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Der Weg in die Kolonie ist beschwerlich. Versteckt liegt sie, abseits asphaltierter Straßen. Unser Kleinwagen hat Mühe die kurvige, von Schlaglöchern übersäte Schotterpiste zu bewältigen. Hierher verirrt man sich nicht zufällig.
Es ist heiß, als wir uns auf dem Gelände umsehen. Keine Menschenseele ist zu sehen und so schlendern wir vorbei am idyllisch gelegenen Seerosenteich, der Pferdekoppel und dem Getreideacker. Zwei Schaukeln hängen traurig im Schatten der Bäume, die die einzige Straße säumen. Es herrscht Stille. Unheimlich Stille.
400 Kilometer südlich von Santiago de Chile liegt die ehemalige Colonia Dignidad. Viel wurde bereits über die dunkle Vergangenheit dieser deutschen Sekte erzählt. Es geht um Tyrannei, sexuellen Missbrauch, Folter, psychologischen Terror, Entführung und Mord. Mehr als 30 Jahre herrscht Paul Schäfer, pädophiler Autokrat, über etwa 300 Schutzbefohlene. Regierungsorganisationen und Wirtschaftsimperialisten dulden und decken seine Machenschaften.
Im Gewand einer gemeinnützigen Initiative werden in Zwangsarbeit 15.000 Hektar Land bewirtschaftet. Begrenzt und abgeschirmt mit Stacheldraht, Wachtürmen und Stolperfallen. Niemand darf hinein und schon gar nicht hinaus.
Dann ändert sich jedoch Chiles politische Lage. Die Militärdiktatur fällt, es kommt zu freien Wahlen und eine rechtsstaatliche Regierung tritt an ihre Stelle. Nach dem Paradigmenwechsel ertönt der Ruf nach Gerechtigkeit. Schäfer, nun von der chilenischen Justiz gesucht, taucht unter und die unvorstellbaren Geschehnisse in der Colonia Dignidad gelangen an die Öffentlichkeit. Nun stehen die Tore der Kolonie offen. Die Welt erfährt von den Schrecken der vergangenen Jahrzehnte.
Heute leben noch etwa 200 Opfer der despotischen Herrschaft in der ehemaligen Kolonie. Die Stacheldrahtzäune von damals sind eingerissen, doch es gibt weit schwierigere Hürden zu überwinden. Die Jahre der Folter und der Misshandlungen haben ihre Spuren hinterlassen. Physische und psychische Schäden wirken noch immer nach. Eine Eingliederung in die normale Gesellschaft ist für die Betroffenen unmöglich. Viele Bewohner wollen das ehemalige Folterlager nicht verlassen.
Die Siedler, die die Kolonie nicht verlassen haben, beleben den Ort des Schreckens mit neuen Konzepten und so hält nun der Tourismus Einzug in die vermeintliche Hölle. Ein Hotel, Restaurants, Cafés und der Verkauf selbst erzeugter Produkte sollen Besucher anlocken, Arbeitsplätze schaffen und ihren Teil zum Erhalt der kleinen Gemeinde beitragen.
Die Kolonie trägt nun nicht mehr den Namen Colonia Dignidad, sondern Villa Baviera. Mit Kulturangeboten, wie dem jährlich stattfindenden Oktoberfest, wird um Gäste geworben. Im großen Veranstaltungssaal können Besucher Familienfeiern oder auch ihre Hochzeit ausrichten.
Im kleinen Supermarkt an der Ecke erspähen wir zwischen einigen neugierigen, chilenischen Gästen ein älteres Paar. Auf den ersten Blick erkennen wir in ihnen zwei Bewohner der Kolonie. Es ist nicht ihre große, hagere Erscheinung, die alles andere als südamerikanisch wirkt, sondern vielmehr ihr Verhalten, dass uns in unserem Glauben bestätigt. Mit vorsichtigen, beinahe verängstigten Bewegungen schreiten sie an uns vorbei. Ein unsicheres, flüchtiges Lächeln, das wir ebenso unsicher zurückgeben.
Es ist, als ob wir alles über diese Menschen wüssten, über ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und ihre Zukunft. Doch eigentlich wissen wir nichts. Wir sind medial vorbelastet und begegnen dem Ort des Schreckens mit selbstverständlicher Ablehnung. So lässt uns jede Kleinigkeit schaudern. Einkaufende Rentner so sehr wie spielende, strohblonde Kinder.
Am frühen Nachmittag nehmen wir im Restaurant Zippelhaus Platz. Die Speisekarte verspricht traditionelle deutsche Köstlichkeiten, von der Schweinshaxe bis zum Frankfurter Kranz. Im Hintergrund läuft deutsche Volksmusik. Das Restaurant ist gut besucht. Viele Chilenen gönnen sich und ihrer Familie hier ein deftiges Mittagessen.
Noch bevor wir uns jedoch endgültig für ein Gericht entscheiden, tritt ein älterer Mann an unseren Tisch. Durch die große Brille sehen uns zwei feuchte Augen schüchtern aber erwartungsvoll an. Nach einer Sekunde des Schweigens bringt er mit zitternder Stimme hervor: „Ich habe gehört, dass sie Deutsch sprechen. Herzlich Willkommen in der Villa Baviera.“
Diese zwei Sätze fordern alle Kraft des Mannes. Mit beiden Händen krallt er sich an einer Stuhllehne fest. Noch immer zittern seine Lippen, obwohl kein Geräusch mehr aus ihnen hervor dringt. Dann lässt er uns allein.
Nach dem Essen kommen wir eher zufällig noch einmal zusammen. Ich stelle Fragen über das Restaurant, nur der Höflichkeit halber, und befinde mich kurze Zeit später mitten im Gespräch über die Vergangenheit und Zukunft dieser stigmatisierten Gemeinde. Der ältere Herr, der sich als Rüdiger vorstellt, erscheint nun viel weniger aufgeregt als bei seiner Begrüßung an unserem Tisch. Seine Lippen haben aufgehört zu zittern, doch seine Stimme klingt noch immer gebrochen und schüchtern.
Mit 6 Jahren kommt Rüdiger von Deutschland nach Chile, lebt in der Colonia Dignidad und kämpft noch heute, viele Jahre nach der Auflösung der Sekte, mit den Traumata aus dieser Zeit. Sein Körper und seine Seele sind vom Erlebten gezeichnet.
Wir sprechen über Schäfer, über den Mann der so viel Unglück über andere brachte. Schäfer, der Frauen und Männer, Eltern und Kinder trennte, um seine autoritäre Machtposition weiter auszubauen. Schäfer, der folterte und foltern ließ und so Opfer zu Tätern machte. Schäfer, der Ungehorsam mit brutaler Gewalt bestrafte.
Warum sich niemand zur Wehr setzte, möchte ich wissen. Rüdigers Antwort ist erschreckend banal: „Wer hatte denn schon die Persönlichkeit, sich gegen die Gemeinschaft zu stellen?“, fragt er. Kritiker, so Rüdiger, wurden bösartig beschimpft. Ihnen drohte der Ausschluss aus der Gemeinschaft. Fatal in einer Welt, die nur aus der eigenen Gruppe besteht.
Die Situation ändert sich mit dem Strafantrag der Justiz und dem darauffolgenden Untertauchen Schäfers. Ohne seine Anordnungen haben Gewalt und Misshandlungen ein Ende. Die Gruppe muss nun ihren eigenen Weg finden und sich gleichzeitig mit der Vergangenheit auseinandersetzen.
Doch der Prozess ist schwierig und von Verdrängung und Schuldzuweisungen geprägt. Das Selbstbild der Gemeinschaft ist polarisiert. Es gibt Schäfer, das personifizierte Böse und es gibt die Gemeinschaft. Die Schuld trägt allein der Tyrann und ein paar alte Komplizen.
Das Gerechtigkeitsempfinden der Gemeinschaft verurteilt lediglich Schäfer und seine Garde. Mir kommen Zweifel, ob es tatsächlich so einfach ist. Wird hier Verantwortung abgeschoben oder handelt es sich wirklich um einen Teil der deutschen Psyche, die besagt, dass in der Masse niemand schuldig ist? Kinder wurden gefoltert und folterten als Erwachsene wiederum Kinder. Es musste so sein, weil es immer so war. Wer kann da klar benennen, wann das Opferdasein endet und die Täterschaft beginnt?
Nun soll auch die Villa Baviera zur Vergangenheitsbewältigung beitragen. In dem touristischen Komplex gehe es darum, die Siedlung für interessierte Gäste zu öffnen, erklärt Rüdiger. Es ist der bisher größte Schritt an die Öffentlichkeit und wird bei Weitem nicht von allen Betroffenen mitgetragen. Einige Bewohner der Villa Baviera würden lieber den Mantel des Schweigens über die Ereignisse legen, ein Pflaster auf die Vergangenheit kleben, einfach ein neues Leben beginnen.
Andere hingegen sind mit der medialen Darstellung der Colonia Dignidad unzufrieden. Sie wehren sich gegen die rein negative Berichterstattung über ihre Heimat, ihr Leben. Sie wollen ihre Sicht der Geschehnisse preisgeben, Fragen beantworten und ihre persönliche Geschichte aufarbeiten. So wie Rüdiger.
Im Zippelhaus ist von der Vergangenheit jedoch keine Spur. Der einseitige Begrüßungstext auf der Speisekarte spricht über die deutsche Einwanderung, das musterhafte Leben in der Kolonie und das Aufrechterhalten deutscher Traditionen und Kultur. Der Terror wird komplett verschwiegen.
Als ich Rüdiger darauf anspreche, ist seine Begründung leichtfertig. Den Gästen des Restaurants soll mit der Vergangenheit nicht der Appetit verdorben werden. Doch gibt es tatsächlich auch nur einen einzigen Gast, den es bis hierher verschlägt und der nicht schon vorher dutzende Gruselgeschichten über die Colonia Dignidad erfuhr?
Noch einmal kommen wir auf die Grausamkeiten der Vergangenheit zu sprechen. Wie er all das aushalte, all die Schrecken, die Enttäuschungen, die Qualen, frage ich. Die Antwort kommt prompt. Ohne auch nur den geringsten Zweifel erkennen zu lassen, beruft sich Rüdiger auf seinen Glauben an Gott. Doch folge er keiner Konfession, sei weder katholisch noch evangelisch. Er glaube an die Auslegung der Bibel, wie er sie in der Colonia Dignidad lernte – „Nur ohne die dunklen Absichten eines Einzelnen“, betont er.
Als sich das Gespräch dem Ende neigt, verrät Rüdiger mir stolz, dass er 2012 für zwei Monate nach Deutschland eingeladen war. Es sei das erste Mal seit seiner Kindheit gewesen, dass er einen Fuß auf vaterländischen Boden setzte. Strahlend berichtet er über die Ordnung und Sauberkeit, sagt aber auch, dass er voller Freude zurückkehrte in die Villa Baviera, in seine Heimat.
Die Opfer und der Ort ihrer größten Pein sind für immer aneinander gebunden. Ist die ehemalige Colonia Dignidad für uns ein Ort der Gräueltaten, entsetzlicher Gewalt und Tod, so ist er für Rüdiger und all die anderen Siedler noch immer der einzige Zufluchtsort. Der Begriff Heimat, so erscheint mir, beschrieb noch nie treffender und zugleich irritierender einen Flecken Erde.
Gegenüber des Restaurants besuchen wir das neu eröffnete Kaffeehaus, ein elegantes Lokal in dem Kuchen und Kaffee serviert werden. Jeden Samstag ist es Schauplatz kultureller Veranstaltungen. Besonders stolz ist man hier auf das eigene Orchester, das schon während der Zeit Paul Schäfers Auftritte gab. Man erinnert sich anscheinend gerne an die gute, alte Zeit. Im Vorraum des Salons hängen schwarz-weiß Fotografien auf denen die Gruppe der ersten Siedler von 1961 zu sehen sind.
Diese und ähnliche nostalgische Zeichen sind es, die eine merkwürdige, nur schwer fassbare Atmosphäre auf dem Gelände herrschen lassen.
Nachdem wir das Kaffeehaus wieder verlassen, kommen wir an einem Garten vorbei. Eine große Hecke dient als Sichtschutz, doch sind dahinter Wohnhäuser zu erkennen. Auf dem schmalen Schotterweg dorthin verbietet ein Hinweisschild den Zutritt für alle, die nicht in der Kolonie leben.
Es ist der Zugang zu den Häusern der Verbliebenen, die, versteckt vor aufdringlichen Blicken, versuchen bessere Eltern und Ehepartner zu sein, als es ihre Eltern sein durften.
Auch nach dem Gespräch mit Rüdiger fällt es mir schwer alles zu verstehen, was hier vorgefallen ist. Die Colonia Dignidad bleibt für mich auch als Villa Baviera ein unangenehmer Ort. Namen lassen sich ändern und Gebäuden neue Bestimmungen geben. Doch die Schrecken der Vergangenheit kleben noch immer unsichtbar an jedem Stein, an jedem Grashalm. Sie sind nicht sichtbar, aber noch immer spürbar.
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Vielen Dank für Deinen tollen Bericht. Das Thema Sekten und Kommunen und was danach passiert ist superspannend, denn die Menschen, die darin waren, müssen ja irgendwie weiter leben – und zur Aufarbeitung fehlt zumindest in der ersten Generation oft die Kraft. Zur Colonia Dignidad gibt es einen interessanten Dokumentarfilm – »Deutsche Seelen – Leben nach der Colonia Dignidad«, in dem die ganze Bandbreite des Problems zum Ausdruck kommt.
Würde mich freuen, wenn Ihr öfter solche, nicht reisedepeschenübliche Berichte bringt – denn genau für solche Themen ist Reisen doch gut!Wir freuen uns, dass dir der Beitrag gefällt. Der Film wurde uns auch von den Bewohnern der Villa Baviera empfohlen. Für sie ist diese Produktion eine der wenigen medialen Veröffentlichungen, mit denen sie einverstanden zu sein scheinen.
Danke für deinen Kommentar und den Film-Tipp. Das gucken wir uns gerne mal an.
Sehr differenziert beschrieben – ein erstklassiger Bericht! Chapeau!
Danke. Obwohl das Thema schwierig und wohl auch keine typische Reisedepesche ist, wollten wir von diesem Ort erzählen.
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