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Ich trage eine Mütze und bin tief in zwei Daunenschlafsäcke vergraben, nur die Nasenspitze schaut raus. Die spürt die minus 10 Grad deutlich und wenn ich atme, steigt eine kleine Dampfwolke aus dem Schlafsackberg und kondensiert an der Zeltwand.
Ich kann seit einigen Minuten nicht mehr einschlafen, weil mich ein dringendes Bedürfnis quält. Neben mir schnarcht Christian, mit dem ich mir das Zelt teile. Im Halbdunkel kann ich nicht so richtig erkennen, wo sein Kopf liegt, weil er die Schlafsackkapuze fast vollständig zugegezogen hat.
Ich überwinde mich und strecke einen Arm aus dem Schlafsack, um nach dem Headlight zu tasten. Da ist es, im gleißenden Schein der Lampe sehe ich die feinen Eiskristalle an der Innenseite des Zeltes. Wie eine Raupe schäle ich mich aus meinen Schlafsackhäuten, öffne den Reißverschluss. In der arktischen Stille der Hardangervidda wirkt das kleinste Geräusch wie Riesenlärm, hoffentlich wacht keiner meiner Zeltnachbarn auf.
Nur mit einer Schicht Wollunterwäsche bekleidet, schlüpfe ich in meine Skistiefel – diese sind aus Leder und steif gefroren, denn sie stehen im Vorzelt.
Die blaue Stunde kurz vor Sonnenaufgang lässt in diesen Frühlingstagen die leicht hügelige Landschaft des norwegischen Fjells sanft erscheinen. Mit der Taschenlampe schwenke ich einmal durch das kleine Zeltdorf. Acht Zelte und alles schläft. Die Männer haben es gut. Wenn sie nachts mal müssen, pinkeln sie einfach in einen Gummisack und müssen dazu noch nicht mal aus dem Zelt kriechen. Unsereins muss zum Eis-Klo laufen, den Trampelpfad durch den weichen Schnee entlang. Fünfzig Meter entfernt steht unsere total windgeschützte Toilette in der Eiswüste Norwegens. Sie besteht aus einer halbrunden Mauer aus Schneeklötzen, anderthalb Meter hochgestapelt. Oben ein paar Verzierungen, ein Herz, ein paar Initialen der gestrigen Kloerbauer.
Ich bin Schneekünstlerin und als Frau in der Expeditionsgruppe auch ein wenig für die Ästhetik verantwortlich. Wenn es meine Kräfte am Ende des Tages noch zulassen, übe ich mich in der Gestaltung dieser temporären Architektur. Jeden Tag während unserer Skitour errichten wir unser Camp an einem neuen Ort. Natürlich wird dann auch das stille Örtchen neu aufgebaut. Zwei eingeschmolzene Löcher im Schnee markieren das Männer- und das Frauenklosett.
Nicht gerade gemütlich, aber mit einer fantastischen Aussicht. Ich hocke mich hin und genieße dabei den Blick in die endlose weiße Landschaft. Schnell zieh ich die Wollhose wieder hoch, als es doch empfindlich kalt am Hintern wird. Jetzt nicht auskühlen, sondern schnell zurück in den noch warmen Schlafsack.
Morgens im Schneecamp der Hardangervidda
Es ist bald Aufstehzeit im kleinen Expeditionscamp. Plötzlich rauscht es laut und ungewöhnlich. Erst schrecke ich hoch, lege mich dann aber erleichtert zurück auf die doppelte Isomatte. Thomas hat schon mal den Kocher im Küchenzelt angeschmissen. Ich bin ihm sehr dankbar. Das Schmelzen von Schnee dauert eine ganze Weile, wir sind zwölf Personen und ebenso viele Thermoskannen stehen im Küchenzelt bereit und wollen befüllt werden. Ich bin froh, dass einer der erfahrenen Grönlandeisquerer den Dienst übernimmt. Ich selbst bin blutige Anfängerin in den eisigen Weiten der Arktis.
Neue Horizonte ersegeln
Schon lange bin ich verliebt in diese menschenleeren Gegenden und die blaugrün schimmernden Eisschollen und Schneeverwehungen. Immer wieder saß ich in den letzten Monaten vor mich hin träumend in staubigen Straßen und überfüllten Parks in Potsdam mit arktischen Landschaften vor meinem inneren Auge. Allein diese Vorstellung bringt mich immer wieder runter, kühlt mich innerlich ab. Der Entschluss ist ganz klar: Ich muss wissen, wie es ist, auf Skiern in Eis und Schnee in endlosen weißen Weiten unterwegs zu sein.
Wie ich so in Hauptstadtnähe auf heißem Asphalt vor mich hin trabe, sehe ich einen kleinen lila Corsa am Rand stehen. Wewewe punkt groenlanddurchquerung punkt de. Habe ich jetzt schon Halluzinationen oder steht da wirklich ein Potsdamer Auto mit dieser Aufschrift? Die Zeile hat sich in mein Gehirn gebrannt. Ich schaue im Netz nach und ein paar Tage später sitze ich mit Prof. Wilfried Korth in seinem aufgemöbelten Walfängerboot, was auch schon rund Feuerland unterwegs war und segel über den Schwielowsee. Der durchtrainierte Mittfünfziger hat schon mehrfach das Inlandeis Grönlands überquert und dort eigenhändig wissenschaftliche Messungen vorgenommen. Mitten im Hochsommer, erzählt er von seinen Expeditionen. Mir wird heiß und kalt gleichzeitig. Doch es bleibt kaum Zeit für Arktisträumereien, das umschlagende Segel muss bedient werden, die Tampen liegen quer im Boot.
Während des sommerlichen und herbstlichen Alltags mit meiner kleinen Familie holen mich zwar immer wieder diese arktischen Bilder ein, aber eigentlich ist eine Skitour ferner liefen. Eigentlich nur etwas, was man bei anderen Leuten auf Facebook verfolgt. Vornehmlich bei bekannten Arktisfotografen und anderen männlichen Schneeabenteurern. Von einer Frau hört man selten. Eigentlich kann ich mir das abschminken, denke ich. Gehe aber trotzdem fleißig zum Training, jogge und beginne Langdistanzwanderungen um Berlin und Potsdam herum zu absolvieren.
Meine Familie guckt etwas schräg, wenn ich am Wochenende morgens für Trainingswanderungen aus dem Bett hüpfe und die Kids damit quäle, dass ich sie mit dem Rad zur Schule bringe, egal bei welchem Wetter.
Dann kommt die entscheidende Email. Wilfried schreibt an einen kleinen Verteiler die Einladung zu einem Arktistraining in der Hardangervidda. Ich scanne den Verteiler. Mit mir drei Frauen. Erleichterung. Es gibt also doch noch ein paar schneeverrückte Hühner. Ich kenne außer Wilfried niemanden von den potenziell Mitreisenden.
Es wird ernst – die Vorbereitungen auf das Arktistraining laufen
Es folgt ein Vorbereitungsabend mit einer Diashow zu Grönland, ein paar Fachsimpeleien über Netzhemden aus Merinowolle und die richtigen Skischuhe. Bitte aus Leder.
Aus Verzweiflung über mein Nichtwissen rufe ich meinen outdoorerfahrenen Freund Christian an. Mit ihm habe ich schon manches Abenteuer überstanden. Eine Skitour haben wir beide noch nicht gemacht. Wochen mit endlosen Telefonaten über die richtige Ausrüstung und die richtige Vorbereitung folgen. Er nimmt alles so ernst, dass er Autoreifen hinter sich herziehend in den Mecklenburgischen Wäldern herumrennt. Soweit bin ich noch nicht, ich zweifle daran, dass ich in der Truppe mithalte, wenn alle so an das Thema rangehen wie er. Aber es gibt kein Zurück mehr. Die Fährtickets sind gebucht.
Die Hardangervidda als Trainingsplatz
Schwuppdiwupp, befinde ich mich in der größten Hochebene Nordeuropas, der Hardangervidda mit Skiern an den Füßen und mit einer 60 Kilogramm schweren Pulka (so nennt man den Transportschlitten) im Zuggeschirr.
Den ersten Tag verbringe ich schwitzend wie ein Zugpferd vor diesem Schlitten. Immer bin ich die letzte in der Spur. Ich schnaufe, mein Herz pumpt. Ich komme nicht dazu, mal ein Foto von der schönen Monotonie der Landschaft zu machen. Zu groß darf die Lücke zwischen mir und der elfköpfigen Gruppe nicht werden. Doch glücklicherweise machen wir pünktlich alle anderthalb Stunden ein Pause. Ich habe es schon oft gelesen, dass bei Skitouren diese regelmäßigen Unterbrechungen wichtig sind, da der Körper mit Energie versorgt werden muss.
Ich spanne mich aus meinem Zuggeschirr aus, krame in der Pulka nach meiner Verpflegung. Setze mich mit dem Rücken zum Wind auf den Schlitten. Es wird schnell kalt. Nochmal aufstehen, die dicke Daunenjacke überwerfen. Alle anderen sitzen auf ihren Schlitten, einige schauen in die Landschaft, sind zusammengekauert und bieten dem Wind nur wenig Angriffsfläche.
Ich knabbere meinen Energieriegel und ein paar Nüsse aus der Ziptüte. Pro Tag habe ich eine solche Verpflegungstüte für unterwegs gepackt. Die kaloriengefüllte Beutel sind am Ende jeden Tages auch immer ratzeputze leer gefuttert. Auch ein Schluck aus der Thermoskanne muss her. Trinken ist wichtig bei so hoher körperlicher Anstrengung. Es bedeutet aber auch, dass ich öfter meine Blase leeren und meinen Hintern in den kalten Wind hängen muss.
Herausforderung Nummer eins. Stundenlange Recherchen im Internet motivierten mich, eine Pinkelhilfe mitzuführen. Allerdings habe ich zu Hause nicht oft genug geübt, sie zu benutzen und vertraue mir und ihr noch nicht so richtig. Herausforderung Nummer zwei. Es gibt in der Hochebene keinen Baum hinter den man sich zurückziehen könnte. So ist es aber bald selbstverständlich, dass sich die Teilnehmer der kleinen Expeditionsgruppe immer diskret wegdrehen, wenn einer mal austreten muss. Natürlich geht man vom gewählten Pausenstopp noch ein paar Meter in die Landschaft hinein. Ganz selten findet man mal einen schützenden Felsen oder ähnliches.
Irgendwann scharren alle mit den Füßen und wollen weiter. Der Körper braucht die Bewegung, um sich wieder aufzuwärmen. Ich spanne mich wieder ins Zuggeschirr ein, fädel meine Hände durch die Schlaufen der Skistöcker und schiebe die breite Gummisohle in die Skibindung und stelle diese fest.
Ich rucke den 60 Kilo Schlitten an. Nichts bewegt sich. Dabei waren wir doch vor der Pause noch gut in Fahrt. Ich lehne mich mit meinem ganzen Körpergewicht nach vorne und stoße mich mit den Stöckern ab. Jetzt endlich bewegt er sich. Ein Ruck und ich reihe mich in die Gruppe ein, die schon die Spur gut ausgefahren hat.
Die Wolken sind mittlerweile dichter geworden und es beginnt zu schneien. Ich ziehe meine Sturmhaube ins Gesicht und setze meine Skibrille auf. Ohne sie würden mir die Schneeflocken in die Augen fliegen, was nur wenige Minuten und mit zusammengekniffenen Lidern zu ertragen ist. Das unwirtliche Wetter sieht durch meine Skibrille sonnig orange aus. Die Konturen der Landschaft sind jedoch nicht mehr zu erkennen. Ich sehe vor mir den Schlitten mit dem gelben Verdeck. Christians Training mit dem Autoreifen hat sich gelohnt. Sein Schlitten ist um einiges schwerer und ihm scheint die Fortbewegung mit Skiern und Pulka leichter zu fallen.
Ich setze einen Schritt vor den anderen und versuche nicht stehen zu bleiben, obwohl ich schnell außer Atem bin. Das Whiteout macht mir zu schaffen. Keine Konturen in der Landschaft, nur der gelbe Fleck vor mir gibt mir Orientierung und beweist, dass ich noch an der Gruppe dran bin.
Meine Gedanken wandern in ganz anderen Welten. Ich denke an die Familie zu Hause, die in diesen warmen Frühlingstagen wahrscheinlich den Garten pflegt, umgräbt und Gemüse pflanzt. Dann wieder wandern die Gedanken zu meinen großen Träumen, die Arktis auf Skiern bereisen – ist das wirklich mein Ding? Die Sehnsucht nach Einsamkeit und weiten Landschaften, dem Weiß, der Kälte – woher kommt sie und ist dies der einzige Weg sie zu befriedigen? Die Fragen und Gedanken tauchen an jedem Tag der Skitour wieder auf, wenn ich im regelmäßigen Dahingleiten hinter den anderen keine andere Ablenkung erfahre, sondern ganz bei mir bin.
Plötzlich sehe ich in weiter Entfernung einen dunklen Fleck in der Landschaft, die Gruppe strebt darauf zu. Es könnte ein Fels sein, der aus dem Schnee ragt, aber als wir dichter kommen, erkenne ich die Strukturen eines Holzhauses. Eine Fjellhütte. Wir sind noch 200 Meter entfernt, als vor meinem inneren Auge schon ein Bollerofen vor sich hin prasselt und ich auf einer Holzbank sitze und in dicken Wollsocken Tee schlürfe. Herrlich warm wird mir bei der Vorstellung der gemütlichen Szenerie.
Der Konvoi stoppt 20 Meter vor der Hütte. Eine riesige Schneewehe verdeckt die Eingangstür. Keine Spuren ringsherum, die auf eine Bewirtschaftung hindeuten. Diese Hütte ist im Winterschlaf. Wahrscheinlich wird sie Ostern geöffnet sein, wenn im norwegischen Fjell der Bär steppt und eigentlich jeder Norweger auf Skiern in der Frühlingssonne unterwegs ist.
Wir haben noch ein paar Kilometer vor uns, bevor das Tagesziel erreicht ist. Am späten Nachmittag entscheidet Wilfried, dass wir das Lager aufbauen. Laut GPS sind wir am Ufer eines Sees angelangt. Die geschlossene Schneedecke lässt nichts davon erahnen. Trotzdem ist so ein Seeufer eine schöne Vorstellung für ein Nachtlager.
Alle kramen in ihren Schlitten, in denen Schlafsäcke, Isomatten, Klamotten und Campingutensilien verstaut sind. Ich versuche mich zwischen den Gepäckstücken zurechtzufinden und zerre ein großes Zeltpaket hervor. Das wird unser Tunnelzelt sein.
Der Wind weht so kräftig, dass wir es kaum ausbreiten können. Christian hält zwei Ecken fest und ich die anderen zwei. Dazwischen flattert viel Stoff im Wind. Wir versuchen uns an den Ecken zu orientieren und ein unbekanntes Zelt in seine Form zu zwingen. Normalerweise würde man sich vor so einer extremen Tour mit dem Zelt zu Hause sehr vertraut machen, es mindestens einmal zur Probe aufstellen, auch um zu schauen, ob alle Teile da sind und zueinander passen. Da wir eine neue Serie an Zelten testen, hatten wir sie vorher leider nicht zur Verfügung. Uns gelingt es trotzdem, die langen Glasfieberstangen durch die dafür vorgesehenen Tunnel zu schieben. Die Ecken werden mit extra langen Schneeheringen im Untergrund fixiert. Für ein paar wichtige Abspannseile halten die Skier her, die ich senkrecht in den Schnee stecke. Dann noch schnell ein paar Schaufeln Schnee auf die Schneelappen des Zeltes geworfen und die Konstruktion steht stabil im Wind. Ich schwitze fast mehr als beim Skilaufen.
Meine Handschuhe habe ich kurz abgelegt, um den Zeltaufbau besser zu bewerkstelligen. Das mit den Handschuhen war wieder ein Anfängerfehler. Binnen Sekunden kann ich meine Hände nicht mehr gut bewegen vor Kälte. Sie zieht bis in die Knochen. Ich suche panisch nach meinen Fäustlingen, die beinahe unter dem losen Schnee eingeweht wurden und fast unter dem Weiß verschwinden. Glück gehabt. Ich verkrieche mich in das Vorzelt und bin vor dem Wind geschützt. Christian reicht mir Isomatten und Schlafsäcke hinein und ich beginne mit der Inneneinrichtung. Mein Innenarchitektenherz schlägt höher während ich die 3 Quadratmeter mit den gemütlichsten Utensilien der Welt bestücke. Schon beim Anblick wird mir wärmer. Und ich lege mich zur Probe auf mein Nachtlager. Herrlich. Aufstehen? Fehlanzeige.
Ein Kratzen, Schaben und Schnauben dringt aus dem Vorzelt an mein Ohr. Es wird sich doch kein Tier hierher verirrt haben? Ganz im Gegenteil. Hier geht der Hausbau weiter. Christian hebt einen Kältegraben im Vorzelt aus. Physikalisch vielleicht nicht ganz korrekt, fällt hier die kalte Luft nach unten. Ein zusätzlicher Vorteil ist die schöne Stufe, die entsteht. Wenn ich das Innenzelt öffne, schwinge ich gleich danach meine Beine ins Vorzelt und kann wie auf einer Schneebank sitzend meine Schuhe ganz bequem anziehen. Jetzt mit über vierzig empfinde ich das als riesigen Luxus gegenüber dem Campen im Sommer. Darüber hinaus bietet der lange Tunnel uns ein geräumiges Vorzelt. Wenn wir kein Küchenzelt dabei hätten, könnte hier gekocht werden. Außerdem lagern wir hier noch ein wenig Krimskrams in Packsäcken und stellen die Schuhe ab.
Jetzt ist das kleine Heim in der unwirtlichen menschenfeindlichen Umgebung errichtet. Der Wind weht kräftig und es ist sinnvoll, auch ein Stück Mauer um das gesamte Lager zu errichten. Ich schaue kurz aus dem Zelt und bemerke mit Erleichterung, dass sich zwei der Männer um diese Mauer bemühen. Mit einer Schneesäge zertrennen sie den meterdicken Schnee im Boden und heben Block für Block heraus. Ein Viertel Kubikmeter Schnee kann auch mächtig schwer sein. Aber sie erschaffen die temporäre Architektur in einer Stunde und haben damit einen großen Beitrag für die Dorfgemeinschaft geleistet.
Genauso wie die Kloerbauer, die mit Liebe das stille Örtchen in der stillen Landschaft etwas abseits vom Camp errichten. Auch hier: eine Schneemauer, ein paar Verzierungen. Fenster mit Aussicht gib es umsonst. Jeder einzelne ist froh über den Ort mit zwei eingeschmolzenen gelben Pinkellöchern im Schnee. Auch er ist für weniger als 24 Stunden errichtet, weil die Karawane am nächsten Tag schon weiterzieht.
Abendessen im Küchenzelt
Als alles aufgebaut ist, bemerke ich meinen knurrenden Magen. Die Mannschaft findet sich im Küchenzelt ein. Es ist eine Art Tipi. Hier ist der Schneegraben in der Mitte so ausgehoben, dass alle erhöht auf einer Schneekante sitzen können und die Beine runterbaumeln lassen. Iso-Sitzkissen und Schaumstoffmatten schützen unsere Hintern vor der Kälte. Als wir alle zwölf dicht gedrängt im Kreis sitzen, der Kocher faucht und Wasserdampf das Zelt füllt, blicke ich in erschöpfte aber glückliche Augen. Die meisten haben Moonboots an den Füßen. Das sind die lustigen aufgeplusterten Thermostiefel aus den Achtzigern. Ein Segen, wenn man die Skischuhe mal ausziehen will und etwas bequemes, aber warmes an den Füßen bevorzugt. Wollhosen und Daunenjacken tragen zur Gemütlichkeit bei.
Dann das ersehnte Abendbrot. Aus einem großen Sack zerrt Expeditionsleiter Wilfried die Portionsbeutel mit gefriergetrockneter Nahrung heraus. Es steht heute zur Auswahl: Borschtsch oder Nudeln mit Hühnchen. Klingt beides nicht schlecht, ich kann mich kaum entscheiden.
Die Tüten werden aufgerissen, heißes Wasser hineingegossen und dann nochmal für eine Weile verschlossen. Ich kann es kaum abwarten, nachdem ich den Essensduft schon einmal tief eingeatmet habe. Ein warmer Tee muss die Pause überbrücken. Mit beiden Händen halte ich meine Metalltasse und bin einfach glücklich. Die Strapazen des Tages haben sich verflüchtigt, eine zufriedene Müdigkeit macht sich breit. Dann löffel ich die Nudeln aus meiner Tüte. Diese Gerichte haben richtig viele Kalorien, weil es die einzige Energieversorgung ist, die man auf solchen Touren hat. Bald fühle ich mich papp satt und bin überrascht über den guten Geschmack meiner Kosmonautennahrung.
Der Höhepunkt des abendlichen Gelages ist der Nachtisch. Die Technik macht es tatsächlich möglich, dass es sogar Mousse au Chocolat hier draußen in der Eiswüste gibt. Sie wird ebenso mit heißem Wasser aufgegossen und in einem großen Topf gerührt. Wilfried macht den Test und dreht den Topf um, ist die Masse so fest, dass nichts raus tropft, ist sie genau richtig. Der Topf geht rum und jeder darf einen Löffel nehmen. Runde um Runde bis auch der letzte Rest von der Aluwand gekratzt ist.
Als letzte Amtshandlung werden noch Füße verbunden und Blasen abgeklebt. Das bleibt nicht aus, auch nicht bei den alten Grönlandhasen. Blasenpflaster und Tape sind hier eines der wichtigsten Utensilien. Mit meinem medizinisch erfahrenen Zeltnachbarn Christian fühle ich mich da auf der sicheren Seite. Ich lasse mich verarzten. Auch wenn meine Fersen danach wie kleine Panzer aussehen, fühle mich wie nach einer Wellnessbehandlung.
Draußen ist es mittlerweile dunkel. Ich fühle mich vom Essen und Trinken schön durchgewärmt. Ich setze mir meine Stirnlampe auf den Kopf und verabschiede mich aus dem Küchenzelt, um mich nun endgültig für die Nacht lang zu machen. Noch ewig dringt munteres Geplauder aus dem Küchenzelt an mein Ohr. Ich liege in meinem doppelten Daunenschlafsack und schlummere einen erholsamen Schlaf.
Segeln im Eis
Tags darauf strahlt die Sonne vom Himmel und der Wind weht seicht über die hügelige Landschaft. Der Expeditionsleiter beschließt, einen Segeltag daraus zu machen. Ich erinnere mich zwar an unseren Einstand auf dem Walfängerboot, als wir auf dem Schwielowsee segelten, jedoch kann ich spontan keine Verbindung zu dem Hier und Jetzt herstellen.
Mit gerunzelter Stirn beobachte ich wie ein paar der alten Schneehasen weitere zusammengeschnürte Pakete aus den Schlitten zerren und dann große bunte Stoffe mit hunderten dünnen Schnüren auf dem Schnee ausbreiten. Langsam dämmert es mir.
Große Kiteschirme waren in den Säcken, um die Lenkstangen sind die vielen Schnüre gewunden. Unter Anleitung darf ich auch einen Schirm startklar machen. Schließlich stehe ich mit der Bar in der Hand im Schnee. Christian hält den leuchtend blauen Schirm 50 Meter von mir entfernt in die Höhe. Irgendwie versuchen wir uns zuzurufen, wann es losgehen soll. Der Wind greift in den Kite und bugsiert ihn nach oben, ich versuche die Bar fest zu halten. Sobald ich jedoch eine Lenkbewegung versuche, stürzt das zarte Gebilde in den Schnee und muss neu gestartet werden. Später gelingt es mir, ihn einige Minuten in der Luft zu halten.
Das war nur die erste Übung. Die zweite sollte etwas abenteuerlicher sein, denn wozu sollte man in einer Schneelandschaft einfach nur Drachen steigen lassen. Hier hat alles seinen Zweck. Bei der herrlichen Brise kann man die Naturgewalten schließlich dazu nutzen, auf Skiern voran zu kommen.
Als der Kite vom Wind ergriffen wird, fahre ich tatsächlich auf meinen langen Brettern los. Ein kleiner Schreck durchfährt mich in der ersten Sekunde. Ich versuche zu lenken und verliere sofort das Gleichgewicht. Schnee ist überall: im Gesicht, sogar im Nacken und in den Handschuhen. Ich habe mir nicht wehgetan und muss herzlich über mich selber lachen. Das sah bestimmt filmreif aus. Wieder aufrappeln, den Schirm richten und einen neuen Versuch starten. Dann folgt das süchtig machende Gefühl, was wahrscheinlich alle Surfer und Snowboarder kennen: das leichte Dahingleiten ohne große Kraftanstrengung. Ich werde schneller und bin froh, dass keine Bäume im Weg stehen. Die anderen Leute sind mit ihren Kites einige hundert Meter entfernt. Bunte Punkte in der Landschaft. Wie beim Segeln auf dem Wasser, ist die eine Richtung mit dem Wind immer ganz gut zu bewältigen. Zurück muss man kreuzen, das heißt einen Zickzackkurs zurück zum Lager fahren.
Das gelingt mir nicht, ganz im Gegenteil scheine ich mich immer noch mehr zu entfernen und irgendwann gebe ich entkräftet auf. Am Horizont ist das Lager noch gut zu erkennen. Es ist vielleicht einen Kilometer entfernt. Ich raffe den Schirm zusammen und schiebe die Skier vorwärts. Es gibt keine Spur und Skistöcker habe ich ja jetzt auch nicht dabei. Wie blöd.
Die Rettung naht: Wilfried kommt auf Skiern angefahren mit zwei zusätzlichen Stöckern im Gepäck. Das erleichtert einiges und wir sind in den nächsten 10 Minuten wieder zurück im Lager. Mit leuchtenden Augen erzählen alle anderen von ihrem Segelerlebnis im Schnee. Das Dahingleiten durch weiße Landschaft setzt eine Menge Glückshormone frei. Ich erinnere mich an die Geschichte zweier Schwedinnen, die Grönland von Süd nach Nord mit einem Kite und auf Skiern durchfahren haben. So etwas in der Art möchte ich auch noch mal in meinem Leben machen.
An diesem Segeltag müssen wir unser Camp mal nicht abbauen und uns im Gelände weiterbewegen. Wir haben einen Ferientag. Inmitten der Strapazen bei Minustemperaturen darf es auch mal ein wenig Entspannung geben. Im Verlaufe des sonnigen Nachmittags entsteht ein Iglu, dass über Nacht getestet werden darf. Endlich ist Zeit und Muße, das Weiß in seinen vielen Facetten auf Fotos zu bannen und tiefschürfende Gespräche über wintertaugliche Outdoorausrüstung zu führen.
Jetzt fühle ich mich nicht mehr wie ein Hasenjunges. Ich bin zwar noch kein alter Schneehase nach dieser Tour, jedoch habe ich den Winter trotz Anstrengungen von einer neuen Seite kennen und schätzen gelernt.
Im frühsommerlichen Alltag zu Hause wandern meine Gedanken danach wieder oft in die nördlichen Gefilde Europas und kühlen mich ab. Die Sehnsucht nach endlos weißer Weite bleibt und motiviert mich, weiter zu trainieren. Arktischer Schnee und Kälte bleiben ein ständiger Begleiter und guter Freund, auch wenn er manchmal weit weg ist.
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