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Wir verlassen Teheran mit der Metro. Je weiter wir uns vom Stadtzentrum entfernen, desto schwächer nehmen wir den atmosphärischen Herzschlag der iranischen Hauptstadt wahr. Das Chaos, die Luftverschmutzung, die Menschenmassen verblassen allmählich, bis wir die Stadtgrenze überqueren. An der Endstation angekommen, ist es beinahe still. Nur das monotone Rauschen einer entfernten Schnellstraße dringt an unsere Ohren. Wir befinden uns zehn Kilometer südlich von Teheran vor einem riesigen Parkplatz. Soldaten laufen über die Gehwege, im Hintergrund erheben sich Baukräne über einer enormen goldenen Kuppel, iranische Flaggen wehen unter einem strahlend blauen Himmel. Vor uns erstreckt sich das Gelände des Khomeini-Mausoleums.
Das Grabmonument aus dem Jahr 1989 beherbergt die Überreste von Ajatollah Ruhollah Khomeini, dem Gründer der islamischen Republik Iran. Sie liegen unter einer goldenen, 68 Meter aufragenden Kuppel, deren Höhe auf das Todesjahr des Ajatollah im islamischen Kalender, 1368, verweist. Vier freistehende Minarette ragen 91 Meter empor. Einer Moschee gleich, ist das Mausoleum sowohl letzte Ruhestätte des Verstorbenen, als auch heiliger Pilgerort der iranischen Schiiten. Hier manifestiert sich der Personenkult um den ehemals charismatischen Kleriker. Es heißt, dass zehn Millionen Trauergäste seiner Beisetzung beiwohnten.
Khomeini selbst, ernst und rücksichtslos, wird in bescheidenen Verhältnissen geboren. Zu Lebzeiten ist er der religiöse und spirituelle Führer der islamischen Revolution – das Gesicht des Widerstands gegen den Monarchen Schah Mohammad Reza Pahlavi und gegen den Imperialismus der USA. Doch die Opposition, die Ende der 1970er mit Massenprotesten und Demonstrationen gegen die autoritäre und absolutistische Herrschaft des iranischen Königs aufbegehrt, sieht sich mit Khomeini letztendlich einem Diktator aus ihren eigenen Reihen konfrontiert. Der Ajatollah symbolisiert den konservativen Religionsfundamentalismus. Er ruft die Scharia, die islamische Rechtsprechung, aus und ist gnadenlos zu seinen früheren Wegbegleitern und jetzigen Gegnern. Unter seiner Führung wird das heiratsfähige Alter von Mädchen im Iran auf neun Jahre zurückgestuft. Noch im Jahr seines Todes, 1989, ruft er unter dem Vorwurf der Gotteslästerung, zur Ermordung des indischen Schriftstellers Salman Rushdie auf.
Der Westen gibt sich kaum Mühe Khomeini zu verstehen; er gilt schlicht als religiös-radikaler Reaktionär. Im Iran wird sein charismatisches Wesen hingegen verehrt. Für Khomeini und die islamische Republik kämpfen tausende Freiwillige im Iran-Irak-Krieg von 1980 bis 1988 und sterben den Märtyrertod. Der Ajatollah gilt weiten Teilen der Bevölkerung als Verteidiger der Unterdrückten und Entrechteten, als Sinnbild einer sozialen Revolution, die sich gegen die Ungerechtigkeit und Willkür der autoritären Monarchie stellt. Khomeini verkörpert darüber hinaus eine nationale Unabhängigkeit, die sich nicht von äußeren Mächten lenken lässt. Eine Eigenschaft, mit der er sich stark vom früheren König unterscheidet und die besonders den USA ein Dorn im Auge ist. Khomeini ist ein zweischneidiges Schwert. Er polarisiert.
Wir nähern uns dem Mausoleum. Auf dem Parkplatz, groß genug für ein Messegelände oder einen gemeinschaftlichen Warnstreik von VERDI und Cockpit, fühlen wir uns bereits wie Eindringlinge. Für uns Nichtgläubige ist der Ort viel zu aufgeblasen. Vor uns erhebt sich die Grabstätte mit ihren Nebengebäuden, Kuppeln, Minaretten, Pilgerunterkünften, Bibliotheken, Restaurants und medizinischen Versorgungsstellen und nimmt dabei die Fläche von 21 Fußballfeldern ein. Das Grabmal ist nicht nur letzte Ruhestätte des ehemaligen Staatsoberhauptes, sondern auch Konserve für dessen Ideen, Gedanken und Betrachtungen. Hier werden Ideale und Weltanschauungen der Vergangenheit hoch gehalten und die Idee der islamischen Revolution bis in die Gegenwart manifestiert. Hinter vergoldeten Mauern fehlt die Freiheit, sie weiter zu entwickeln. Khomeinis Ideologie steckt fest im Schraubstock der Unveränderbarkeit. Das Grabmal ist der letzte Ausdruck eines Personenkults um den verstorbenen Führer, ein Symbol der islamischen Revolution von 1979. Solange Khomeini im Iran wie ein Heiliger verehrt wird, solange blüht auch sein Entwurf eines konservativen Islams im Land.
Wir marschieren mit unserem Gepäck staunend an dem nicht enden wollenden Mauerwerk vorbei. Extravagant ist nicht genug, um die übertriebenen Ausmaße des Mausoleums zu beschreiben. Dabei wollen wir gar nicht hier her. Allein die nach Süden führende Schnellstraße hinter dem Grabmal ist unser Ziel. Auf ihr gelangen wir von Teheran zu unserer nächsten Station Ghom.
An der Schnellstraße halten wir an einer nahen Mautstation. Hier positionieren wir uns vor dem Gegenverkehr, der hinter der Gebührenstelle langsam an uns vorbei rollt. Wir sind gut sichtbar und es dauert nur ein paar Minuten, da steigen wir in einen weißen Kleinwagen. Der Fahrer Sadegh hat das gleiche Ziel und gemeinsam steuern wir Ghom entgegen. Es sind nur etwa 140 Kilometer, die wir in südlicher Richtung unterwegs sind. Nicht einmal zwei Stunden werden wir benötigen. Während wir über die mehrspurige, gut ausgebaute Schnellstraße dahingleiten, sprechen wir mit Sadegh über die Nachwirkungen der islamischen Revolution und Khomeini als ihre schillernde Figur. Für Sadegh sind der Entwurf einer islamischen Republik und die Ideen des Ajatollah keinesfalls so reizbar, wie für den Westen. Zwar sei etwa die Auslegung der Scharia sehr hart, gibt Sadegh zu bedenken, aber wer ein rechtschaffendes Leben führe, habe auch nichts zu befürchten. Alles in allem, so schlussfolgert er, habe Khomeini viel für das Land geleistet. Dass er sich nach Jahren der Abhängigkeit gegen den Imperialismus des Westens wehrte, habe viele Iraner mit Stolz erfüllt. Als wir uns nach demokratischen Grundwerten wie Presse- und Redefreiheit erkundigen, zuckt Sadegh nur mit den Schultern, so als wolle er sagen, dass Opfer gebracht werden müssten.
So wie Sadegh reagieren viele Iraner mit einer scheinbar geringen demokratischen Vorstellungskraft. Seit Jahrzehnten wird das Land von harter Hand regiert. Schon vor Khomeini herrscht Schah Mohammad Reza Pahlavi mit Willkür und Gewalt über den Iran. Eine freie Demokratie haben die meisten Iraner nie erlebt. Dementsprechend wird, natürlich nur hinter verschlossenen Türen, viel über das Kopftuch, Alkoholverbot und andere staatliche Repressalien diskutiert. Erstaunlich selten spricht man dabei aber von demokratischen Grundwerten und Menschenrechten. Die Beschneidung elementarer gesellschaftlicher Freiheiten, etwa Presse- oder Redefreiheit, empfinden viele Iraner, mit denen wir ins Gespräch kommen, als weit geringeres Problem als die persönlichen Einschränkungen durch Kleidungs- und Verhaltensvorschriften.
Am frühen Nachmittag erreichen wir Ghom, eine von sieben heiligen Städten der schiitischen Muslime. Am Eingang der Stadt, dort wo an einem großen Kreisverkehr die Hauptstraßen in verschiedene Nachbarschaften und Viertel führen und schnurrbärtige Taxifahrer auf Kunden warten, steigen wir aus. Hier sind wir mit unserer Gastgeberin Maryam verabredet. Ihre Familie wird uns für die nächsten Tage aufnehmen. Doch noch fehlt von Maryam jede Spur. Stattdessen betrachten wir die gleichmäßig dahinfließende Fahrzeugkolonne, die sich, in dunkle Abgase gehüllt, in mehreren Spuren um die Verkehrsinsel windet. Ab und an bieten die beschäftigungslosen Taxifahrer ihre Dienste an.
Dann drängelt sich ein Auto in den Kreisverkehr; eine verbeulte, rostzerfressene Schüssel, die ihren Extrabeitrag zur Luftverschmutzung in dicken schwarzen Wolken hinter sich her zieht. Klappernd schiebt sich der Schrotthaufen im Einheitsbrei der weißen PKWs nach vorne, überholt links und rechts und wo kein Platz ist, fordert er mit quakender Hupe einen freien Weg. Als uns die Fahrerin erblickt, lässt sie für einen kurzen Moment das Lenkrad los, um uns freudig mit beiden Händen zu winken. Anschließend zieht sie ohne den Blinker zu setzen auf die äußerste Spur und bleibt mit einer Vollbremsung halb auf der Fahrbahn, halb im Taxistand stehen. Maryam ist da!
Ihre Begrüßung ist ebenso chaotisch wie ihr Fahrstil. Da wir sowohl eine Spur des Kreisverkehrs als auch die Einfahrt zum Taxistand versperren, bleibt uns wenig Zeit unser Gepäck im Kofferraum zu verstauen. Dann sitzen wir auch schon auf der Rückbank und kugeln während der rasanten Fahrt durch die Stadt von einer Ecke in die andere. Anschnallgurte suchen wir vergebens, diese befinden sich nur an den Vordersitzen. Zwar wäre auch neben Maryam Platz, aber die Beifahrertür lässt sich in der verbogenen Karosserie nicht öffnen.
Während der Fahrt redet Maryam von vorne ununterbrochen auf uns ein. Es stört sie nicht, ihre Aufmerksamkeit sekundenlang von der Straße auf die Rückbank zu verlagern und sich dabei vollständig zu uns umzudrehen. Maryam, das merken wir schnell, ist ausgesprochen liebenswürdig und augenscheinlich verrückt.
Unerwartet unbeschadet erreichen wir das Zuhause der jungen Frau; ein mehrstöckiges Wohnhaus in einer staubigen Seitengasse. Dort, im großen Wohnzimmer der ersten Etage, erwarten uns bereits Maryams Mutter Zahra und ihre Schwestern Nafise, Amene und Safiye, die gerade ihre Ungebundenheit in den Semesterferien genießen. Alle fünf Frauen tragen auch innerhalb der geräumigen Dreizimmerwohnung den islamischen Hidschab, was natürlich an unserer Anwesenheit liegt. Unter den perfekt gebundenen Kopftüchern lugt nicht ein einziges Haar hervor.
Zahra hat sogar ihren Tschador, ein langes Tuch, das sie um Kopf und Körper wickelt, angelegt. Ihre Religion gebietet es, sich vor fremden Männern bedeckt zu zeigen. Zum ersten Mal im Iran erleben wir Gastgeber, die es mit der Religion ziemlich genau nehmen. So dauert es auch nur wenige Augenblicke, bis wir nach unserer Meinung zum Islam befragt werden. Ein Thema, das uns zunächst etwas unbehaglich ist: Wir wollen uns weder bloßstellen, noch religiöse Gefühle verletzen und antworten schüchtern und einsilbig. Über uns hängt ein Teppichbild an der Wand, das einen europäisch anmutenden Birkenwald zeigt. Es ist eines dieser kitschigen, aus tausenden Knoten bestehenden Bildnisse, die uns bereits auf den Märkten in Täbris und Teheran auffielen. Ein anderes Bild zeigt Ali, den, nach schiitischem Glauben, legitimen Nachfolger des Propheten Mohammed. Wir versuchen diplomatische Antworten zum Islam zu finden und stellen erleichtert fest, dass unsere religiöse Befangenheit für unsere Gastgeber kein Problem ist. Dennoch fühlen wir uns deutlich wohler, als wir zu weniger kontroversen Themen wechseln.
Während wir mit Maryam und ihren Schwestern auf der Couch sitzen, serviert uns Zahra mit einem warmen Lächeln ihr selbstgemachtes Halva. Die Zuckermasse, eine klebrig-süße iranische Köstlichkeit, ist nur die erste von vielen Leckereien, die wir in den nächsten Tagen in Zahras Haus probieren werden. Jedes Mal, wenn uns die Frauen mit einer neuen Delikatesse, einer neuen Leckerei bewirten, sind sie genauso aufgeregt wie wir. Solange wir essen, beobachten sie uns erwartungsvoll und kosten selbst nichts. Erst wenn wir alles verputzt und unsere dankbare Zufriedenheit ausgedrückt haben, löst sich ihre Anspannung und wohlwollend lächeln sie einander an.
Mit vollem Mund machen wir es uns auf den breiten, weichen Polstermöbeln gemütlich. Während wir in der wohl geheizten Wohnung die winterliche Kälte der Außenwelt vergessen, wirbelt Maryam wort- und gestenreich um uns herum. Sie bringt Tee und Ghand, lockere Zuckerbrocken, Äpfel und kleine Messer zum Zerteilen der Früchte. Dabei sprudelt es in einem fort aus ihr heraus: Wie froh sie ist uns kennenzulernen. Wie sehr sie unsere Reise begeistert. Wie es uns bisher im Iran ergangen sei.
Besonderes Interesse hat die junge Frau an diesem komischen Trampen, von dem wir immer wieder erzählen und von dem sie sich gar keine Vorstellung machen kann. Das Konzept des Trampens ist im Iran tatsächlich völlig unbekannt. Am Straßenrand enden unsere umständlichen Erklärungsversuche, dass wir ohne Bezahlung in einem Auto mitgenommen werden möchten, immer wieder in ungläubigem Kopfschütteln. Benzin ist im ölreichen Iran so billig, dass niemand auf die Idee kommt, nicht für einen Transport zu bezahlen. Selbst Trinkwasser ist teurer. Viele Iraner halten uns deshalb für arm und mittellos. Immer wieder müssen wir gutmütige Helfer beharrlich davon überzeugen, dass wir keine finanziellen Probleme haben und auch nicht bereit sind Geld anzunehmen. Trotzdem blicken wir immer wieder in entsetzte Gesichter. Hinter den irritierten Mienen scheinen ganze Weltbilder zusammenzubrechen. Einige Iraner überlegen ernsthaft unseretwegen die Polizei zu rufen.
In diesem Unverständnis ist es ein kleiner Trick, der uns dennoch die Herzen der Iraner und die Türen ihrer Autos öffnet. Wir verbiegen die Wahrheit; nur ein winziges Bisschen. Anstatt direkt nach einer Mitfahrgelegenheit zu fragen, behaupten wir, dass wir grundsätzlich zu Fuß unterwegs seien. Lediglich wenn uns ein Fahrer Hilfe anböte, stiegen wir in ein Fahrzeug. Dabei ist Hilfe das Zauberwort, das die Augen der meisten Iraner leuchten lässt. Gästen Hilfe anbieten? – Iraner kennen keine bessere Freizeitbeschäftigung.
Maryam klatscht begeistert in die Hände. Dieser Trick hätte auch bei ihr funktioniert, gibt sie fröhlich lachend zu. Überhaupt lacht die junge Frau sehr viel, steckt voller Energie, voller Lebensfreude. Allein ihr zuzusehen erheitert bereits das Gemüt. Maryam, Anfang dreißig, ist noch immer ein Kindskopf. Während gleichaltrige Frauen bereits verheiratet sind und Kinder bekommen, läuft sie um die Wette, klettert auf Mauern, springt über Gräben und verhält sich überhaupt ganz unkonventionell. Dabei wirkt sie in allem was sie macht sehr selbstbewusst. Dennoch: Es ist schwer sich Maryam seriös vorzustellen. Im kommenden Semester wird sie ihr Jurastudium abschließen, aber ich glaube, dass sie viel lieber Piratin oder Forscherin oder Astronautin wäre; irgendein Beruf jedenfalls, bei dem sie immer neue Sphären entdecken könnte.
Abends, wenn die Sonne untergegangen ist und Ghom in eisiger Nacht zu schlafen beginnt, verbringen wir viel Zeit zusammen im Wohnzimmer. Während wir von unseren Reisen berichten, funkeln Maryams Augen über ihrer spitzen Nase und wenn sie aus ihrem Leben erzählt, dann vor allem von ihren Erkundungen und abenteuerlichen Erlebnissen, die ihr tagtäglich widerfahren. Heißer Chai und leckere, kalorienreiche iranische Süßigkeiten werden uns unaufhörlich von unseren Gastgebern angeboten. Aus der oberen Etage des Wohnhauses besucht uns immer wieder Hadi, Zahras ältester Sohn, mit seiner Frau Atefe und seinem vierjährigen Sohn Amir Mohammad. Wie so oft im Iran, lebt auch hier die Familie über mehrere Generationen zusammen. Zahras Wohnzimmer im ersten Stock ist der Fixpunkt des Hauses. Hier treffen sich all seine Bewohner – sowohl Hadi aus der obersten Etage, als auch Maryam und ihre Schwestern aus der Wohnung im Erdgeschoß, sind ständig hier.
Hadi ist ein freundlicher junger Mann in den 30ern und überaus konservativ. Unsere Geschichte nimmt er ohne Regung auf. Per Anhalter zu reisen hält er für etwas ziemlich Gefährliches und Dummes. Er spricht es nicht aus, aber in seinem Gesicht lese ich deutlich, dass wir ihm nicht geheuer sind.
Seine Frau Atefe ist blass und mager. Sie wirkt kraftlos und kränklich, hustet laut mit offenem Mund. Sie spricht wenig und wenn, dann ruft sie vor allem den Namen ihres Sohnes: Amir Mohammad! Amir Mohammaaad!! Amir MOHAAMAAAAD!!! Amir Mohammad ist genauso blass, mager und kränklich wie seine Mutter. Auch er hustet am liebsten mit offenem Mund.
Doch wir werden noch viel mehr Verwandte kennenlernen. Da sind Onkel und Tanten, Großonkel und Großtanten, Cousins und Cousinen. Fast zwei Dutzend Personen müssen wir im Gedächtnis behalten: Bei allen sind wir zum Essen eingeladen. Ghom wird zur Stolperfalle für unseren Hüftspeck. Es sind so viele Einladungen, dass wir einen Plan anfertigen müssen, wann wir wo sein werden und trotzdem haben wir Schwierigkeiten alle Familienmitglieder unter einen Hut zu bekommen. Ausschlagen können wir keine Einladung. Jeder möchte uns einmal bei sich zuhause bewirten dürfen. Wir werden Kiloweise Kebab, Reis und Gemüse essen. Die schrägste Verabredung haben wir bei einer älteren Cousine. Da wir keinen anderen Termin mehr finden können, sind wir bei ihr um Mitternacht zu Safraneis und Tee bestellt.
Maryams gesamte Familie ist tief religiös und intellektuell geprägt. Männer und Frauen haben studiert. Seit Generationen gehören Mullahs, islamische Religionsgelehrte, zur engen Verwandtschaft. Maryams Opa lehrte bereits als Mullah an der Hawza, einer islamischen Universität, im irakischen Nadschaf. Ebenso ihr ältester Onkel Mohammed Mahdi. Beide trugen den religiösen Titel Ajatollah, die wichtigste Ehrung der Schiiten. Einige ihrer Tanten sind mit Mullahs verheiratet. Auch Maryams Vater ist ein Mullah und unterrichtet an der Hawza in Ghom. Momentan weilt er jedoch auf einem Kongress im Irak. Dort haben viele Verwandte über Jahre hinweg gelebt. Hier festigt sich ein umfassendes Gespür für die Religion, das an die nachfolgenden Generationen weitergegeben wird. Arabisch, die Sprache des Korans, wird zur Familiensprache.
Vor allem im irakischen Nadschaf gaben sich die Söhne der Familie religiösen Studien hin. Es ist die heiligste Stadt der Schiiten. Sie beherbergt das Grabmal des Imam Ali. Nach schiitischem Glauben ist er der legitime erste Nachfolger des Propheten Mohammed. An seiner Person spaltet sich die islamische Glaubensgemeinschaft bereits kurz nach dem Tod des Propheten im siebten Jahrhundert. Aus der Einheit der muslimischen Brüder und Schwestern führen nun zwei Pfade: die Sunniten, die Ali nicht als Nachfolger anerkennen und denen heute etwa 85 Prozent aller Muslime angehören, und die Schiiten, die lediglich im Iran, Irak, Aserbaidschan und Bahrain die Mehrheit der muslimischen Bevölkerung stellen.
Dass Maryams Familie nun zusammen in Ghom lebt, ist ebenfalls kein Zufall. In den theologischen Hochschulen der Stadt werden die meisten iranischen Kleriker ausgebildet. Aus allen Ecken des Iran kommen Studenten, um hier zu lernen. Ghom ist konservativ und religiös bedeutsam. Nach Maschhad, wo sich die Grabstätte des Imam Reza befindet, gilt Ghom als der zweitheiligste Wallfahrtsort des Landes.
Hier studierte bereits Ruhollah Khomeini, der spätere Führer der islamischen Revolution, Theologie, Philosophie und Jura. Hier wird er zum Ajatollah ernannt. Nicht zuletzt deshalb steigt Ghoms Bedeutung nach der Machtübernahme der Kleriker erheblich an.
Khomeini, bereits während des Studiums ein charismatischer Kerl, erarbeitet sich schnell einen Ruf als hervorragender Kleriker. Er gilt als ernst und gewissenhaft, schreibt Bücher, lehrt Theologie und zeichnet sich durch einen konsequenten kritischen Blick auf den iranischen König aus, dessen Reformen viel zu modern für die traditionell geprägte Phantasie des Ajatollahs sind. Doch es sind auch die monarchische Dekadenz und die Abhängigkeit und der damit verbundene blinde Gehorsam zu den USA, die Khomeini angreift. Als der iranische König sich entschließt den Großgrundbesitz des Klerus zu pfänden und die Rechte der Frauen zu stärken, platzt dem Prediger endgültig der Kragen. Er legt sich öffentlich mit dem Monarchen an und wird daraufhin von König Mohammad Reza Pahlavi 1964 des Landes verwiesen.
Doch Khomeini hat Wut im Bauch. Aus seinem Exil im Irak setzt er seine Schriften gegen die Monarchie fort. In mehreren Essays, Büchern und Artikeln propagiert Khomeini seine Idee einer islamischen Republik und findet damit bei vielen Schiiten Gehör. Währenddessen verliert der iranische König immer mehr Rückhalt in der Bevölkerung. Seine liberalen Reformen kommen vor allem im konservativen Lager nicht gut an. Dort befürchten sie eine Aufweichung der iranischen Kultur. Aber vor allem der Einfluss der USA auf Regierungsgeschäfte, die Ausbeutung iranischer Ölfelder durch ausländische Unternehmen unter Zustimmung des Königs und die brutale Willkür der Monarchie gegenüber dem eigenen Volk lassen die Opposition erstarken. Es kommt zu Demonstrationen und Streiks. Linke, Gewerkschafter, Arbeiter und Bürger der Mittelschicht gehen auf die Straßen, üben Druck auf die Obrigkeit aus, leisten Oppositionsarbeit. Moralisch unterstützt werden sie von den Klerikern. Auch die Reden und Schriften Ruhollah Khomeinis liefern Inspiration und Anregungen. Aus dem Exil agiert er immer wieder mit öffentlichen Stellungnahmen gegen den Schah und behauptet sich so als geistiger Anführer der Opposition. Dabei könnten die jeweiligen Ziele der oppositionellen Gruppen nicht unterschiedlicher sein: Während die progressiven Kräfte schnellere und umfangreichere Reformen fordern und sich gegen die eigene, von imperialistischen Mächten gesteuerte Monarchie erheben, verlangen die erzkonservativen Kleriker die Rücknahme bereits beschlossener Veränderungen und fordern mehr eigene Rechte.
Der König antwortet auf die anhaltenden Demonstrationen mit Folter und Mord. 1978 verhängt er das Kriegsrecht. Hunderte Demonstranten werden daraufhin in den Großstädten Teheran und Täbris, aber auch in Ghom auf offener Straße erschossen. Es ist ein letzter verzweifelter Akt des Monarchen sich gewaltsam an der Macht zu halten. Erfolglos. Die Menschen protestieren weiterhin gegen den König. Zu diesem Zeitpunkt ist Khomeini endgültig der spirituelle Führer der Massen. Obwohl noch immer im Exil, wird er weltweit zum Symbol der iranischen Revolution. Im Jahr 1979 ist die Opposition endlich siegreich. Schah Mohammad Reza Pahlavi flieht am 16. Januar in die USA. Die Monarchie im Iran ist gestürzt.
Nur wenige Tage später kehrt Khomeini in den Iran zurück und setzt sich direkt an die höchste Stelle des Staates. Er hat die Vision eines unabhängigen, theokratischen Staates, der von den höchsten islamischen Gelehrten beherrscht wird und verkündet selbstbewusst und autokratisch: „Ab jetzt werde ich es sein, der die Regierung ernennt.“
Nach der Machtübernahme ruft Khomeini eine islamische Republik aus, setzt eine neue Verfassung ein und erklärt die Scharia, die islamische Rechtsprechung, zum gültigen Gesetzbuch. Alles Unislamische wird bald darauf verboten. Damit sind vor allem monarchische, demokratische und kommunistische Kräfte gemeint. Khomeini kennt keine Kompromisse. Die einstigen Oppositionspartner erklärt er nun zu Feinden, die er rücksichtslos und brutal verfolgen lässt. Tausende Iraner, linke Studenten und Intellektuelle, Schriftsteller, Gewerkschafter, Journalisten und Reformer verlassen das Land, fliehen nach Europa und Amerika.
Wer es nicht rechtzeitig schafft zu entkommen, den erwartet das Schlimmste. Willkürliche Exekutionen gehören zum Alltag. Personen verschwinden spurlos. Die breite heterogene Basis, die gegen den Schah demonstrierte, wird ausgelöscht. Übrig bleiben die Kleriker mit einem Machtmonopol. Nach dem Abdanken der Monarchie zieht nun die islamische Revolution über das Land. Mit Khomeini als Staatsoberhaupt beginnt ein Personenkult im Iran, der den Ajatollah in den Stand eines Heiligen versetzt. In allen öffentlichen Gebäuden hängt sein Bild. Jede Stadt benennt Straßen oder Plätze nach dem neuen Herrscher. Das Konterfei des Klerikers prangt als Graffiti von Hauswänden. Auch beinahe 30 Jahre nach seinem Tod hat sich nichts daran geändert. Khomeini ist überall.
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