool sein.“ Bald kommt das Gespräch dar­auf, ob er Kin­der habe. „Neun Stück!“, brüs­tet er sich. „Alle von dei­ner Frau?“ Max lacht laut auf, nimmt mich fes­ter in den Arm. „Von ver­schie­de­nen Frau­en!“ Mitt­ler­wei­le arbei­te er auch als Pas­tor für die Church of God und dan­ke Jesus jeden Mor­gen für sein Leben.

Und dann tref­fe ich Eliza­beth Han­na, über meh­re­re Ecken ver­wandt mit der Ver­käu­fe­rin Hya­c­in­th und eine Busch­me­di­zi­ne­rin. Die Busch­me­di­zin sei auf Andros über Jahr­hun­der­te hin­weg über­lie­fert wor­den, vor ihr hät­ten sich bereits ihre Mut­ter und Groß­mutter in der Kunst der Pflan­zen und deren Heil­kraft geübt. Nach ihrer Pen­sio­nie­rung als Schul­leh­re­rin habe sie sich ganz der natür­li­chen Medi­zin gewid­met und der Can­cer Socie­ty, einer mitt­ler­wei­le staat­lich unter­stütz­ten Krebs­sta­ti­on in dem klei­nen Dorf Love Hill. „Ich ver­su­che, Tref­fen für Frau­en mit Brust­krebs zu orga­ni­sie­ren, damit sie sich aus­tau­schen kön­nen und ver­nünf­tig behan­deln las­sen. Aber kaum eine kommt.“ Dabei sei die Brust­krebs­ra­te auf Andros hoch und vie­le Frau­en näh­men den Flug nach Nas­sau, um sich behan­deln zu las­sen, nicht in Kauf und ver­schwie­gen ihre Krank­heit lie­ber – und das, obwohl die Can­cer Socie­ty die Flug­kos­ten für Kon­troll­un­ter­su­chun­gen in Nas­sau regel­mä­ßig über­neh­me. Schuld an der Krank­heit sei vor allem der schlech­te Lebens­wan­del mit kaum Bewe­gung und zu fet­tem Essen. „Es gibt nur einen Arzt für ganz Cen­tral Andros, und der wech­selt auch noch monat­lich.“ Ein Zahn­arzt kom­me gar nur spo­ra­disch auf die Insel, und bei Zahn­schmer­zen müs­se man halt rüber nach Nas­sau flie­gen. Mitt­ler­wei­le hat sich Eliza­beth die Zusam­men­stel­lung orga­ni­scher Tees zur Haupt­auf­ga­be gemacht. „Vie­le Pflan­zen wach­sen in mei­nem Hin­ter­hof.“ Soge­nann­ter Mor­inga-Tee bei­spiels­wei­se sei gut gegen alle Arten von Krebs, Ros­ma­rin sei gut fürs Gedächt­nis und ‚Love vine‘ (Gro­no­vi­us-Sei­de) ein ech­tes Aphro­di­sia­kum.

Nach mei­nem gesprächs­rei­chen Mor­gen mache ich mich auf den Weg zum angeb­lich schöns­ten Strand von Cen­tral Andros, Somer­set Beach. Denn wer auf Andros nicht auch ein wenig chillt, ist so blöd wie einer, der nach Paris fährt und den Eif­fel­turm nicht anschaut. Kurz hin­ter der Small Hope Bay Lodge schallt lau­te, fröh­li­che Musik aus einem Haus und meh­re­re Leu­te schlep­pen Tra­ge­ta­schen und Bier­käs­ten ins Haus. Im Gar­ten baut jemand Laut­spre­cher auf. „Macht ihr eine Par­ty?“, fra­ge ich. „Es gibt heu­te Abend eine Toten­fei­er für Gol­die, die Mut­ter von Sam­my, dem Bar­be­sit­zer, du kannst auch kom­men!“ An Sammy‘s Bar bin ich schon vor­bei­ge­ra­delt, aber ich ken­ne den Mann nicht, kann­te auch sei­ne Mut­ter nicht. Ich stel­le mir vor, in Deutsch­land wür­de ein unge­be­te­ner, unbe­kann­ter Gast bei einer Toten­fei­er erschei­nen und schüt­te­le ent­schie­den den Kopf.

Auf dem Weg zum Strand kom­me ich durch zahl­rei­che klei­ne Gemein­den, die stets mit einer Kir­che, einer Bar und einem Lot­te­rie­la­den aus­ge­stat­tet sind, soge­nann­ten ‚num­ber shops‘. Es gibt nur einen ein­zi­gen Super­markt, gut kaschiert als ‚Mable’s Meat Mart‘. Kurz vor der Schu­le über­holt mich auf der fast auto- und men­schen­lee­ren Stra­ße ein Jeep. „Dri­ve safe, Baby“, ruft der Fah­rer aus dem geöff­ne­ten Fens­ter.

Ich fah­re am Flug­ha­fen vor­bei, rund um ein ame­ri­ka­ni­sches Mili­tär­ge­län­de her­um, das direkt an der Küs­te liegt. Nir­gends gibt es Schil­der, auch nicht bei der Abzwei­gung zum Strand. War­um auch? Hier ist jedem alles so ver­traut, dass nichts mehr aus­ge­wie­sen wer­den muss. Ich pro­bie­re den nächst­bes­ten Schot­ter­weg in Rich­tung Meer, durch ein Wald­stück, fah­re ver­se­hent­lich einer Schlan­ge über den Schwanz und sie­he da – ein per­fek­ter wei­ßer Sand­strand und blau­es Was­ser eröff­nen sich vor mir wie die ers­te Sei­te eines ver­hei­ßungs­vol­len Buches. In der Fer­ne sehe ich eine Frau mit einem Hund am Ufer ent­lang­spa­zie­ren – Casey, wie ich bald fest­stel­le – und als auch sie ver­schwin­det, habe ich bestimmt zwei Kilo­me­ter kari­bi­schen Strand für mich allein.

Das Gefühl, los­zu­ren­nen und mein Glück laut hin­aus­schrei­en zu wol­len, über­kommt mich. Ich gebe ihm nach. Hier gibt es nie­man­den, der mich sieht, hört und be- oder ver­ur­teilt. Denn ist es nicht oft die Furcht vor der Wer­tung, die uns ein­schränkt und uns flüs­tert, unse­re Gefüh­le, posi­tiv oder nega­tiv, lie­ber tief in einer Kis­te unterm siche­ren Deckel zu ver­wah­ren? Hier, an die­sem Strand in Andros, brau­che ich kei­ne Kis­ten und schon gar kei­ne Deckel. Ich brau­che nicht mal Klei­dung. Alles, was ich brau­che, habe ich: fein­san­di­gen Strand, Son­ne, ein Hand­tuch, ein Lunch aus Sand­wi­ches, Obst und Jogurt und mein Notiz­buch, in dem ich die­ses groß­ar­ti­ge Gefühl fest­hal­te.

Es geht erst zurück, als sich die Son­ne hin­ter den Bäu­men ver­kriecht und der Wind auf­frischt. Auf dem Rück­weg ist die Stra­ße noch lee­rer als auf der Hin­fahrt. Kilo­me­ter um Kilo­me­ter rad­le ich zwi­schen Bäu­men und Büschen daher, den blau­en Him­mel über mir, den Wind in den Haa­ren und den hei­ßen Asphalt unter den Rei­fen. Unter das Glücks­ge­fühl am Strand mischt sich ein Gefühl gro­ßer Frei­heit, die ich immer nur mut­ter­see­len­al­lein irgend­wo in der Ein­öde ver­spü­re.

Durs­tig hal­te ich spä­ter an einem Kiosk am Stra­ßen­rand, um mir einen Drink zu gön­nen. Dar­in sitzt ein mol­li­ger Ver­käu­fer, der sofort wis­sen will, woher ich kom­me. „Deutsch­land!“, ruft er begeis­tert. „Mein Kum­pel hat mich über­re­det, mit ihm nach Deutsch­land zu flie­gen, um dort eine Frau zu suchen.“ Er lacht los, dann lehnt er sich ver­schwö­re­risch vor: „Wenn mei­ne Frau mich mal ver­lässt, neh­me ich auch lie­ber eine Deut­sche.“ Um ihn opti­mal auf die Mis­si­on vor­zu­be­rei­ten, brin­ge ich ihm schon mal das Wich­tigs­te bei: Ich lie­be dich. Das muss ich ihm sogar auf ein Blatt Papier schrei­ben, und er übt die Aus­spra­che, bis ich zufrie­den nicke. „Viel­leicht wirst du ja eines Tages mei­ne deut­sche Frau“, ruft er – Arnold – mir nach. Wer weiß.

Eigent­lich bin ich nach dem vie­len Radeln müde und will zurück zur Lodge. Doch dann kom­me ich erneut an Sammy’s Bar vor­bei, aus der Calyp­so-Beats und Geläch­ter schal­len. Ich muss rein.

Es ist, als wür­de die Zeit einen Moment still­ste­hen und als wür­den die vier Män­ner um den Bar­tre­sen erstar­ren. Dann erwa­chen sie aus ihrer Star­re und der dicks­te und dem Wan­ken nach betrun­kens­te unter ihnen, mit blau­em T‑Shirt und einer Base­ball­kap­pe, schnappt mich und wir­belt mich zu den Rhyth­men aus der Ste­reo­an­la­ge her­um. Lyn­don, wie er heißt, sucht im Gegen­satz zu Arnold kei­ne deut­sche Freun­din, denn er hat­te schon mal eine. Mit mir wür­de er aber doch am liebs­ten mit­kom­men, auch nach Nas­sau am Fol­ge­tag. „Mach dir kei­ne Sor­gen, ich kann für mich selbst zah­len!“ Sei­ne Freun­de lachen.

„Wie war dei­ne Fahr­rad­tour?“, fragt mich einer, der ver­ges­sen hat, in der düs­te­ren Bar sei­ne Son­nen­bril­le abzu­neh­men. Woher weiß er, dass ich eine Fahr­rad­tour unter­nom­men habe? Habe ich die­sen Mann schon mal gese­hen? Viel­leicht im Hotel? Als er mei­nen ver­wirr­ten Aus­druck bemerkt, weiht er mich ein. „Wir sind vor eini­gen Stun­den an dir vor­bei­ge­fah­ren und ich habe dir „Dri­ve safe, Baby“, zuge­ru­fen!“ Alles klar! Er heißt Nick und bestellt sofort ein Kalik, das Natio­nal­bier, für mich. Wir sto­ßen gemein­sam an. An den Hem­den der Män­ner steht, dass sie für die hie­si­gen Abwas­ser­wer­ke arbei­ten. „Kommst du heu­te Abend auch zur Toten­fei­er?“, fragt mich Lyn­don und bie­tet sogar an, mich abzu­ho­len. Auch Nick stimmt mit ein – die Toten­fei­er der alten Gol­die sei DAS Event des Jah­res, die gan­ze Insel kom­me zusam­men, da dür­fe ich doch nicht feh­len. Und so pas­siert es: Ich habe ein Date at the wake.

Am Ende der Anfang

Um kurz nach neun gehe ich zu Gol­dies Toten­fei­er. Einer der Lodge-Mit­ar­bei­ter, Tar­ran, der eben­falls dort­hin möch­te, nimmt mich mit und führt mich zunächst ins Haus gegen­über dem der ver­stor­be­nen Gol­die. Ich wer­de einer der neun Töch­ter vor­ge­stellt. Sie begrüßt mich herz­lich – Deutsch­land, wie schön, da möch­te sie auch mal hin. „Mei­ne Mut­ter ist an Magen­krebs gestor­ben, schlim­me Sache, sie muss nun nicht mehr lei­den“, fügt sie im glei­chen Atem­zug hin­zu. Von Casey habe ich bereits erfah­ren, dass Gol­die, mit rich­ti­gem Namen Yvonne Rah­ming, eine der stärks­ten Frau­en der Insel war, eine wah­re Che­fin ihres Matri­ar­chats, und weit­hin gefürch­tet, aber auch geliebt. Am Küchen­tisch sit­zen Frau­en und berei­ten Essen zu. Sie sehen kaum auf, als eine Wei­ße ein­tritt. Ich bekom­me eine Bier­fla­sche in die Hand gedrückt, und schon führt mich Tar­ran wie­der raus und auf die ande­re Stra­ßen­sei­te, zu Gol­dies Haus. Auf der Stra­ße par­ken kreuz und quer Autos, doch mei­ne Kum­pels Lyn­don und Nick sehe ich nir­gends. Was bei dem Gewu­sel aus Erwach­se­nen, Jugend­li­chen und Kin­dern bei par­ty­lau­ter Musik aber auch schwie­rig wäre.

Im Zim­mer direkt am Ein­gang ver­sam­melt sich eine Kin­der­schar, man­che lüm­meln sich auf Sofas, ande­re sit­zen oder lie­gen am Boden, die meis­ten star­ren auf ihre Han­dys. Sie wol­len, dass ich ein Bild von ihnen schie­ße. Trotz zehn Ver­su­chen ist es unmög­lich, ein nicht ver­wa­ckel­tes zu machen, denn die Jungs sind auf­ge­dreht, zap­peln und scher­zen und fan­gen an zu rau­fen.

Ob ich nicht noch ein Bier wol­le, fragt mich eine wei­te­re Toch­ter Gol­dies, dabei habe ich kaum an der Fla­sche in mei­ner Hand nip­pen kön­nen. Als die Kin­der, die an die­sem Abend aus­nahms­wei­se mal bis drei Uhr auf­blei­ben dür­fen, lachend und schrei­end vor­bei­drän­gen, wer­de ich mit auf die Veran­da gescho­ben, wo eini­ge Frau­en zusam­men­sit­zen. „Ich war auch schon mal in Deutsch­land“, erzählt mir eine der Tan­ten oder Cou­si­nen oder Nich­ten von Gol­die, so ganz kom­me ich da nicht mehr nach, und drei ande­re stim­men mit ein, plau­schen über das Rei­sen und das Leben.

Plötz­lich erscheint ein älte­rer, leicht tau­meln­der Herr in der Tür, der mich fixiert – mit einem Blick, der auf eine Über­do­sis Via­gra schlie­ßen lässt. Er schnippt mit den Fin­gern, bekommt einen Stuhl und setzt sich mir gegen­über. „Du bist aber schön, wie heißt du?“ Als ich mei­nen Namen nen­ne, schreit er auf. „So ein Zufall, ich hei­ße Ber­nard! Das ist Schick­sal, dass wir uns hier tref­fen!“ Die Frau­en grin­sen. Ber­nard, den ich auf min­des­tens 70 schät­ze, schaut mir lan­ge und tief in die Augen, dann beugt er sich vor. „Ich bin viel­leicht alt, aber mein Schwanz, der funk­tio­niert noch!“ „Ber­nard!“, kommt der Auf­schrei von den Frau­en, und wäh­rend er mir noch erklärt, dass er eigent­lich nur aus Nas­sau zur Toten­fei­er sei­ner Tan­te gekom­men sei, um eine Frau auf­zu­rei­ßen, da er nach vier Ehen gera­de wie­der Sin­gle sei, wird schnell das The­ma gewech­selt.

Wei­ter geht es in einem lee­ren Nach­bar­shaus, des­sen gro­ßes Wohn­zim­mer an die­sem Abend als Fest­saal dient. Meh­re­re Rei­hen mit Stüh­len sind auf­ge­stellt, das Schlag­zeug ist spiel­be­reit, feh­len nur noch die Mikros. Eini­ge der Cou­si­nen oder Nich­ten oder sons­ti­gen Ver­wand­ten von Gol­die neh­men Platz, es wird wei­ter geplau­dert. Bald beginnt eine der Frau­en zu sin­gen, die schöns­te Gos­pel­me­lo­die, mit star­ker, kla­rer Stim­me. Wei­te­re stim­men mit ein, die Melo­die gewinnt an Kraft und Geschwin­dig­keit. Plötz­lich durch­bricht ein Schrei den Gesang: Eine von Gol­dies Töch­tern reißt die Hän­de hoch, schreit, Trä­nen rol­len ihre Wan­gen hin­ab. Frau­en stür­zen zu ihr, trös­ten, strei­cheln, brin­gen Was­ser. „Wir behal­ten nichts in unse­rem Inne­ren, wir las­sen alle raus“, habe ich bereits an die­sem Tag gelernt.

Stun­den­lang schaue ich den Tan­zen­den zu, lau­sche den Gesän­gen und Geschich­ten. Sam­my von Sammy’s Bar, Gol­dies Sohn, singt sich mit einer Frau mitt­le­ren Alters die See­le aus dem Leib, sprüht vor Freu­de und bricht im nächs­ten Moment vor Trau­er zusam­men. Er macht vor, wie nah die aller­schöns­ten und aller­schlimms­ten Emo­tio­nen bei­ein­an­der lie­gen, und die Fami­lie und Freun­de spie­geln durch ihren Gesang und Tanz, aber auch durch ihre Trä­nen, sei­ne Gefüh­le wider. Im Neben­raum wird Hüh­ner­sup­pe aus­ge­schenkt, drau­ßen toben Kin­der. „Wir wol­len Gol­dies Leben fei­ern, nicht ihren Tod bekla­gen“, heißt es in einer kur­zen Rede. Lyn­don und Nick haben sich bereits in Sammy’s Bar den Rest gege­ben und es nicht mehr zur Toten­fei­er geschafft, wie ich spä­ter erfah­re, doch ich wer­de ewig dank­bar sein für mein Date at the wake, auch wenn ich ver­setzt wur­de. Denn einen Abend lang mit den Andro­si­ans einen Men­schen zu betrau­ern und zu fei­ern, den ich nicht kann­te und doch ein wenig ken­nen­ler­nen durf­te, und wie eine Ein­hei­mi­sche auf­ge­nom­men zu wer­den, ist für mich das Größ­te. Der Anfang einer gro­ßen Lie­be zu einer Insel, von der ich weni­ge Mona­te zuvor noch nie gehört hat­te und mit Men­schen, die ich nie ver­ges­sen wer­de. Und wenn ich mir auch vor­neh­me, wie sie öfter mei­ne Emo­tio­nen zu zei­gen, möch­te ich doch etwas sicher in mei­ne inne­re Gefühls­kis­te packen und mit nach Hau­se neh­men: das gro­ße Glück dar­über, auf Andros eine klei­ne Geschich­te gefun­den zu haben, wie sie nur das Leben, aber kein Rei­se­füh­rer, schrei­ben kann.

Die Rei­se wur­de unter­stützt vom Tou­ris­mus-Minis­te­ri­um der Baha­mas: https://www.bahamas.com/ mit Direkt­flug mit Con­dor von Frank­furt nach Nas­sau.

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Antwort

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