Das kälteste Klo der Welt

Ich tra­ge eine Müt­ze und bin tief in zwei Dau­nen­schlaf­sä­cke ver­gra­ben, nur die Nasen­spit­ze schaut raus. Die spürt die minus 10 Grad deut­lich und wenn ich atme, steigt eine klei­ne Dampf­wol­ke aus dem Schlaf­sack­berg und kon­den­siert an der Zelt­wand.

Ich kann seit eini­gen Minu­ten nicht mehr ein­schla­fen, weil mich ein drin­gen­des Bedürf­nis quält. Neben mir schnarcht Chris­ti­an, mit dem ich mir das Zelt tei­le. Im Halb­dun­kel kann ich nicht so rich­tig erken­nen, wo sein Kopf liegt, weil er die Schlaf­sack­ka­pu­ze fast voll­stän­dig zuge­ge­zo­gen hat.

Ich über­win­de mich und stre­cke einen Arm aus dem Schlaf­sack, um nach dem Head­light zu tas­ten. Da ist es, im glei­ßen­den Schein der Lam­pe sehe ich die fei­nen Eis­kris­tal­le an der Innen­sei­te des Zel­tes. Wie eine Rau­pe schä­le ich mich aus mei­nen Schlaf­sack­häu­ten, öff­ne den Reiß­ver­schluss. In der ark­ti­schen Stil­le der Hardan­ger­vid­da wirkt das kleins­te Geräusch wie Rie­sen­lärm, hof­fent­lich wacht kei­ner mei­ner Zelt­nach­barn auf.

Nur mit einer Schicht Woll­un­ter­wä­sche beklei­det, schlüp­fe ich in mei­ne Ski­stie­fel – die­se sind aus Leder und steif gefro­ren, denn sie ste­hen im Vor­zelt.

 

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Klo­gang in der Schnee­wüs­te 

Die blaue Stun­de kurz vor Son­nen­auf­gang lässt in die­sen Früh­lings­ta­gen die leicht hüge­li­ge Land­schaft des nor­we­gi­schen Fjells sanft erschei­nen. Mit der Taschen­lam­pe schwen­ke ich ein­mal durch das klei­ne Zelt­dorf. Acht Zel­te und alles schläft. Die Män­ner haben es gut. Wenn sie nachts mal müs­sen, pin­keln sie ein­fach in einen Gum­mi­sack und müs­sen dazu noch nicht mal aus dem Zelt krie­chen. Unser­eins muss zum Eis-Klo lau­fen, den Tram­pel­pfad durch den wei­chen Schnee ent­lang. Fünf­zig Meter ent­fernt steht unse­re total wind­ge­schütz­te Toi­let­te in der Eis­wüs­te Nor­we­gens. Sie besteht aus einer halb­run­den Mau­er aus Schnee­klöt­zen, andert­halb Meter hoch­ge­sta­pelt. Oben ein paar Ver­zie­run­gen, ein Herz, ein paar Initia­len der gest­ri­gen Kloer­bau­er.

Ich bin Schnee­künst­le­rin und als Frau in der Expe­di­ti­ons­grup­pe auch ein wenig für die Ästhe­tik ver­ant­wort­lich. Wenn es mei­ne Kräf­te am Ende des Tages noch zulas­sen, übe ich mich in der Gestal­tung die­ser tem­po­rä­ren Archi­tek­tur. Jeden Tag wäh­rend unse­rer Ski­tour errich­ten wir unser Camp an einem neu­en Ort. Natür­lich wird dann auch das stil­le Ört­chen neu auf­ge­baut. Zwei ein­ge­schmol­ze­ne Löcher im Schnee mar­kie­ren das Män­ner- und das Frau­en­klo­sett.

Nicht gera­de gemüt­lich, aber mit einer fan­tas­ti­schen Aus­sicht. Ich hocke mich hin und genie­ße dabei den Blick in die end­lo­se wei­ße Land­schaft. Schnell zieh ich die Woll­ho­se wie­der hoch, als es doch emp­find­lich kalt am Hin­tern wird. Jetzt nicht aus­küh­len, son­dern schnell zurück in den noch war­men Schlaf­sack.

 

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Mor­gens im Schnee­camp der Hardan­ger­vid­da 

Es ist bald Auf­steh­zeit im klei­nen Expe­di­ti­ons­camp. Plötz­lich rauscht es laut und unge­wöhn­lich. Erst schre­cke ich hoch, lege mich dann aber erleich­tert zurück auf die dop­pel­te Iso­mat­te. Tho­mas hat schon mal den Kocher im Küchen­zelt ange­schmis­sen. Ich bin ihm sehr dank­bar. Das Schmel­zen von Schnee dau­ert eine gan­ze Wei­le, wir sind zwölf Per­so­nen und eben­so vie­le Ther­mos­kan­nen ste­hen im Küchen­zelt bereit und wol­len befüllt wer­den. Ich bin froh, dass einer der erfah­re­nen Grön­land­eis­que­rer den Dienst über­nimmt. Ich selbst bin blu­ti­ge Anfän­ge­rin in den eisi­gen Wei­ten der Ark­tis.

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Neue Hori­zon­te erse­geln 

Schon lan­ge bin ich ver­liebt in die­se men­schen­lee­ren Gegen­den und die blau­grün schim­mern­den Eis­schol­len und Schnee­ver­we­hun­gen. Immer wie­der saß ich in den letz­ten Mona­ten vor mich hin träu­mend in stau­bi­gen Stra­ßen und über­füll­ten Parks in Pots­dam mit ark­ti­schen Land­schaf­ten vor mei­nem inne­ren Auge. Allein die­se Vor­stel­lung bringt mich immer wie­der run­ter, kühlt mich inner­lich ab. Der Ent­schluss ist ganz klar: Ich muss wis­sen, wie es ist, auf Ski­ern in Eis und Schnee in end­lo­sen wei­ßen Wei­ten unter­wegs zu sein.

Wie ich so in Haupt­stadt­nä­he auf hei­ßem Asphalt vor mich hin tra­be, sehe ich einen klei­nen lila Cor­sa am Rand ste­hen. Wewe­we punkt groen­land­durch­que­rung punkt de. Habe ich jetzt schon Hal­lu­zi­na­tio­nen oder steht da wirk­lich ein Pots­da­mer Auto mit die­ser Auf­schrift? Die Zei­le hat sich in mein Gehirn gebrannt. Ich schaue im Netz nach und ein paar Tage spä­ter sit­ze ich mit Prof. Wil­fried Korth in sei­nem auf­ge­mö­bel­ten Wal­fän­ger­boot, was auch schon rund Feu­er­land unter­wegs war und segel über den Schwie­low­see. Der durch­trai­nier­te Mitt­fünf­zi­ger hat schon mehr­fach das Inland­eis Grön­lands über­quert und dort eigen­hän­dig wis­sen­schaft­li­che Mes­sun­gen vor­ge­nom­men. Mit­ten im Hoch­som­mer, erzählt er von sei­nen Expe­di­tio­nen. Mir wird heiß und kalt gleich­zei­tig. Doch es bleibt kaum Zeit für Ark­tisträu­me­rei­en, das umschla­gen­de Segel muss bedient wer­den, die Tam­pen lie­gen quer im Boot.

Wäh­rend des som­mer­li­chen und herbst­li­chen All­tags mit mei­ner klei­nen Fami­lie holen mich zwar immer wie­der die­se ark­ti­schen Bil­der ein, aber eigent­lich ist eine Ski­tour fer­ner lie­fen. Eigent­lich nur etwas, was man bei ande­ren Leu­ten auf Face­book ver­folgt. Vor­nehm­lich bei bekann­ten Ark­tis­fo­to­gra­fen und ande­ren männ­li­chen Schnee­aben­teu­rern. Von einer Frau hört man sel­ten. Eigent­lich kann ich mir das abschmin­ken, den­ke ich. Gehe aber trotz­dem flei­ßig zum Trai­ning, jog­ge und begin­ne Lang­di­stanz­wan­de­run­gen um Ber­lin und Pots­dam her­um zu absol­vie­ren.

Mei­ne Fami­lie guckt etwas schräg, wenn ich am Wochen­en­de mor­gens für Trai­nings­wan­de­run­gen aus dem Bett hüp­fe und die Kids damit quä­le, dass ich sie mit dem Rad zur Schu­le brin­ge, egal bei wel­chem Wet­ter.

Dann kommt die ent­schei­den­de Email. Wil­fried schreibt an einen klei­nen Ver­tei­ler die Ein­la­dung zu einem Ark­tistrai­ning in der Hardan­ger­vid­da. Ich scan­ne den Ver­tei­ler. Mit mir drei Frau­en. Erleich­te­rung. Es gibt also doch noch ein paar schnee­ver­rück­te Hüh­ner. Ich ken­ne außer Wil­fried nie­man­den von den poten­zi­ell Mit­rei­sen­den.

 

Es wird ernst – die Vor­be­rei­tun­gen auf das Ark­tistrai­ning lau­fen 

Es folgt ein Vor­be­rei­tungs­abend mit einer Dia­show zu Grön­land, ein paar Fach­sim­pe­lei­en über Netz­hem­den aus Meri­no­wol­le und die rich­ti­gen Ski­schu­he. Bit­te aus Leder.

Aus Ver­zweif­lung über mein Nicht­wis­sen rufe ich mei­nen out­door­er­fah­re­nen Freund Chris­ti­an an. Mit ihm habe ich schon man­ches Aben­teu­er über­stan­den. Eine Ski­tour haben wir bei­de noch nicht gemacht. Wochen mit end­lo­sen Tele­fo­na­ten über die rich­ti­ge Aus­rüs­tung und die rich­ti­ge Vor­be­rei­tung fol­gen. Er nimmt alles so ernst, dass er Auto­rei­fen hin­ter sich her­zie­hend in den Meck­len­bur­gi­schen Wäl­dern her­um­rennt. Soweit bin ich noch nicht, ich zweif­le dar­an, dass ich in der Trup­pe mit­hal­te, wenn alle so an das The­ma ran­ge­hen wie er. Aber es gibt kein Zurück mehr. Die Fähr­ti­ckets sind gebucht.

 

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Die Hardan­ger­vid­da als Trai­nings­platz

Schwupp­di­wupp, befin­de ich mich in der größ­ten Hoch­ebe­ne Nord­eu­ro­pas, der Hardan­ger­vid­da mit Ski­ern an den Füßen und mit einer 60 Kilo­gramm schwe­ren Pul­ka (so nennt man den Trans­port­schlit­ten) im Zug­ge­schirr.

Den ers­ten Tag ver­brin­ge ich schwit­zend wie ein Zug­pferd vor die­sem Schlit­ten. Immer bin ich die letz­te in der Spur. Ich schnau­fe, mein Herz pumpt. Ich kom­me nicht dazu, mal ein Foto von der schö­nen Mono­to­nie der Land­schaft zu machen. Zu groß darf die Lücke zwi­schen mir und der elf­köp­fi­gen Grup­pe nicht wer­den. Doch glück­li­cher­wei­se machen wir pünkt­lich alle andert­halb Stun­den ein Pau­se. Ich habe es schon oft gele­sen, dass bei Ski­tou­ren die­se regel­mä­ßi­gen Unter­bre­chun­gen wich­tig sind, da der Kör­per mit Ener­gie ver­sorgt wer­den muss.

Ich span­ne mich aus mei­nem Zug­ge­schirr aus, kra­me in der Pul­ka nach mei­ner Ver­pfle­gung. Set­ze mich mit dem Rücken zum Wind auf den Schlit­ten. Es wird schnell kalt. Noch­mal auf­ste­hen, die dicke Dau­nen­ja­cke über­wer­fen. Alle ande­ren sit­zen auf ihren Schlit­ten, eini­ge schau­en in die Land­schaft, sind zusam­men­ge­kau­ert und bie­ten dem Wind nur wenig Angriffs­flä­che.

Ich knab­be­re mei­nen Ener­gie­rie­gel und ein paar Nüs­se aus der Zip­tü­te. Pro Tag habe ich eine sol­che Ver­pfle­gungstü­te für unter­wegs gepackt. Die kalo­rien­ge­füll­te Beu­tel sind am Ende jeden Tages auch immer rat­ze­put­ze leer gefut­tert. Auch ein Schluck aus der Ther­mos­kan­ne muss her. Trin­ken ist wich­tig bei so hoher kör­per­li­cher Anstren­gung. Es bedeu­tet aber auch, dass ich öfter mei­ne Bla­se lee­ren und mei­nen Hin­tern in den kal­ten Wind hän­gen muss.

Her­aus­for­de­rung Num­mer eins. Stun­den­lan­ge Recher­chen im Inter­net moti­vier­ten mich, eine Pin­kel­hil­fe mit­zu­füh­ren. Aller­dings habe ich zu Hau­se nicht oft genug geübt, sie zu benut­zen und ver­traue mir und ihr noch nicht so rich­tig. Her­aus­for­de­rung Num­mer zwei. Es gibt in der Hoch­ebe­ne kei­nen Baum hin­ter den man sich zurück­zie­hen könn­te. So ist es aber bald selbst­ver­ständ­lich, dass sich die Teil­neh­mer der klei­nen Expe­di­ti­ons­grup­pe immer dis­kret weg­dre­hen, wenn einer mal aus­tre­ten muss. Natür­lich geht man vom gewähl­ten Pau­sen­stopp noch ein paar Meter in die Land­schaft hin­ein. Ganz sel­ten fin­det man mal einen schüt­zen­den Fel­sen oder ähn­li­ches.

Irgend­wann schar­ren alle mit den Füßen und wol­len wei­ter. Der Kör­per braucht die Bewe­gung, um sich wie­der auf­zu­wär­men. Ich span­ne mich wie­der ins Zug­ge­schirr ein, fädel mei­ne Hän­de durch die Schlau­fen der Ski­stö­cker und schie­be die brei­te Gum­mi­soh­le in die Skib­in­dung und stel­le die­se fest.

Ich rucke den 60 Kilo Schlit­ten an. Nichts bewegt sich. Dabei waren wir doch vor der Pau­se noch gut in Fahrt. Ich leh­ne mich mit mei­nem gan­zen Kör­per­ge­wicht nach vor­ne und sto­ße mich mit den Stö­ckern ab. Jetzt end­lich bewegt er sich. Ein Ruck und ich rei­he mich in die Grup­pe ein, die schon die Spur gut aus­ge­fah­ren hat.

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Die Wol­ken sind mitt­ler­wei­le dich­ter gewor­den und es beginnt zu schnei­en. Ich zie­he mei­ne Sturm­hau­be ins Gesicht und set­ze mei­ne Ski­bril­le auf. Ohne sie wür­den mir die Schnee­flo­cken in die Augen flie­gen, was nur weni­ge Minu­ten und mit zusam­men­ge­knif­fe­nen Lidern zu ertra­gen ist. Das unwirt­li­che Wet­ter sieht durch mei­ne Ski­bril­le son­nig oran­ge aus. Die Kon­tu­ren der Land­schaft sind jedoch nicht mehr zu erken­nen. Ich sehe vor mir den Schlit­ten mit dem gel­ben Ver­deck. Chris­ti­ans Trai­ning mit dem Auto­rei­fen hat sich gelohnt. Sein Schlit­ten ist um eini­ges schwe­rer und ihm scheint die Fort­be­we­gung mit Ski­ern und Pul­ka leich­ter zu fal­len.

Ich set­ze einen Schritt vor den ande­ren und ver­su­che nicht ste­hen zu blei­ben, obwohl ich schnell außer Atem bin. Das Whiteout macht mir zu schaf­fen. Kei­ne Kon­tu­ren in der Land­schaft, nur der gel­be Fleck vor mir gibt mir Ori­en­tie­rung und beweist, dass ich noch an der Grup­pe dran bin.

Mei­ne Gedan­ken wan­dern in ganz ande­ren Wel­ten. Ich den­ke an die Fami­lie zu Hau­se, die in die­sen war­men Früh­lings­ta­gen wahr­schein­lich den Gar­ten pflegt, umgräbt und Gemü­se pflanzt. Dann wie­der wan­dern die Gedan­ken zu mei­nen gro­ßen Träu­men, die Ark­tis auf Ski­ern berei­sen – ist das wirk­lich mein Ding? Die Sehn­sucht nach Ein­sam­keit und wei­ten Land­schaf­ten, dem Weiß, der Käl­te – woher kommt sie und ist dies der ein­zi­ge Weg sie zu befrie­di­gen? Die Fra­gen und Gedan­ken tau­chen an jedem Tag der Ski­tour wie­der auf, wenn ich im regel­mä­ßi­gen Dahin­glei­ten hin­ter den ande­ren kei­ne ande­re Ablen­kung erfah­re, son­dern ganz bei mir bin.

Plötz­lich sehe ich in wei­ter Ent­fer­nung einen dunk­len Fleck in der Land­schaft, die Grup­pe strebt dar­auf zu. Es könn­te ein Fels sein, der aus dem Schnee ragt, aber als wir dich­ter kom­men, erken­ne ich die Struk­tu­ren eines Holz­hau­ses. Eine Fjell­hüt­te. Wir sind noch 200 Meter ent­fernt, als vor mei­nem inne­ren Auge schon ein Bol­ler­ofen vor sich hin pras­selt und ich auf einer Holz­bank sit­ze und in dicken Woll­so­cken Tee schlür­fe. Herr­lich warm wird mir bei der Vor­stel­lung der gemüt­li­chen Sze­ne­rie.

Der Kon­voi stoppt 20 Meter vor der Hüt­te. Eine rie­si­ge Schnee­we­he ver­deckt die Ein­gangs­tür. Kei­ne Spu­ren rings­her­um, die auf eine Bewirt­schaf­tung hin­deu­ten. Die­se Hüt­te ist im Win­ter­schlaf. Wahr­schein­lich wird sie Ostern geöff­net sein, wenn im nor­we­gi­schen Fjell der Bär steppt und eigent­lich jeder Nor­we­ger auf Ski­ern in der Früh­lings­son­ne unter­wegs ist.

 

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Camp­auf­bau im Schnee

Wir haben noch ein paar Kilo­me­ter vor uns, bevor das Tages­ziel erreicht ist. Am spä­ten Nach­mit­tag ent­schei­det Wil­fried, dass wir das Lager auf­bau­en. Laut GPS sind wir am Ufer eines Sees ange­langt. Die geschlos­se­ne Schnee­de­cke lässt nichts davon erah­nen. Trotz­dem ist so ein See­ufer eine schö­ne Vor­stel­lung für ein Nacht­la­ger.

Alle kra­men in ihren Schlit­ten, in denen Schlaf­sä­cke, Iso­mat­ten, Kla­mot­ten und Cam­pingu­ten­si­li­en ver­staut sind. Ich ver­su­che mich zwi­schen den Gepäck­stü­cken zurecht­zu­fin­den und zer­re ein gro­ßes Zelt­pa­ket her­vor. Das wird unser Tun­nel­zelt sein.

Der Wind weht so kräf­tig, dass wir es kaum aus­brei­ten kön­nen. Chris­ti­an hält zwei Ecken fest und ich die ande­ren zwei. Dazwi­schen flat­tert viel Stoff im Wind. Wir ver­su­chen uns an den Ecken zu ori­en­tie­ren und ein unbe­kann­tes Zelt in sei­ne Form zu zwin­gen. Nor­ma­ler­wei­se wür­de man sich vor so einer extre­men Tour mit dem Zelt zu Hau­se sehr ver­traut machen, es min­des­tens ein­mal zur Pro­be auf­stel­len, auch um zu schau­en, ob alle Tei­le da sind und zuein­an­der pas­sen. Da wir eine neue Serie an Zel­ten tes­ten, hat­ten wir sie vor­her lei­der nicht zur Ver­fü­gung. Uns gelingt es trotz­dem, die lan­gen Glas­fie­ber­stan­gen durch die dafür vor­ge­se­he­nen Tun­nel zu schie­ben. Die Ecken wer­den mit extra lan­gen Schnee­he­rin­gen im Unter­grund fixiert. Für ein paar wich­ti­ge Abspann­sei­le hal­ten die Ski­er her, die ich senk­recht in den Schnee ste­cke. Dann noch schnell ein paar Schau­feln Schnee auf die Schneelap­pen des Zel­tes gewor­fen und die Kon­struk­ti­on steht sta­bil im Wind. Ich schwit­ze fast mehr als beim Ski­lau­fen.

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Mei­ne Hand­schu­he habe ich kurz abge­legt, um den Zelt­auf­bau bes­ser zu bewerk­stel­li­gen. Das mit den Hand­schu­hen war wie­der ein Anfän­ger­feh­ler. Bin­nen Sekun­den kann ich mei­ne Hän­de nicht mehr gut bewe­gen vor Käl­te. Sie zieht bis in die Kno­chen. Ich suche panisch nach mei­nen Fäust­lin­gen, die bei­na­he unter dem losen Schnee ein­ge­weht wur­den und fast unter dem Weiß ver­schwin­den. Glück gehabt. Ich ver­krie­che mich in das Vor­zelt und bin vor dem Wind geschützt. Chris­ti­an reicht mir Iso­mat­ten und Schlaf­sä­cke hin­ein und ich begin­ne mit der Innen­ein­rich­tung. Mein Innen­ar­chi­tek­ten­herz schlägt höher wäh­rend ich die 3 Qua­drat­me­ter mit den gemüt­lichs­ten Uten­si­li­en der Welt bestü­cke. Schon beim Anblick wird mir wär­mer. Und ich lege mich zur Pro­be auf mein Nacht­la­ger. Herr­lich. Auf­ste­hen? Fehl­an­zei­ge.

Ein Krat­zen, Scha­ben und Schnau­ben dringt aus dem Vor­zelt an mein Ohr. Es wird sich doch kein Tier hier­her ver­irrt haben? Ganz im Gegen­teil. Hier geht der Haus­bau wei­ter. Chris­ti­an hebt einen Käl­te­gra­ben im Vor­zelt aus. Phy­si­ka­lisch viel­leicht nicht ganz kor­rekt, fällt hier die kal­te Luft nach unten. Ein zusätz­li­cher Vor­teil ist die schö­ne Stu­fe, die ent­steht. Wenn ich das Innen­zelt öff­ne, schwin­ge ich gleich danach mei­ne Bei­ne ins Vor­zelt und kann wie auf einer Schnee­bank sit­zend mei­ne Schu­he ganz bequem anzie­hen. Jetzt mit über vier­zig emp­fin­de ich das als rie­si­gen Luxus gegen­über dem Cam­pen im Som­mer. Dar­über hin­aus bie­tet der lan­ge Tun­nel uns ein geräu­mi­ges Vor­zelt. Wenn wir kein Küchen­zelt dabei hät­ten, könn­te hier gekocht wer­den. Außer­dem lagern wir hier noch ein wenig Krims­krams in Pack­sä­cken und stel­len die Schu­he ab.

Jetzt ist das klei­ne Heim in der unwirt­li­chen men­schen­feind­li­chen Umge­bung errich­tet. Der Wind weht kräf­tig und es ist sinn­voll, auch ein Stück Mau­er um das gesam­te Lager zu errich­ten. Ich schaue kurz aus dem Zelt und bemer­ke mit Erleich­te­rung, dass sich zwei der Män­ner um die­se Mau­er bemü­hen. Mit einer Schnee­sä­ge zer­tren­nen sie den meter­di­cken Schnee im Boden und heben Block für Block her­aus. Ein Vier­tel Kubik­me­ter Schnee kann auch mäch­tig schwer sein. Aber sie erschaf­fen die tem­po­rä­re Archi­tek­tur in einer Stun­de und haben damit einen gro­ßen Bei­trag für die Dorf­ge­mein­schaft geleis­tet.

Genau­so wie die Kloer­bau­er, die mit Lie­be das stil­le Ört­chen in der stil­len Land­schaft etwas abseits vom Camp errich­ten. Auch hier: eine Schnee­mau­er, ein paar Ver­zie­run­gen. Fens­ter mit Aus­sicht gib es umsonst. Jeder ein­zel­ne ist froh über den Ort mit zwei ein­ge­schmol­ze­nen gel­ben Pin­kel­lö­chern im Schnee. Auch er ist für weni­ger als 24 Stun­den errich­tet, weil die Kara­wa­ne am nächs­ten Tag schon wei­ter­zieht.

 

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Abend­essen im Küchen­zelt

Als alles auf­ge­baut ist, bemer­ke ich mei­nen knur­ren­den Magen. Die Mann­schaft fin­det sich im Küchen­zelt ein. Es ist eine Art Tipi. Hier ist der Schnee­gra­ben in der Mit­te so aus­ge­ho­ben, dass alle erhöht auf einer Schnee­kan­te sit­zen kön­nen und die Bei­ne run­ter­bau­meln las­sen. Iso-Sitz­kis­sen und Schaum­stoff­mat­ten schüt­zen unse­re Hin­tern vor der Käl­te. Als wir alle zwölf dicht gedrängt im Kreis sit­zen, der Kocher faucht und Was­ser­dampf das Zelt füllt, bli­cke ich in erschöpf­te aber glück­li­che Augen. Die meis­ten haben Moon­boots an den Füßen. Das sind die lus­ti­gen auf­ge­plus­ter­ten Ther­mo­stie­fel aus den Acht­zi­gern. Ein Segen, wenn man die Ski­schu­he mal aus­zie­hen will und etwas beque­mes, aber war­mes an den Füßen bevor­zugt. Woll­ho­sen und Dau­nen­ja­cken tra­gen zur Gemüt­lich­keit bei.

Dann das ersehn­te Abend­brot. Aus einem gro­ßen Sack zerrt Expe­di­ti­ons­lei­ter Wil­fried die Por­ti­ons­beu­tel mit gefrier­ge­trock­ne­ter Nah­rung her­aus. Es steht heu­te zur Aus­wahl: Borschtsch oder Nudeln mit Hühn­chen. Klingt bei­des nicht schlecht, ich kann mich kaum ent­schei­den.

Die Tüten wer­den auf­ge­ris­sen, hei­ßes Was­ser hin­ein­ge­gos­sen und dann noch­mal für eine Wei­le ver­schlos­sen. Ich kann es kaum abwar­ten, nach­dem ich den Essens­duft schon ein­mal tief ein­ge­at­met habe. Ein war­mer Tee muss die Pau­se über­brü­cken. Mit bei­den Hän­den hal­te ich mei­ne Metall­tas­se und bin ein­fach glück­lich. Die Stra­pa­zen des Tages haben sich ver­flüch­tigt, eine zufrie­de­ne Müdig­keit macht sich breit. Dann löf­fel ich die Nudeln aus mei­ner Tüte. Die­se Gerich­te haben rich­tig vie­le Kalo­rien, weil es die ein­zi­ge Ener­gie­ver­sor­gung ist, die man auf sol­chen Tou­ren hat. Bald füh­le ich mich papp satt und bin über­rascht über den guten Geschmack mei­ner Kos­mo­nau­ten­nah­rung.

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Der Höhe­punkt des abend­li­chen Gela­ges ist der Nach­tisch. Die Tech­nik macht es tat­säch­lich mög­lich, dass es sogar Mousse au Cho­co­lat hier drau­ßen in der Eis­wüs­te gibt. Sie wird eben­so mit hei­ßem Was­ser auf­ge­gos­sen und in einem gro­ßen Topf gerührt. Wil­fried macht den Test und dreht den Topf um, ist die Mas­se so fest, dass nichts raus tropft, ist sie genau rich­tig. Der Topf geht rum und jeder darf einen Löf­fel neh­men. Run­de um Run­de bis auch der letz­te Rest von der Alu­wand gekratzt ist.

Als letz­te Amts­hand­lung wer­den noch Füße ver­bun­den und Bla­sen abge­klebt. Das bleibt nicht aus, auch nicht bei den alten Grön­land­ha­sen. Bla­sen­pflas­ter und Tape sind hier eines der wich­tigs­ten Uten­si­li­en. Mit mei­nem medi­zi­nisch erfah­re­nen Zelt­nach­barn Chris­ti­an füh­le ich mich da auf der siche­ren Sei­te. Ich las­se mich ver­arz­ten. Auch wenn mei­ne Fer­sen danach wie klei­ne Pan­zer aus­se­hen, füh­le mich wie nach einer Well­ness­be­hand­lung.

Drau­ßen ist es mitt­ler­wei­le dun­kel. Ich füh­le mich vom Essen und Trin­ken schön durch­ge­wärmt. Ich set­ze mir mei­ne Stirn­lam­pe auf den Kopf und ver­ab­schie­de mich aus dem Küchen­zelt, um mich nun end­gül­tig für die Nacht lang zu machen. Noch ewig dringt mun­te­res Geplau­der aus dem Küchen­zelt an mein Ohr. Ich lie­ge in mei­nem dop­pel­ten Dau­nen­schlaf­sack und schlum­me­re einen erhol­sa­men Schlaf.

Segeln im Eis

Tags dar­auf strahlt die Son­ne vom Him­mel und der Wind weht seicht über die hüge­li­ge Land­schaft. Der Expe­di­ti­ons­lei­ter beschließt, einen Segel­tag dar­aus zu machen. Ich erin­ne­re mich zwar an unse­ren Ein­stand auf dem Wal­fän­ger­boot, als wir auf dem Schwie­low­see segel­ten, jedoch kann ich spon­tan kei­ne Ver­bin­dung zu dem Hier und Jetzt her­stel­len.

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Mit gerun­zel­ter Stirn beob­ach­te ich wie ein paar der alten Schnee­ha­sen wei­te­re zusam­men­ge­schnür­te Pake­te aus den Schlit­ten zer­ren und dann gro­ße bun­te Stof­fe mit hun­der­ten dün­nen Schnü­ren auf dem Schnee aus­brei­ten. Lang­sam däm­mert es mir.

Gro­ße Kite­schir­me waren in den Säcken, um die Lenk­stan­gen sind die vie­len Schnü­re gewun­den. Unter Anlei­tung darf ich auch einen Schirm start­klar machen. Schließ­lich ste­he ich mit der Bar in der Hand im Schnee. Chris­ti­an hält den leuch­tend blau­en Schirm 50 Meter von mir ent­fernt in die Höhe. Irgend­wie ver­su­chen wir uns zuzu­ru­fen, wann es los­ge­hen soll. Der Wind greift in den Kite und bug­siert ihn nach oben, ich ver­su­che die Bar fest zu hal­ten. Sobald ich jedoch eine Lenk­be­we­gung ver­su­che, stürzt das zar­te Gebil­de in den Schnee und muss neu gestar­tet wer­den. Spä­ter gelingt es mir, ihn eini­ge Minu­ten in der Luft zu hal­ten.

Das war nur die ers­te Übung. Die zwei­te soll­te etwas aben­teu­er­li­cher sein, denn wozu soll­te man in einer Schnee­land­schaft ein­fach nur Dra­chen stei­gen las­sen. Hier hat alles sei­nen Zweck. Bei der herr­li­chen Bri­se kann man die Natur­ge­wal­ten schließ­lich dazu nut­zen, auf Ski­ern vor­an zu kom­men.

Als der Kite vom Wind ergrif­fen wird, fah­re ich tat­säch­lich auf mei­nen lan­gen Bret­tern los. Ein klei­ner Schreck durch­fährt mich in der ers­ten Sekun­de. Ich ver­su­che zu len­ken und ver­lie­re sofort das Gleich­ge­wicht. Schnee ist über­all: im Gesicht, sogar im Nacken und in den Hand­schu­hen. Ich habe mir nicht weh­ge­tan und muss herz­lich über mich sel­ber lachen. Das sah bestimmt film­reif aus. Wie­der auf­rap­peln, den Schirm rich­ten und einen neu­en Ver­such star­ten. Dann folgt das süch­tig machen­de Gefühl, was wahr­schein­lich alle Sur­fer und Snow­boar­der ken­nen: das leich­te Dahin­glei­ten ohne gro­ße Kraft­an­stren­gung. Ich wer­de schnel­ler und bin froh, dass kei­ne Bäu­me im Weg ste­hen. Die ande­ren Leu­te sind mit ihren Kites eini­ge hun­dert Meter ent­fernt. Bun­te Punk­te in der Land­schaft. Wie beim Segeln auf dem Was­ser, ist die eine Rich­tung mit dem Wind immer ganz gut zu bewäl­ti­gen. Zurück muss man kreu­zen, das heißt einen Zick­zack­kurs zurück zum Lager fah­ren.

Das gelingt mir nicht, ganz im Gegen­teil schei­ne ich mich immer noch mehr zu ent­fer­nen und irgend­wann gebe ich ent­kräf­tet auf. Am Hori­zont ist das Lager noch gut zu erken­nen. Es ist viel­leicht einen Kilo­me­ter ent­fernt. Ich raf­fe den Schirm zusam­men und schie­be die Ski­er vor­wärts. Es gibt kei­ne Spur und Ski­stö­cker habe ich ja jetzt auch nicht dabei. Wie blöd.

Die Ret­tung naht: Wil­fried kommt auf Ski­ern ange­fah­ren mit zwei zusätz­li­chen Stö­ckern im Gepäck. Das erleich­tert eini­ges und wir sind in den nächs­ten 10 Minu­ten wie­der zurück im Lager. Mit leuch­ten­den Augen erzäh­len alle ande­ren von ihrem Segel­er­leb­nis im Schnee. Das Dahin­glei­ten durch wei­ße Land­schaft setzt eine Men­ge Glücks­hor­mo­ne frei. Ich erin­ne­re mich an die Geschich­te zwei­er Schwe­din­nen, die Grön­land von Süd nach Nord mit einem Kite und auf Ski­ern durch­fah­ren haben. So etwas in der Art möch­te ich auch noch mal in mei­nem Leben machen.

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An die­sem Segel­tag müs­sen wir unser Camp mal nicht abbau­en und uns im Gelän­de wei­ter­be­we­gen. Wir haben einen Feri­en­tag. Inmit­ten der Stra­pa­zen bei Minus­tem­pe­ra­tu­ren darf es auch mal ein wenig Ent­span­nung geben. Im Ver­lau­fe des son­ni­gen Nach­mit­tags ent­steht ein Iglu, dass über Nacht getes­tet wer­den darf. End­lich ist Zeit und Muße, das Weiß in sei­nen vie­len Facet­ten auf Fotos zu ban­nen und tief­schür­fen­de Gesprä­che über win­ter­taug­li­che Out­door­aus­rüs­tung zu füh­ren.

Jetzt füh­le ich mich nicht mehr wie ein Hasen­jun­ges. Ich bin zwar noch kein alter Schnee­ha­se nach die­ser Tour, jedoch habe ich den Win­ter trotz Anstren­gun­gen von einer neu­en Sei­te ken­nen und schät­zen gelernt.

Im früh­som­mer­li­chen All­tag zu Hau­se wan­dern mei­ne Gedan­ken danach wie­der oft in die nörd­li­chen Gefil­de Euro­pas und küh­len mich ab. Die Sehn­sucht nach end­los wei­ßer Wei­te bleibt und moti­viert mich, wei­ter zu trai­nie­ren. Ark­ti­scher Schnee und Käl­te blei­ben ein stän­di­ger Beglei­ter und guter Freund, auch wenn er manch­mal weit weg ist.

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