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Wolken wehen im Blauen dahin, stets und ständig sommerwärts. Unter ihnen ragen 6510 blütenweiße Grabsteine wie Pfeile gen Himmel. Als wollten sie einen Gott anklagen, der sie verlassen hat.
Wir stehen vor einem frisch aufgeschütteten Grab und lesen die Inschrift im Marmor. Jemand hat einen Blumenstrauß in eine Vase gestellt, Rosen trocknen in der Sonne.
Haris spricht kein Wort. Er schüttelt nur den Kopf, als könne er es immer noch nicht begreifen.
Gestern waren sie alle hier. Politiker, Journalisten, Veterane und tausende andere Menschen. Es wurden Kränze abgelegt, Hände geschüttelt und Artikel getippt.
Heute ist es still. Die Ruhe nach dem Sturm. Für ein Jahr ist Srebrenica nun wieder dem kollektiven Vergessen ausgeliefert, und über die Gräber wächst Gras. Bis zur nächsten Gedenkfeier. Nur der Fingerzeig Richtung Himmel, der bleibt. Und auch die Granatsplitter. Die stillgelegte Batteriefabrik, in die Frauen, Männer und Kinder flüchteten. An den Wänden die Einschusslöcher der Hinrichtungen. Alles noch hier.
8000 bosniakische Söhne, Brüder, Ehemänner, Väter und Großväter metzelte die bosnisch-serbische Armee nieder. Auch Jungen, kaum älter als zwölf oder dreizehn, erhielten einen Kopfschuss. Ihre Körper warfen die Mörder in Gruben. Es war das größte Massaker in Europa seit dem 2. Weltkrieg.
Jedes Jahr am 11. Juli werden ein paar sterbliche Überreste auf dem Friedhof in Potocari beigesetzt. Zumeist nicht mehr als eine Handvoll Mensch. Gestern kamen 71 neue Gräber hinzu. Heute ist niemand da, keiner liest die Inschriften. Nur Haris und ich.
Haris kommt aus Sarajevo, er hat breite Schultern und Melancholie in den Augen. Als der Krieg ausbrach, feierte er gerade seinen achtzehnten Geburtstag. Ein Milchbart war er damals. Ein Backfisch. Doch der Schrecken machte einen Mann aus ihm, sagt er und schaut zu Boden. Heckenschützen lauerten in Fenstern und auf Dächern, und Haris vertickte Zigaretten zwischen Trümmern und Ruinen, damit seine Mutter ein paar Kartoffeln kaufen konnte. Solange es noch Kartoffeln gab.
»Wie hast du den Horror ausgehalten?«, frage ich ihn. Haris lächelt. »Man kann das Leben nicht abstellen. Ich war einfach nicht dran.«
Er liebt Sarajevo, er möchte nirgendwo anders leben. Und er versucht zu verzeihen. Sein Bruder hat neulich eine Serbin geheiratet. Das hilft. Und dass Haris an Gott glaubt. Er ist Muslim. Das Grauen hat ihn seltsamerweise nie an dem Allmächtigen zweifeln lassen. Es hat ihn sogar bestärkt. Vielleicht ist Religion ja eine Rettungsweste, die den Gläubigen nicht absaufen lässt und ihn durch die Katastrophe trägt. Wer soll das wissen? Und wie viele Gebete verhallen ungehört? Millionen Kerzen brennen für Hilfe, die niemals kommt.
Da sind diese zwei alten Tanten, erzählt Haris. Beide stammen aus Srebrenica, sie sind Schwestern. Die eine lebt seit vielen Jahren glücklich mit ihren Kindern und Enkelkindern in Österreich, die andere verlor ihren Sohn und ihren Ehemann im Massaker. Trotz Gottesglaube. Seitdem liegt ein schwarzer Schatten auf ihrer Seele, und jede Nacht bricht das Gemetzel abermals auf sie herein. In ihrem Kopf. Und auf der leeren linken Betthälfte. Sie möchte sterben. Doch Gott lässt sie nicht.
»Alles im Leben ist Schicksal«, sagt Haris, »aber das kann manchmal barbarisch sein.«
Ich schaue auf das Gräbermeer, das sich wie ein Nagelkissen in die Landschaft bohrt, und dann bin ich mir wieder sicher. Gott gibt es nicht.
Haris startet das Auto und wir fahren in die Stadt hinein. Der Ortskern ist übersichtlich. Ein paar Plattenbauten mit Rissen, ein paar vernagelte Fenster. Löcher in den Fassaden so groß wie Kinderköpfe. Alles trägt die Farbe des Regens, obwohl die Sonne scheint.
Ich erblicke keine Cafés, keine Bistrotische am Straßenrand, keine Heiterkeit. Auf dem Bauernmarkt verkauft eine Frau selbst genähte Kleidung. Ein Mann sitzt auf einer Bank und wartet, dass etwas geschieht. Aber es geschieht nichts. Srebrenica – ein grauer Fleck. Vergessen. Verdammt.
Ist Srebrenica tatsächlich so fahl, so versehrt? Oder ist das nur meine Wahrnehmung? Will ich mir vielleicht einfach nicht vorstellen, dass Menschen hier lieben und lachen? Dass Menschen hier glücklich sein können?
»Srebrenica ist verloren«, sagt Haris und seufzt, »die Stadt lebt nur einen einzigen Tag im Jahr. Wegen der Toten. Danach interessiert sich niemand mehr dafür. Dann herrscht wieder Hoffnungslosigkeit.«
Gottverlassen, denke ich. Obwohl das stimmt nicht ganz. Denn mitten zwischen grauen Häusern ragt ein blütenweißes Minarett in den Himmel. Diesmal nicht als Anklage, sondern als Huldigung für einen Gott, der entweder nicht existiert oder sich schon lange aus dem Staub gemacht hat. Zweihundert Meter weiter thront eine serbisch-orthodoxe Kirche provokativ auf einer Anhöhe. Auch ihr Turm zeigt Richtung Himmelszelt. Als gäbe es da etwas zu holen.
Auf dem Rückweg nach Sarajevo, wenige Kilometer von Srebrenica entfernt, halten wir in einer Parkbucht. Ein Rudel Welpen mit Schlappohren hopst uns aus dem Dickicht entgegen. Haris füllt Wasser aus seiner Plastikflasche in zwei Tupperdosen und stellt sie ins Gras. Die Hundlinge jauchzen und hüpfen und wedeln und grinsen. Wir setzen uns zu ihnen, kraulen ihre Bäuche und schauen in ihre braunen Babyaugen. All das hat etwas Friedvolles. Als wären Krieg und Tod nur eine Erfindung, als könnte es gar nicht wahr sein.
Die Welpen haben weiches Fell und riechen so wie Welpen riechen sollen.
Als wir ins Auto steigen, entdecken wir neben einem Baumstumpf einen Napf mit Hundefutter. Jemand ist vor uns hier gewesen. Und hat sich gekümmert.
»Siehst du«, lächelt Haris, »das Leben lässt sich nicht abstellen.«
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