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Es ist dunkel, es ist kalt, vom nahegelegenen Dorf ist nichts zu erkennen und wir haben keine Ahnung, wo wir heute Nacht schlafen werden. „You have to get off here and walk one kilometer to Chillum”, hatte uns Raees Nasirs Onkel noch gesagt, bevor wir aus seinem Auto aussteigen mussten. Als Regierungsbeamter ist es ihm nach eigener Angabe nicht erlaubt, Anhalter in seinem Dienstwagen mitzunehmen und gleich kommt ein Checkpoint. Obwohl die Fahrt lange und unbequem war und wir uns mal wieder zu viert in eine Sitzreihe quetschen mussten, sind wir froh, dass wir im dünnbesiedelten, äußersten Nordosten Pakistans überhaupt eine Mitfahrgelegenheit gefunden haben.
Da stehen wir also mitten im Nirgendwo und fühlen uns irgendwie ausgesetzt. Bevor wir unser Gepäck schultern, kramen wir noch schnell Fleece-Pullis, Jacken, Mützen und Handschuhe aus unseren Rucksäcken. Ende Oktober wird es in den Bergen Pakistans bereits empfindlich kalt und wir befinden uns immerhin auf 3.400 Metern. Nur Dank des am Nachthimmel stehenden Vollmonds können wir überhaupt etwas erkennen und so folgen wir der kleinen Straße in Richtung des Dorfs Chillum. Immerhin haben wir für den Notfall unser Zelt und die dicken Schlafsäcke im Rucksack. Doch hoffentlich brauchen wir sie nicht und finden gleich eine nette Unterkunft.
Während wir unserem ungewissen Nachtlager entgegengehen, ist mir etwas unbehaglich zumute. Leo läuft neben mir, auch sie wirkt angespannt. Was uns wohl erwartet? Beim nächsten Mal müssen wir unbedingt früher dran sein und noch vor Sonnenuntergang ankommen, nehme ich mir fest vor.
Nach wenigen hundert Metern können wir auf einmal die Silhouetten einzelner Häusern erkennen. Na endlich, freue ich mich. Als wir näher kommen bemerken wir, dass es sich beim ersten Gebäude tatsächlich um einen Checkpoint des pakistanischen Militärs handelt. Ein fast zwei Meter großer Soldat steht auf der Straße, in seiner Hand hält er unübersehbar ein Maschinengewehr. Bis auf eine Notlampe, die das Innere des kleinen Registrierungshäuschens schwach beleuchtet, ist alles dunkel. Wie so oft in Nordpakistan gibt es auch hier gerade keinen Strom.
„Good evening!“, grüßen wir den Soldaten. „Where do you come from?”, erwidert uns dieser misstrauisch. Wahrheitsgemäß antworte ich ihm, dass wir von Astore aus hergekommen sind und bin froh, dass er nicht weiter nachfragt. Raees Nasirs Onkel, der uns freundlicherweise in seinem Pickup mitgenommen hat, hatte uns extra instruiert, ihn beim Checkpoint nicht als Mitfahrgelegenheit zu nennen. „Passports!“, fordert der Soldat. Während unsere Passdaten in das Registrierungsbuch eingetragen werden, erkundigen wir uns nach einer Übernachtungsmöglichkeit. „Hotel is closed“, informiert uns der uniformierte Mann. „Where can we sleep?”, frage ich zurück.
Nachdem wir unsere Pässe zurückerhalten haben, bedeutet uns der Soldat mitzukommen. Samt Gepäck folgen wir ihm durch die Dunkelheit und erreichen kurz darauf eine Gruppe Männer, die sich im Mondschein unterhält. Der Soldat spricht mit ihnen auf Urdu und zeigt anschließend auf uns. Sie schauen uns an und nicken. Zwei der in zivil gekleideten Männer lösen sich aus der Gruppe und sagen „Follow us!“ in unsere Richtung.
„Where do we go to?“, will ich von ihnen wissen. Die Situation ist mir nicht ganz geheuer. Wir befinden uns in einer der abgelegensten Gegenden Pakistans, es ist mitten in der Nacht, im Dorf sind bislang ausschließlich Männer zu sehen, das Hotel hat geschlossen und nun sollen wir zwei Wildfremden irgendwohin folgen. „We bring you to the police station, you can sleep there“, antwortet mir einer der Männer, der sich als Mohammad vorstellt. Wir sollen in einer Polizeistation übernachten? Ich schaue Leo fragend an. Als einzige Frau weit und breit fühlt sie sich momentan alles andere als wohl. Auf dem Weg zur angeblichen Polizeistation beraten wir uns kurz und beschließen, uns die Unterkunft zumindest anzuschauen. Eine wirkliche Alternative haben wir ohnehin nicht.
Wir nähern uns einem kleinen Haus, das von einer Mauer umgeben ist. Durch ein Stahltor betreten wir das Gelände und ich hoffe inständig, dass die beiden Männer uns wohlgesonnen sind. Zum Glück macht Mohammad bislang einen freundlichen Eindruck und zeigt uns das Zimmer, in dem wir übernachten sollen. Außer zwei Betten, zwei Stühlen und einem kleinen Tisch ist der Raum leer. Doch wir hatten Schlimmeres erwartet; es gibt sogar ein kleines Bad, welches wir benutzen dürfen.
Was die Übernachtung kosten soll, wollen wir wissen. „You are our guests, you don’t have to pay”, antwortet uns Mohammad. Wir müssen nichts bezahlen? Ganz überzeugt bin ich noch nicht, irgendeinen Haken muss es doch geben. Da wir ungern mit wildfremden Menschen gemeinsam in dem kleinen Raum übernachten wollen, erkundige ich mich, wo Mohammad und sein Kollege schlafen werden. „We stay next door“, erhalte ich als Antwort. Leo hält sich bei unserer Unterhaltung erst einmal zurück, zum einen um als einzige Frau nicht unnötig aufzufallen und auch, da in Pakistan beim Aufeinandertreffen fremder Menschen oft zunächst die Männer die Kommunikation übernehmen.
Da wir zunehmend den Eindruck gewinnen, dass die beiden Polizisten in Ordnung sind und es möglich ist, unseren Schlafraum von innen zu verriegeln, beschließen wir zu bleiben. Wir deponieren unser Gepäck im Zimmer und folgen Mohammad und seinem Kollegen zum einzigen Restaurant des Orts. Wobei Restaurant wohl etwas übertrieben ist, da es sich im Wesentlichen um eine Küche handelt, die die Angestellten von Polizei und Militär mit Essen versorgt. Wie nicht anders zu erwarten, gibt es hier keine große Auswahl. So besteht unser Abendessen aus Linsen mit Chapati, begleitet von einer Tasse Schwarztee.
Während des Essens kommen wir mit Mohammad ins Gespräch und erzählen ihm von unserer Reise durch Pakistan. Er ist interessiert und stellt uns Fragen zu Deutschland und den von uns bereisten Ländern. Endlich haben wir das Gefühl, dass wir hier willkommen sind und wir nicht damit rechnen müssen, mitten in der Nacht überfallen zu werden. Falls das die Absicht der Männer gewesen wäre, hätten sie es wohl ohnehin schon getan.
Nach dem Essen gehen wir bald ins Bett. Vom langen Tag sind wir müde und in der Dunkelheit und Kälte gibt es ohnehin nicht viele Möglichkeiten für einen sinnvolleren Zeitvertreib, als sich in die warmen Schlafsäcke zu verkriechen. Während Leo bereits eingeschlafen ist, liege ich noch wach. Irgendetwas in meinem Bauch fühlt sich so gar nicht gut an. Habe ich etwas Schlechtes gegessen? Während ich noch darüber nachdenke, sinke auch ich in den Schlaf.
Kurz vor Mitternacht bin ich wieder wach. Im Zimmer ist es inzwischen frostig, ein eisiger Luftzug zieht am Fensterglas vorbei in mein Gesicht. Mir ist schlecht. Richtig übel. Auch das noch, fährt es mir durch den Kopf. Kurz versuche ich, dagegen anzukämpfen, doch dann muss ich raus aus dem Schlafsack, ab ins Bad. Irgendetwas scheine ich überhaupt nicht vertragen zu haben, denn die nächsten Stunden verbringe ich im Wechsel im Bett und auf der Toilette. Ich muss mich mehrfach übergeben und habe mir einen fiesen Durchfall eingefangen und so verbringe ich hier, am Ende der Welt, die furchtbarste Nacht unserer bisherigen Reise.
Am nächsten Morgen ist Leo, die von meinem nächtlichen „Überlebenskampf“ nur am Rande mitbekommen hat, schon vor mir wach. Als ich die Augen aufmache, ist mir immer noch schlecht, ich fühle mich schwach und ich habe leichtes Fieber. Zudem ist mir kalt, denn obwohl draußen inzwischen die Sonne scheint, ist es drinnen immer noch eisig. Ich weiß, dass ich eigentlich viel trinken sollte, doch das Wasser in meiner Flasche ist so kalt, dass ich nur kleine Schlucke davon zu mir nehmen kann. In diesem Moment wäre ich am liebsten zurück daheim – bis es mir wieder besser geht zumindest…
Zum Glück schafft es Leo, eine Kanne heißen Tees aufzutreiben und während sie versucht, einen Transport für unsere Weiterfahrt durch die Deosai Plains nach Skardu zu organisieren, habe ich die Gelegenheit, noch einmal zu schlafen. Doch auf einmal heißt es: „A car will reach Chillum in 15 minutes and will take you to Skardu!” Obwohl ich mich weiterhin schwach fühle und keinesfalls hundertprozentig fit bin, beschließend wir mitzufahren. Falls ich ein ernsteres Problem mit dem Magen haben sollte, ist es sicher besser, in der Distrikthauptstadt Skardu zu sein, als hier, irgendwo im Nirgendwo.
Noch bevor wir fertig mit Packen sind, hält ein grüner Jeep vor der Polizeiwache. Da wir für die Fahrt einen deutlich höheren Preis als die Einheimischen zahlen müssen, wird freundlicherweise auf uns gewartet. Wenig später sitzen wir zu zweit auf dem Beifahrersitz des Jeeps und sind froh, so schnell und unkompliziert eine Weiterfahrt in Richtung Skardu gefunden zu haben. Auch wenn die Fahrt aufgrund der geteilten Sitzbank und der holprigen Straße alles andere als bequem ist, so fahren wir immer noch besser als die anderen Fahrgäste, die sich zu acht den fensterlosen Rückraum des Geländewagens teilen müssen.
Bis auf über 4.200 Meter schraubt sich die Straße empor und wir durchfahren die beeindruckenden Deosai Plains, die nach dem Tibetischen Plateau am höchsten gelegene Hochebene der Welt. Zwar fühle ich mich immer noch geschwächt, aber immerhin muss ich nun nicht mehr ständig auf die Toilette und auch der Brechreiz scheint sich fürs Erste verabschiedet zu haben. Während Leo begeistert Fotos macht und den Fahrer immer wieder bittet, kurz anzuhalten um die Landschaft bestaunen zu können, kann ich die Fahrt nur bedingt genießen und bin froh, als wir nach 5 Stunden Gewackel und Geholpere endlich die Ausläufer Skardus erreichen.
In Skardu angekommen, bitten wir unseren Fahrer, uns bei einem schönen Hotel abzusetzen. Nach der langen Fahrt und der vorangegangenen, anstrengenden Nacht, sehne ich mich nach einem gemütlichen Bett, in dem ich mich auskurieren kann. Doch das vorgeschlagenen Hotel ist alles andere als gemütlich, hier möchten wir nicht unterkommen. Glücklicherweise kennt der Fahrer noch eine andere Bleibe, das angeblich beste Hotel der Stadt. Wir sind gespannt. Zu unserer Überraschung hat der Fahrer nicht zu viel versprochen, denn hier wird uns tatsächlich ein schönes und sonniges Zimmer mit Balkon und eigenem Bad angeboten. Nach einer kurzen Verhandlung, in der wir den Preis auf ein Drittel des ersten Vorschlags senken können, mieten wir uns ein.
Doch auf die anfängliche Freude über das nette Hotel folgt schon bald Ernüchterung: Das Hotelpersonal ist durchweg demotiviert, Strom gibt es nur sporadisch, nachts wird es im Zimmer bitterkalt und der Koch ist nicht gerade ein Meister seines Fachs. Letzteres ist besonders bitter, denn das erste Abendessen vertrage ich schon wieder nicht und sitze wenig später erneut auf dem Lokus. Leider ergeht es Leo dieses Mal nicht viel besser, auch sie hat nun Probleme mit dem Magen.
Man könnte meinen, geteiltes Leid sei halbes Leid, aber in diesem Fall müssen wir uns eine Toilette teilen, was zu Stau führt und enge Absprachen erfordert, um in einem akuten Notfall nicht vor verschlossener Türe zu stehen. Zu allem Unglück gehen dann auch noch unsere Durchfallmedikamente zur Neige und Leo, der es immerhin etwas besser als mir geht, muss alleine losziehen, um in den Apotheken Skardus für Nachschub zu sorgen. Kein leichtes Unterfangen, da es hier ganz andere Behandlungsansätze als in Deutschland gibt. Zudem scheint es in Skardu auch sehr unüblich zu sein, dass eine Frau alleine Besorgungen erledigt und so wird sie auf der Straße im Wechsel entweder angestarrt oder ignoriert. Beides kein schönes Gefühl.
Und auch mit dem Essen haben wir weiterhin Probleme. Das einzige Gericht im Hotel, welches bei uns nicht „nach hinten losgeht“, sind Pellkartoffeln. Immerhin können wir in der Stadt noch Äpfel und Bananen besorgen, die wir zermatscht als Brei zu uns nehmen. Und so verbringen wir am Ende eine ganze Woche damit, uns wieder zu berappeln. Dabei ist das Wetter durchweg sonnig und der Blick von unserem Balkon auf das herbstliche Skardu lädt zur Erkundung der Stadt ein. Doch erst nach sechs Tagen fühlen wir uns wieder fit genug für einen Spaziergang durch den Ort.
Am letzten Tag machen wir sogar noch einen Halbtagesausflug zum nahegelegenen Shangrila-See, dessen Resort jedoch wegen des bevorstehenden Winters bereits geschlossen ist. Es soll einfach nicht sein, Skardu und wir werden keine Freunde mehr. Uns bleibt zumindest der Blick auf den See vom gegenüberliegenden Ufer, an dem noch ein letztes, kaltes Hotel geöffnet hat.
Am Ende sind wir froh, als wir endlich im Minibus sitzen, der uns zurück nach Gilgit bringen wird. In Skardu, so wird es uns in Erinnerung bleiben, war einfach der Wurm drin (hoffentlich nur im übertragenen Sinne 😉 ). Am nächsten Tag schon wollen wir im geteilten Taxi von Gilgit aus weiter nach Islamabad fahren und freuen uns, nach einem Monat Entbehrungen und teils sehr rudimentären Unterkünften in den Bergen, nun auf Pakistans Hauptstadt, von der wir uns wärmere Temperaturen, ein nettes Hotel und ein hoffentlich mal wieder vielfältigeres Essensangebot erwarten. Wir sind gespannt 🙂
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