Bucket List: Reisen, nur um Länder abzuhaken?

Der Mensch ist ein Sammler. Und mancher Reisende noch ein bisschen mehr als andere. Doch was bringt es, Orte und Städte zu besuchen, nur um sie von einer Liste abhaken zu können?

Aus Vom Glück zu rei­sen:

Frü­her lie­ßen sich pas­sen­de Rei­se­zie­le anhand weni­ger typi­scher Fak­to­ren bestim­men: Ein­kom­men, Familiensitua­tion, Bil­dungs­stand, klas­si­sche Rei­se­mo­ti­ve wie Erho­lung, ­Aktiv­sein oder kul­tu­rel­les Inter­es­se. Mit klei­nen Kin­dern mach­te man Urlaub in Deutsch­land. Wer Son­ne und Strand woll­te, flog ans Mit­tel­meer. Wer die Ber­ge bevor­zug­te, fuhr in die Alpen. Der Bil­dungs­bür­ger such­te Geschich­te und Kul­tur in Atti­ka oder Anda­lu­si­en, Lebens­art in Paris und Gran­dez­za auf Capri, so unge­fähr. Eine typi­sche »Bucket List Rei­se« haben wir dabei alle schon mal gemacht.

Wer auf eige­ne Faust durch Viet­nam oder Peru tin­gel­te, war ein jun­ger Back­pa­cker. Die Gegen­kul­tur zum orga­ni­sier­ten Rei­sen gab es früh: erst die Hip­pies auf Zeit, dann Cam­per, Tram­per und Inter­rai­ler.

Die­se Typo­lo­gie der Rei­sen­den war immer schon modell­haft. Heu­te ist sie über­holt. Der jun­ge Tra­ve­ler der Gegen­wart lässt sich kaum noch in eine Schub­la­de packen. Die Eltern fuh­ren 20 Mal hin­ter­ein­an­der in den glei­chen Feri­en­ort – es klingt ver­rückt.

Der Rei­sen­de von heu­te ist »mul­ti­op­tio­nal«. Er tauscht das Prag-Wochen­en­de gegen die Wan­de­rung im Baye­ri­schen Wald, den Bade­urlaub am Roten Meer gegen die Städ­te­rei­se nach Bar­ce­lo­na, die Miet­wa­gen­tour durch Süd­frank­reich gegen die Kreuz­fahrt auf der Ost­see, Mexi­ko gegen Nepal.

Gepil­gert wird nicht mehr bloß zu Iko­nen und Kathe­dra­len, son­dern in die ange­sag­ten Vier­tel der Metro­po­len, an die Strän­de und zum Elvis-Grab. Alles ist mög­lich und vie­les inter­es­sant. Die Rei­se­mo­ti­ve ver­schwim­men zuneh­mend.

Baden, besich­ti­gen, sich bewe­gen: In vie­len Regio­nen ist all dies längst abwech­selnd mög­lich. Auch das Bud­get mar­kiert sel­te­ner Trenn­li­ni­en. Mal­lor­ca geht mon­dän oder mit Bier­kö­nig und San­gria. Eine Süd­afri­ka-Rei­se kann man ohne Flug für 1500 Euro oder 5000 Euro haben.

Nichts symbolisiert das Zeitalter, das wir heute durchreisen, besser als die Bucket List Reise.

Die­se Lis­te ent­hält alle Din­ge, die wir auf einer Rei­se abha­ken möch­te. Vor allem natür­lich bei once-in-a-life­­ti­me-trips. Auf­re­gend und abwechs­lungs­reich soll die­se Lis­te sein. Etwas zwei­mal zu tun, könn­te schon zu viel sein, denn die Zeit ist begrenzt – und die Lis­te noch lang.

Es ist ja erst ein­mal schön, viel­sei­ti­ge Wün­sche zu haben. Aber die Bucket List hat zwei Haken, einen klei­nen und einen gro­ßen.

Was wir glau­ben, unbe­dingt ein­mal tun zu müs­sen, ist eine dif­fu­se Wunsch­vor­stel­lung, die den Lau­nen des Lebens aus­ge­setzt ist. Bedürf­nis­se ver­än­dern sich. Wenn ein Kind da ist, bekommt das Wat­ten­meer einen grö­ße­ren Stel­len­wert als der Wai­ki­ki Beach, den man doch unbe­dingt ein­mal im Leben sehen woll­te. Das ist völ­lig okay. Wer hat schon noch die glei­chen Wün­sche wie vor fünf oder gar zehn Jah­ren?

Ich will mei­ne Bucket List Rei­se nicht als sol­che bezeich­nen. Ich sage lie­ber „Lis­te der Rei­se­zie­le, die poten­zi­ell in Zukunft ein­mal in kon­kre­ten Lebens­si­tua­tio­nen inter­es­sant sein könn­ten, soweit wei­te­re Rah­men­be­din­gun­gen erfüllt sind“. Das klingt, als hät­te ich mei­ne Lebens­träu­me zusam­men­ge­fal­tet und zu zehn gebü­gel­ten Oxford-Hem­den in den Schrank gelegt. Aber ich bin nur rea­lis­tisch.

Oft schau­te ich über Jah­re immer wie­der auf ein Rei­se­ziel auf mei­ner Lis­te, doch an einem lau­en Früh­jahrs­abend hielt ich inne, warf kurz einen Blick aus dem Fens­ter, drück­te auf »Ent­fer­nen« – und alles war gut.

Dass Wün­sche flüch­tig sind, ist kein Pro­blem. Etwas ande­res ist bedau­er­li­cher. Die Bucket List, die Wunsch­lis­te fürs Leben, erin­nert stark an den Waren­korb auf Ama­zon, der sich ewig neu bestü­cken und abar­bei­ten lässt. Mit mäßi­ger Befrie­di­gung, wenn wir ehr­lich sind.

In wei­ten Tei­len der Welt funktio­niert Kon­sum noch ohne dop­pel­ten Boden und iro­ni­sche Brü­che, aber der Tra­ve­ler aus dem libe­ra­len Euro­pa scheint schon einen Schritt wei­ter zu sein. Er ist zuneh­mend post­ma­te­ria­lis­tisch unter­wegs. Statt Gegen­stän­den sucht er gro­ße Momen­te, die eine Bedeu­tung haben. Rei­se­blog­ger raten »Inves­tie­re in Erleb­nis­se, nicht in Din­ge«, bevor sie ihre Jobs kün­di­gen und Woh­nun­gen auf­ge­ben, um ein­mal um die Welt zu rei­sen.

Sind das Wie und Warum nicht wichtiger geworden als Was und Wieviel? Die Bucket List lässt mich daran zweifeln.

Rei­sen sind die neu­en, ulti­ma­ti­ven Sta­tus­sym­bo­le – nicht mehr Kon­sum­gü­ter wie Autos, Fern­se­her, iPho­nes, Kame­ras, Hand­ta­schen und Schmuck. Frü­her hieß es: Mein Haus, mein Auto, mein Boot! Und heu­te? Mein Geschmack für Innen­ein­rich­tung, mein High-End-Fahr­rad, mei­ne Rei­se. Ich rei­se, also bin ich. Traum­haf­te Fotos fer­ner Orte für die Fol­lower auf Insta­gram sind die neue Wäh­rung des Glücks. Nichts taugt mitt­ler­wei­le mehr zum Ange­ben als eine tol­le Rei­se.

Ein­druck schin­det nicht mehr unbe­dingt, was teu­er ist, aber wei­ter­hin das Exklu­si­ve, zu dem nur weni­ge wil­lens oder in der Lage sind. Vie­le Back­pa­cker rech­nen vor, mit wie wenig Geld sie wie lan­ge gereist sind. Mini­ma­lis­mus als hei­li­ger Gral. Die Ruck­sack­tour durch Süd­ost­asi­en ringt nie­man­dem mehr ein Stau­nen ab. Zu Fuß durch die USA, auf dem Fahr­rad nach Indi­en, Back­pack­ing im Irak: Das sind die limi­tier­ten Son­der­mo­del­le des zeit­ge­nös­si­schen Rei­sens. Irgend­wer war immer schon län­ger, wei­ter, här­ter und aben­teu­er­li­cher unter­wegs. Get over it.

Die Wahrheit ist: Dass man reist, bedeutet überhaupt nichts. Diese Tatsache sagt nichts darüber aus, wie cool und inte­ressant man ist, wie klug und erfahren, neugierig und wissensdurstig, mitfühlend und verständnisvoll.

Die Bucket List füt­tert die Illu­si­on, dass wir nur das nächs­te Fähn­chen auf die Welt­kar­te pin­nen müs­sen, um ein noch herausragende­rer Mensch zu wer­den. Sie füt­tert das Ego. Wohin rei­sen? Das ist nicht ent­schei­dend. Unwich­tig auch, wie teu­er die Rei­se ist und wie vie­le Län­der man besucht. Es kommt auf den Modus an, nicht auf die Mas­se an besuch­ten Orten.

Macht die gan­ze Rei­se­rei über­haupt Sinn? Ich bin mir sicher: Wenn man sich mit dem Wie mehr befasst als mit dem Wohin, dann erüb­rigt sich irgend­wann das quä­len­de War­um.

Nichts gegen die Bucket List Rei­se. Aber inspi­riert uns die­se Rei­se wirk­lich? Oder erzeugt eine Lis­te das unbe­frie­di­gen­de Gefühl, dass das eige­ne Rei­sen (noch) nicht genügt und wir immer erst noch die­sen oder jenen wei­te­ren Ort sehen müs­sen, um end­lich zufrie­den zu sein? Bedau­ern wir beim Blick auf die Lis­te, was wir alles noch nicht gese­hen haben und viel­leicht nie­mals sehen wer­den? Oder schau­en wir zuver­sicht­lich, gelas­sen und dank­bar auf die Mög­lich­kei­ten, die unser pri­vi­le­gier­tes Leben uns bie­tet? Wol­len wir Rei­se­zie­le nur sehen, um sie danach abha­ken zu kön­nen? Oder geht es um mehr?

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Antworten

  1. Avatar von Andreas Moser

    Am meis­ten Spaß machen mir eigent­lich Rei­sen, zu denen ich vor­her gar kei­ne Lis­te mache, und mich statt­des­sen ein­fach trei­ben und über­ra­schen las­se. So wie Tram­pen ohne Ziel, ein­fach offen für das, was da kom­men mag.

  2. Avatar von Chantal
    Chantal

    Wirk­lich Klas­se geschrie­ben! Vie­len Dank für die­sen Per­spek­ti­ve­wech­sel 🙂

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