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Das Blumenmädchen

Ich traf das Blu­men­mäd­chen im Schlaf­saal eines Hos­tels in Syd­ney vor ziem­lich genau sechs Jah­ren. Nun, ich nen­ne sie Blu­men­mäd­chen, weil das hübsch klingt, aber eigent­lich war sie gar kein Mäd­chen mehr. Sie war eine jun­ge Frau, viel­leicht Mit­te zwan­zig, und kam aus Eng­land.

„Hi, ich bin Trish,“ stell­te sie sich vor, ihr fröh­li­ches Gesicht von roten Paus­bäck­chen geziert.

„Hi, ich bin Gesa. Seit wann bist du schon in Aus­tra­li­en, Trish?“

„Seit drei Stun­den. Ich kom­me gera­de vom Flug­ha­fen.“

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„Wie auf­re­gend! Du steckst bestimmt noch völ­lig im Jet­lag. Und wie lan­ge willst du blei­ben?“

„Oh, das weiß ich auch noch nicht so genau,“ erzähl­te mir Trish, „kommt dar­auf an, ob ich in Aus­tra­li­en einen Job fin­den kann oder nicht. Weißt du, ich habe zu Hau­se in einem Blu­men­la­den gear­bei­tet – ein wun­der­schö­ner Laden, wirk­lich. Wenn ich zurück­keh­re nach Eng­land, dann werd ich da auf jeden Fall wie­der arbei­ten. Mei­ne Che­fin hat gesagt, sie hält die Stel­le für mich frei. Mein Mann hat sei­ne Fir­ma gleich in der Nähe, dar­um ist es per­fekt.“

„Oh wow, das klingt toll,“ sag­te ich. „Muss wun­der­voll sein, Blu­men zu ver­kau­fen. Zu dir kom­men nur Leu­te, die ande­ren eine Freu­de machen wol­len!“

„Es ist der bes­te Job der Welt,“ schwärm­te Trish.

„Und du willst hier in Aus­tra­li­en auch als Flo­ris­tin arbei­ten?“

„Ja, so ist der Plan. Ich habe lan­ge über­legt, ob ich das machen soll. Aber alle mei­ne Freun­de haben gesagt, ich sol­le noch mal raus, bevor es zu spät ist – ich bin noch nie außer­halb von Euro­pa gewe­sen, musst du wis­sen. Und mein Mann hat auch gesagt, ich sol­le das machen, damit ich es spä­ter nicht bereue. Und dar­um bin ich jetzt hier. Um spä­ter nichts zu bereu­en.“

„Das klingt doch nach einem guten Plan,“ sag­te ich, und dann noch: „Viel Glück bei der Job­su­che.“

Trish und ich sahen uns nicht oft in den nächs­ten Tagen. Sie war tags­über unter­wegs, um ihren Lebens­lauf in Geschäf­ten abzu­ge­ben, ich war abends nicht da, weil ich in einer Kunst­ga­le­rie kell­ner­te. Am Mor­gen des drit­ten Tages nach Trishs Ankunft weck­ten mich dann aber die typi­schen Pack­ge­räu­sche: Rat­schen vom Reiß­ver­schluss, Rascheln von Plas­tik­tü­ten, Knar­zen von alten Bett­ma­trat­zen. Ich blin­zel­te hin­ter dem Hand­tuch her­vor, das mir als Sicht­schutz dien­te und war plötz­lich hell­wach:

Trish hat­te voll­stän­dig gepackt und saß auf der Bett­kan­te.

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„Guten Mor­gen, Trish. Checkst du aus?“

„Hi Gesa. Ent­schul­di­ge, dass ich dich geweckt habe. Ja, ich che­cke aus.“

„War­um? Hast du etwa so schnell einen Job gefun­den?”

„Ja… das heißt nein. Das heißt… ja, ich hab tat­säch­lich einen Laden gefun­den in einem Ein­kaufs­zen­trum. Da hät­te ich nächs­te Woche anfan­gen kön­nen. Aber… also… ehr­lich gesagt: ich flie­ge heu­te wie­der nach Hau­se.“

Auf ein­mal saß ich ker­zen­ge­ra­de im Bett. Dass jemand nach nur drei Tagen down under bereits die Heim­rei­se antrat, hat­te ich noch nie gehört.

„War­um? Ist etwas Schlim­mes pas­siert?“

„Nein… Gott, nein. Es ist alles in Ord­nung. Das hier… das hier ist ein­fach nichts für mich. Ich mei­ne, was will ich eigent­lich hier? Ich habe einen guten Job zu Hau­se und einen Mann, der mich liebt. War­um soll ich allein am ande­ren Ende der Welt mei­ne Zeit ver­brin­gen? Mir feh­len mei­ne Blu­men und mei­ne Freun­de. Das klingt wahr­schein­lich total bescheu­ert, ich weiß. Aber mein Bauch­ge­fühl sagt mir irgend­wie, dass ich hier nichts ver­lo­ren hab. Gott, ich bin wirk­lich total bescheu­ert oder?“

Dar­auf hat­te ich damals kei­ne Ant­wort.

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Natür­lich war Trish nicht total bescheu­ert. Was ich aber nicht ganz begrei­fen konn­te, war, wie jemand nach nur drei Tagen ein­fach so das Hand­tuch wer­fen konn­te! Ich mei­ne, selbst wenn sie nicht in Aus­tra­li­en blei­ben und arbei­ten woll­te, hät­te sie sich doch wenigs­tens noch ein biss­chen das Land anse­hen kön­nen, so teu­er wie der Flug war! Also wirk­lich, nach nur drei Tagen in Kings Cross gleich wie­der abzu­zie­hen, das fand ich schon etwas bescheu­ert, ja.

Gesagt habe ich ihr das aber nicht. Und heu­te bin ich froh dar­über. Denn damals ver­stand ich noch nicht, war­um Trish, das Blu­men­mäd­chen, nach nur drei Tagen wie­der nach Hau­se woll­te.

Es war, weil sie eins hat­te. Ein zu Hau­se.

Es gab über­haupt kei­nen Grund für Trish hin­aus in die Welt zu zie­hen, um Ant­wor­ten zu suchen – sie hat­te ja gar kei­ne Fra­gen! Und nur weil ihre Freun­de ihr ein­ge­re­det hat­ten, sie “müs­se noch­mal raus”, hat­te sie sich auf den Weg gemacht. Trish aber gehör­te zu den glück­li­chen Men­schen, die direkt in ein Leben hin­ein­ge­bo­ren wur­den, das ihnen zusagt und in dem sie sich wohl füh­len.

Trish kann­te kein Fern­weh.

Im Gegen­teil, sie kann­te Heim­weh – und das nach nur drei Tagen.

Erst heu­te ver­ste­he ich: Nur weil mei­ne Wahr­heit für mich und mein Leben Sinn macht, heißt das noch lan­ge nicht, dass sie das auch für irgend­je­mand ande­ren tut. Und eine Lösung, die mir schmeckt, darf für ande­re völ­lig unge­nieß­bar sein.

Nicht jeder muss rei­sen, um zu fin­den.

Und wer es nicht muss, hat viel­leicht schon längst gefun­den, was er sucht.

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Antworten

  1. Avatar von Patric

    Bin nicht 100 % ein­ver­stan­den! Wer sagt einem denn, dass es nur eine Hei­mat geben soll. Das Leben ist doch zu viel­fäll­tig als dass man sich mit dem einen gefun­de­nen bereits zufrie­den sein kann. Viel­leicht hät­te sie eine noch schö­ne­re Hei­mat gefun­den, und dann irgend­wo­an­ders noch mals eine schö­ne­re Hei­mat.
    Dass es für das Blu­men­mäd­chen zu die­sem Zeit­punkt nicht der rich­ti­ge Ent­scheid gewe­sen war, raus in die Welt zu gehen, ist für mich nach­voll­zieh­bar. Aber der zwei­te ver­all­ge­mei­nern­de Schritt dei­ner Argu­men­ta­ti­on, dass es für eini­ge die eine Hei­mat genügt, unter­stüt­ze ich nicht. Viel­eicht für den Moment, aber nicht für ein gan­zes Leben.
    Grüs­se aus Ölgii, West­mon­go­lei
    Patric

    1. Avatar von Gesa

      Lie­ber Patric,
      Vie­len Dank für dei­ne span­nen­de Sicht.

      Nun ja, eine »Argu­men­ta­ti­on«… Es han­delt sich hier ja nicht um eine Abschluss­ar­beit, son­dern um eine Geschich­te. Eine Geschich­te, die eine Sicht (nicht mei­ne Sicht) beschreibt, die nun mal vie­le Men­schen haben – ob wir bei­de damit nun ein­ver­stan­den sind oder nicht. Men­schen, die noch nie von »Ölgii, West­mon­go­lei« gehört haben, wohin ich dir aben­teu­er­li­che Grü­ße sen­de.

      Alles Lie­be und all­seits gute Rei­se,
      Gesa

  2. Avatar von Guido
    Guido

    Die der­zeit über­all hau­sie­ren­den »digi­ta­len Noma­den« erzäh­len per­ma­nent, wie gran­di­os ihr Leben(angeblich) ist. Die wol­len so hip und intel­li­gent und über­le­gen sein. Rar sind die Rei­sen­den, die zur Selbst­re­flek­ti­on fähig sind. Des­halb lese ich Dich gern.

    1. Avatar von Gesa

      Hal­lo Gui­do. Dan­ke auch dir für’s Kom­men­tie­ren! Und es freut mich wahn­sin­nig zu hören, dass ich gern gele­sen wer­de. Herz­lichst, Gesa

  3. Avatar von Nuria

    Das ist eine wirk­lich schö­ne Geschich­te, die ganz deut­lich zeigt, dass Men­schen unter­schied­lich sind. Mir sel­ber hat wohl immer schon jeg­li­ches Hei­mat­ge­fühl gefehlt, somit ken­ne ich auch kein Heim­weh. Aber auch ich ken­ne Men­schen wie Trish, die ihrem Zuhau­se so ver­bun­den sind, dass sie nciht mal auf die Idee kämen, in eine 200 km ent­fern­te Stadt zu zie­hen. Das ist völ­lig okay, und schließ­lich kön­nen ja auch nicht alle Men­schen stän­dig auf Rei­sen sein :-).

    1. Avatar von Gesa

      Vie­len Dank, Nuria. Ich fin­de das auch völ­lig okay. Lie­be Grü­ße, Gesa

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