Bali, 2001

Am Wochen­en­de brin­ge ich die bei­den schon wie­der zum Flug­ha­fen. Wir lie­gen uns in den Armen, fei­ern den genia­len Trip und kurz dar­auf sind mei­ne Freun­de bereits hin­ter den Sicher­heits­kon­trol­len ver­schwun­den.

Furcht­bar scha­de, obwohl ich jetzt wie­der mein eige­ner Herr bin. Ich schmei­ße den Motor an und kann mir die größ­ten Wel­len aus­su­chen, muss auf nie­man­den war­ten oder Rück­sicht neh­men. Nach einer hal­ben Stun­de kom­me ich am Strand an.

Ich hüp­fe in den Sand, lege die Leash an und wate zu den Wel­len. Der Spot ist leer, wie aus­ge­stor­ben…
Die bei­den feh­len mir. Beson­ders im Was­ser. Die Erleb­nis­se zu tei­len und mit den Kum­pels Unsinn zu quat­schen, ist doch das Bes­te dar­an. Eigent­lich eine Indi­vi­du­al­sport­art: Du und die Wel­le. Viel­leicht ein spi­ri­tu­el­ler Augen­blick, in dem man eins wird mit der Natur. Man­che spre­chen von der letz­ten Wahr­heit. Von dem Moment, in dem man sich selbst ver­liert und wie­der fin­det. Irgend­et­was davon geschieht in mir, aber es fällt mir schwer, die rich­ti­gen Wor­te zu fin­den. Und ohne wirk­lich zu ver­ste­hen, was damit gemeint ist, ver­mei­de ich das phi­lo­so­phi­sche Hau­sie­ren.

Ich neh­me eine brust­ho­he Wel­le, sur­fe sie bis zum Strand und pad­de­le wie­der hin­aus. Tol­les Gefühl.

Die Son­ne scheint fahl im Licht des die­si­gen spä­ten Nach­mit­tags… Viel­leicht ist es ein­fach nur Spaß, viel­leicht auch mehr. Natür­lich das Spiel mit der Ver­gäng­lich­keit, als Übung für das Leben. Weil man nur den Moment hat, den kur­zen Ritt und nichts davon bleibt. Aber viel­leicht ist es auch etwas ganz ande­res. Der Sur­fer zeich­net sei­ne Linie in die Wel­le, wie ein Künst­ler in sein Bild. Und so sehr Kunst auch einem Selbst­zweck folgt, so ist sie nichts ohne Betrach­ter.

Ich posi­tio­nie­re mich noch ein paar Meter wei­ter drau­ßen…

Was gibt es Schö­ne­res, als die her­aus­ra­gends­ten Momen­te im Was­ser mit sei­nen Freun­den zu genie­ßen. Sich gegen­sei­tig zu beob­ach­ten, anzu­feu­ern. Freu­de ist das Ein­zi­ge, was mehr wird, wenn man es teilt. Freun­de soll­ten einen Blick auf die Lini­en des ande­ren, auf sein Kunst­werk, wer­fen kön­nen.

Mei­ne Bei­ne bau­meln im tie­fen Nass und las­sen den Gedan­ken frei­en Lauf…
Jetzt sit­ze ich wie­der allei­ne hier drau­ßen. Sur­fe für mich, wunder­schön, aber es fehlt auch was.
Eine schwar­ze Wol­ke schiebt sich vor die Son­ne und ver­dun­kelt den blau­en Him­mel…
Freu­de ist ein Aspekt vom Sur­fen. Angst der ande­re. Und mit bei­dem ist man nicht ger­ne allei­ne. Beson­ders mit Angst. Und irgend­et­was stimmt hier nicht.
Irgend­was stimmt hier ÜBERHAUPT NICHT!

Wie­so bewegt sich das Was­ser da vor­ne so merk­wür­dig?
Eine fie­se Ahnung krab­belt in mei­nen Hin­ter­kopf.
Dann Gewiss­heit: Da ist etwas.
Viel­leicht 15 Meter ent­fernt, direkt unter der Was­ser­ober­flä­che.
Dann taucht es auf!
Die Rücken­flos­se ist so groß wie ein Ruck­sack.

Einen hal­ben Meter, grau­blau, und die Spit­ze ragt zur Sei­te. Der dazu­ge­hö­ri­ge Rumpf ver­birgt sich unter der Was­ser­ober­flä­che. Der Schat­ten des Rückens ist sicht­bar und er ist breit. Mit Schre­cken erken­ne ich, dass sich der Kör­per nicht auf und ab bewegt.
Es ist also KEIN Del­fin! Natür­lich nicht, weil mir schon lan­ge klar ist, was hier los ist. Die Flos­se schnei­det gera­de­wegs durch das Was­ser. Das ohne Zwei­fel gro­ße Tier steu­ert direkt auf mich zu. Zehn Meter, acht Meter, sechs Meter. Fünf Meter ent­fernt, erken­ne ich die mas­si­ge Sil­hou­et­te und sehe auch die Schwanz­flos­se:
Der Hai misst über zwei Meter!

»SCHEISSE!«,
schreie ich still, wäh­rend er seit­lich an mir vor­bei­glei­tet. Aus nächs­ter Nähe wirkt das Tier gewal­tig. Er beschreibt einen hal­ben Bogen und bleibt dabei genau auf einer Distanz von drei Metern. Mei­ne Gedan­ken brül­len mir zu, was Paul in Süd­afri­ka erklärt hat, dass die meis­ten Haie ihre Opfer drei Mal umkrei­sen, bevor sie abtau­chen, um von unten, aus der Tie­fe anzu­grei­fen.
In die­sem Moment taucht die Flos­se ab. Und ist weg!
Reflex­ar­tig rei­ße ich Arme und Bei­ne aus dem Was­ser. Ich lie­ge auf dem schma­len Board und bli­cke mich um. Die Was­ser­ober­flä­che ist gespens­tisch glatt. Nichts bewegt sich. Nur Stil­le. Bru­ta­le Stil­le. Mir wird bewusst, dass mein hal­ber Ober­kör­per im Was­ser hängt. Wenn er von der Sei­te kommt, sind mei­ne Flan­ken völ­lig unge­schützt. Mit einem Biss hat er einen Fet­zen Fleisch aus mei­ner Tail­le geris­sen. Wie groß ist das Vieh? Wie groß sein Maul? Kann er sei­ne Zäh­ne durch mein Brett boh­ren? Mir Leber oder Milz her­aus­rei­ßen?
Ich schaue nach rechts: Nichts. Dann nach links: Nichts!
War­um sind Eck­art und Claus nicht da?
Was macht man in so einer Lage? Wo ist die Theo­rie?
Gibt es kein Hand­buch?

Kei­ne Panik. Das steht an ers­ter Stel­le! Die riecht der Hai, und er liebt sie wie das Salz in der Sup­pe. Angst lädt ihn ein, weil sein Opfer unter­le­gen, weil sein Opfer leich­te Beu­te ist. Ver­dammt, was hat er vor, wo ist er jetzt? Hun­de, die bel­len, bei­ßen nicht, aber der Hai schlägt ein­fach zu, ohne Vor­war­nung, weil er Hun­ger hat. Oder Blutdurst!Bloß ruhi­ge, beson­ne­ne Bewe­gun­gen. Das ist es. Mit kräf­ti­gen, lang­sa­men und vor allem selbst­be­wuss­ten Arm­zü­gen ein­fach weg pad­deln. Tol­ler Plan. Ich traue mich kaum, das Was­ser zu berüh­ren. Vor mei­nem geis­ti­gen Auge sehe ich, wie ich die Hand vor mir ins Was­ser glei­ten las­se, durch­zie­he und mei­nen Arm neben der Hüf­te mit einem schrei­en­den Schmerz und einem roten, ver­krüp­pel­ten Stum­mel, aus dem Blut spritzt, wie­der aus dem Was­ser hebe.
»Schei­ße ver­dammt!«

Ich mache zwei Züge und hän­ge sofort drei wei­te­re dran. Ich muss hier weg! Ich sehe mich noch­mals um. Dann wer­fe ich den Motor an. Mei­ne Züge sind weder ruhig, noch lang­sam oder still. Alles egal. Voll­gas! Alles auf Hoch­tou­ren. Ver­folgt. Gejagt! Trotz­dem nur Schritt­tem­po und ich brau­che Licht­ge­schwin­dig­keit, denn er kann jeder­zeit angrei­fen. Ein­fach zubei­ßen. Eine Wel­le muss her – sofort! Natür­lich kommt kei­ne.

Ist er hin­ter mir? Auf jeden Fall irgend­wo unter mir!

Mit allem, was ich habe, zie­he ich durch, glei­te auf der dün­nen Ober­flä­che Rich­tung Strand, bli­cke panisch durch die Gegend und pad­de­le um mein Leben. Das Ufer ist eine Ewig­keit ent­fernt. Atem­lo­se Ver­zweif­lung. Dann taucht eine klei­ne Wel­le auf, die ich ein­fach krie­gen muss. Ich kom­me ins Glei­ten und bli­cke in den Abgrund. Knapp zwei Meter. JETZT bloß nicht fal­len. Der Gedan­ke mit mei­nem gan­zen Kör­per ins Was­ser zu plump­sen, lässt mich erschau­ern. Direkt auf den Spei­setel­ler der hung­ri­gen Bes­tie. Ich zit­te­re am gan­zen Leib und bin haar­scharf kon­zen­triert. Dann sprin­ge ich auf und rei­te die Wel­le zum Strand. Selbst die letz­ten, knie­tie­fen Meter stür­ze ich aus dem Was­ser, wobei ich über mei­ne Bei­ne stol­pe­re, hin­fal­le, mich wie­der auf­rap­pe­le und wei­ter Rich­tung ret­ten­des Ufer het­ze. Als ich tro­cke­nen Sand an mei­nen Füßen spü­re, bli­cke ich zurück. Nichts. Nur fried­li­che Ruhe.

Ein Bali­ne­se schlen­dert her­an.
»What is?«
»Fuck Fuck Fuck! A shark!«, hyper­ven­ti­lie­re ich.
»No, no, no schark, only dol­fin! Yu sow dol­fin.«
»It – was – a – shark!«
»Some­ti­mes schark«, grinst er. »Yu skared?«
»No«, lüge ich und zie­he dabei mei­ne Augen­brau­en hoch.
Er lacht.
»Some­ti­mes shark! Yes. But no pro­blem, shark only eat fish!«
»Some­ti­mes shark!? No pro­blem?!«, fah­re ich ihn an, löse die Leash und haue ab.

 

Salsa in Peru

Es ist soweit. Die alte Frau hat irgend­wo einen Rekor­der auf­ge­trie­ben und bringt den Koloss vor mei­ner Zim­mer­tür in Stel­lung. Wel­chen ame­ri­ka­ni­schen Gangs­ter aus den 60ern sie dafür über­fal­len hat, kann ich nicht ergrün­den. Auch Mar­tha, Ama­lia und Celia sind dabei. Die nerv­tö­ten­de Elf­jäh­ri­ge läuft irgend­wo in der Gegend her­um. Ich stel­le mei­nen Plas­tik­stuhl im Flur zurecht und neh­me Platz.
Die vier ste­hen vor mir. Oma, Mut­ter und die bei­den Töch­ter. Drei Gene­ra­tio­nen, drei Meter ent­fernt und neben­ein­an­der auf­ge­reiht. Bereit für eine Kost­pro­be des latein­ame­ri­ka­ni­schen Mythos, der die pure Lei­den­schaft in einen Tanz ver­wan­delt. Oder umge­kehrt.
Die Anla­ge knis­tert und spannt den Bogen. Dann ent­lässt die Kas­set­te die ers­ten Töne in den Orbit und die vier wal­ten ihres Amtes. Ihr zag­haf­tes Wip­pen mau­sert sich zu einer schwin­gen­den Fröh­lich­keit, die mir die Spra­che ver­schlägt – im ers­ten Takt.

Dann geht alles furcht­bar schnell. Der Rhyth­mus fließt durch sie hin­durch und bringt sie in Bewe­gung. Nein, in Wal­lung! Es sieht aus, als wenn sie gar nichts tun müs­sen. Die Musik schwebt durch ihre Kör­per. So geschmei­dig, wie es nie­mals ein Vor­ha­ben oder ein Gedan­ke schaf­fen kann. So flie­ßend, so frei, so har­mo­nisch glän­zend. Auf ein­mal lacht die Son­ne aus ihren Her­zen, aus ihren Hän­den und aus ihren Hüf­ten. Die süd­ame­ri­ka­ni­sche Melo­die spielt mit ihnen und sie las­sen es mit sich gesche­hen.

Die Oma haut mich gleich vom Hocker. Ihr Tanz ist weich und flie­ßend. Ein­fach rund. Leicht und ohne Auf­wand. Ihre Hüf­ten ruckeln wür­de­voll im Takt und ihre Fin­ger schnip­sen dazu. Die Arme blei­ben kon­trol­liert und dicht am Kör­per, der Rest ist ein­fach wol­ken­los roman­tisch. Eine ewi­ge Jugend ist erwacht, und sie kit­zelt sie in jedem Schwung wei­ter an die geseg­ne­te Ober­flä­che. Klei­ne Schrit­te, vor und zurück und wie­der zur Sei­te. Sie lächelt in blut­jun­ger Erin­ne­rung an ver­gan­ge­ne Tage und genießt die Musik und das Leben in sei­ner Gän­ze und Voll­kom­men­heit dabei.

Ihre Toch­ter muss nicht ganz soweit zurück. Es sieht so aus, als wenn sie lan­ge nicht getanzt hat und ihr Reper­toire heu­te end­lich wie­der spru­deln darf. Sie glänzt durch per­fek­te Abstim­mung aller Kör­per­tei­le. Vom klei­nen Zeh bis in die Haar­spit­zen. Sie voll­führt eine Cho­reo­gra­phie, die einem nie­mals enden­den Lehr­buch ent­springt. Und immer, wenn ich mich gera­de an eine Wel­le ihrer Bewe­gun­gen gewöhnt, nein in sie ver­liebt habe, zau­bert sie eine neue, klei­ne Extra­va­ganz her­vor. Sie kreuzt die Bei­ne, win­det sich in eine unbe­kann­te Dre­hung, wirft den Kopf nach hin­ten und fängt den Aus­bruch mit ihren Armen auf. Plötz­lich füh­ren die Hän­de, schwin­gen, krei­sen, schwe­ben und der Rest des Kör­pers folgt. Witz und Krea­ti­vi­tät spru­deln aus einer ewi­gen Quel­le. Meis­ter­haft auf­ein­an­der abge­stimmt. Geschmei­dig. Fes­selnd. Atem­be­rau­bend.

Neben ihr win­det sich die Blü­te ihres Lebens. Ama­lia. Die jun­ge Schön­heit wir­belt her­um. Wild und auf­rei­zend. Vol­ler Ero­tik und Appeal. Frech schwingt sie ihre Hüf­ten auf mich zu, um dann wie­der einen Schritt zurück­zu­schal­ten. Damit zieht sie mich in ihren Bann und raubt mir alle Sin­ne. Auf ein­mal ist die Klei­ne Licht­jah­re vor­aus und vol­ler Lei­den­schaft. Ihre Schüch­tern­heit ist in den reh­brau­nen Augen ver­sun­ken. Sie streift ihre Jung­fräu­lich­keit ab und lässt die Knos­pen ihres jun­gen Alters in dem hei­ßen Rhyth­mus der Musik zu einer ver­bo­te­nen Rei­fe gedei­hen. Ihr Hin­tern schau­kelt auf und ab und der Kör­per win­det sich dazu in nahen­der Eksta­se. Unter­schie­de zer­flie­ßen. Alles bewegt sich zwi­schen ver­le­ge­nem Tanz und glü­hen­dem Sex. Als sie mir direkt in die Augen sieht, bin ich unan­stän­dig vor­ge­führt und wage kei­ne ein­zi­ge Sekun­de län­ger ihren anzüg­li­chen, viel zu jun­gen Bewe­gun­gen Fol­ge zu leis­ten. Schnell schaue ich zu der Kleins­ten rüber. Sie wir­belt durch die Gegend. Erfasst von einer unbe­kann­ten Ener­gie, die sie vor Freu­de explo­die­ren lässt. Fröh­lich, aus­ge­las­sen, hei­ter. Sie hot­tet ab! Fällt fast zur Sei­te, springt umher und jubelt durch die Gegend. Unge­stüm lässt sie den Rhyth­men frei­en Lauf. Was immer geschieht, sie ist dabei und treibt es vor­an. Ein klei­ner Vul­kan, der gren­zen­lo­se Frei­heit über sie ergießt. Sie tanzt ab, als wenn es kein Mor­gen, kein zwei­tes Lied und kei­nen nächs­ten Takt auf die­sem Plan­ten gibt.

Alle vier zusam­men sind das gan­ze Leben. Lei­den­schaft und Musik. Nein, pure Freu­de. Sie tan­zen eine Geschich­te, die los­ge­löst von allen Zwän­gen ist. Eine Geschich­te, wel­che die ursprüng­li­che Frei­heit, die in jedem steckt, zu Tage för­dert und so den Inbe­griff von mensch­li­cher Schön­heit zurück in unse­re ver­klemm­te Welt gelei­tet. Dabei zu sein, ist die reins­te Ehre. Das Stück geht zu Ende. Laut­stär­ke und Tem­pe­ra­tur neh­men ein paar Grad ab, aber alles vibriert nach. Die drei Gene­ra­tio­nen lächeln vol­ler Stolz, denn sie wis­sen genau, was sie getan haben, was ihnen gelun­gen ist. Ich drü­cke mich in mei­nen Plas­tik­stuhl und stam­me­le:
»Increi­b­le, increi­b­le, increi­b­le!« (unlgaub­lich), vor mich her.

»El fin de la sema­na, vamos a bailar, Andi!«, (Am Wochen­en­de gehen wir tan­zen) ent­schei­det die Groß­mutter.
»Todos jun­tos«, (Alle zusam­men) ergänzt die Mut­ter.
»Si, Andi«, jauchzt die Klei­ne, wäh­rend ihre Schwes­ter zu mir hin­über lächelt.

Wow! Ich wer­de zwar Unmen­gen Bier trin­ken müs­sen, um mich auf die Tanz­flä­che zu wagen, aber die­se Gele­gen­heit las­se ich mir nicht ent­ge­hen.

 

Südafrika, 1996

Kei­ne Ahnung, ob wir das Ziel aus­ge­wählt haben, oder es uns. Uns? An mei­ner Sei­te steht ein kaum vager Bekann­ter mit Namen Eck­art. Ein Rie­sen­typ. Im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes. Und in jedem ande­ren Sin­ne auch. Knapp zwei Meter groß und ein Kerl zum Schrei­en. Abge­dro­schen wie pas­send: Der Beginn einer wun­der­ba­ren Freund­schaft.

Eck­art ist nicht unver­nünf­tig, aber so vol­ler Lie­be zum Aben­teu­er, dass er jeder­zeit bereit ist, sei­nen Ver­stand aus­zu­schal­ten. Genau wie ich. Unvor­ein­ge­nom­men, naiv, neu­gie­rig und mal sehen, was pas­siert. Soll­te dies in eine pre­kä­re Lage füh­ren, schal­tet sich der Ver­stand wie­der ein, um für Ret­tung zu sor­gen. Flucht statt Kampf, Lächeln statt Empö­rung und Mas­ter­card statt Gefan­gen­schaft. Haupt­sa­che, es wird lus­tig.

War­um wir uns für Süd­afri­ka ent­schie­den haben, hat nichts mit ein­ge­hen­den Recher­chen zu tun. Viel­mehr muss, neben den Legen­den über her­aus­ra­gen­de Wel­len, ein genia­ler Unfug, kos­mi­scher Zufall oder der gro­ße Mani­tu per­sön­lich sei­ne Fin­ger im Spiel gehabt haben. Und sicher­heits­hal­ber haben wir dies­mal einen Rei­se-füh­rer im Gepäck.

…Süd­afri­ka liegt am süd­lichs­ten Rand des afri­ka­ni­schen Kon­ti­nents. Der Ort, an dem sich Atlan­tik und Indi­scher Oze­an die Hand rei­chen und das Kap der Guten Hoff­nung Erlö­sung in Aus­sicht stellt. Gesell­schaft­lich auf­grund der vie­len eth­ni­schen Grup­pen auch als Regen­bo­gen­na­ti­on bezeich­net, schim­mern in ers­ter Linie wahn­wit­zi­ge Pro­ble­me her­vor. Die Kri­mi­na­li­täts­sta­tis­tik ähnelt der Bilanz einer krie­ge­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zung. In den 10 Jah­ren nach dem Ende der Apart­heid 1994 wur­den über 400.000 Men­schen ermor­det. Sta­tis­tisch betrach­tet, ist es für eine Frau in Süd­afri­ka deut­lich wahr­schein­li­cher ver­ge­wal­tigt zu wer­den, als Lesen zu ler­nen. Die enor­me Gewalt­be­reit­schaft im Land kata­pul­tiert Süd­afri­ka an die Spit­ze der Tabel­le der höchs­ten Ver­bre­chens­ra­ten. Welt­weit. Die Bru­ta­li­tät der Ver­bre­chen mani­fes­tiert sich beson­ders in den gro­ßen Städ­ten und allen vor­an: Johan­nes­burg! Abge­schirm­te Vier­tel, Stahl­to­re, Git­ter und schwer bewaff­ne­tes Wach­per­so­nal mit der Lizenz scharf zu schie­ßen, bie­ten einen gewis­sen Schutz und iso­lie­ren den wei­ßen, wohl­ha­ben­den Mann vom Rest des Lan­des…
(…)
Am Abend schla­gen wir uns den Bauch mit den Nudeln voll, die wir auf dem klei­nen Cam­ping­ko­cher zube­rei­tet haben, als eine Hor­de Motor-Cross-Maschi­nen über den gro­ßen, lee­ren Park­platz bret­tert. 20 Mann. Beklei­det mit Hel­men, Tarn­kla­mot­ten, schuss­si­che­ren Wes­ten und Gewehr auf dem Rücken. Eine Gang? Nein, eine Armee­ein­heit. Trup­pen, die für Sicher­heit im Cha­os der viel zu gro­ßen Stadt sor­gen soll. Beson­ders in der Dun­kel­heit. Wir schau­en der Patrouil­le hin­ter­her. Ich fra­ge mich, wo sie als nächs­tes hin­fährt, Eck­art nimmt Nudeln nach.

Nach dem Abwasch schlägt Eck­art vor, irgend­wie Mari­hua­na auf­zu­trei­ben. Halb Witz und die Idee ist ver­rückt, aber gera­de des­halb so reiz­voll. Das ist Eck­art, denn wir kön­nen tun, was wir wol­len. Gera­de hier. Und schließ­lich muss heu­te Abend noch irgend­was pas­sie­ren. In die­sem Augen­blick rollt ein alter Ami-Schlit­ten auf den ver­las­se­nen Park­platz und kommt am ande­ren Ende zum Ste­hen. Die Fah­rer­tür öff­net sich und der unbe­kann­te Fah­rer dreht den Sitz her­un­ter, um sich ent­spannt zurück zu leh­nen, soweit man das auf die Ent­fer­nung erken­nen kann.

Wir schau­en uns an: Wäre eine Mög­lich­keit.

Aller­dings mag das tro­ja­ni­sche Gefährt zwar tat­säch­lich Dope an Bord haben, ist aber schon aus siche­rer Ent­fer­nung von einer kaum zu ver­leug­nen­den Gangs­ter-Aura umge­ben. Was ist das für ein Typ?
Eck­art sagt nichts, ich schwei­ge dazu.

Na gut. Alles hilft nichts. Einer muss hin­ge­hen. Wir tra­gen ein schick­sal­haf­tes Duell Schnick-Schnack-Schnuck aus, um den Ernst der Lage zu besänf­ti­gen. Drei Mal schwin­gen unse­re Arme vor und zurück, bevor wir auf unse­re Hän­de star­ren:
Ich Stein – Eck­art Papier.
Ich ver­lie­re. Eck­art grinst. Natür­lich. Ich über­le­ge eine wei­te­re Sekun­de, aber das Ergeb­nis ist zu ein­deu­tig für Dis­kus­sio­nen. Die schul­di­ge Hand ver­schwin­det in mei­ner Hosen­ta­sche, wäh­rend ich mich zur Sei­te dre­he, um das ande­re Ende des Park­plat­zes anzu­vi­sie­ren. Mein ers­ter zag­haf­ter Schritt wird von einem Seuf­zer beglei­tet. Dann bin ich unter­wegs.

Nach den ers­ten Metern kom­men mei­ne Gedan­ken in Schwung, und ich wer­de unver­züg­lich zurück in das Süd­afri­ka der hor­ren­den Kri­mi­na­li­tät kata­pul­tiert. Viel schlim­mer: Ich gehe nahe­zu frei­wil­lig genau dar­auf zu. Meter für Meter. Nein, mit frei­wil­lig hat das schon lan­ge nichts mehr zu tun, aber Umkeh­ren steht auch nicht mehr zur Debat­te. Mit dunk­ler Vor­ah­nung errei­che ich den Wagen. Was ich erbli­cke, lässt mir das Blut in den Adern gefrie­ren. Es befin­det sich nicht eine Per­son in der Kar­re – son­dern drei. Mar­ke: Ice T! Mit Son­nen­bril­le und Woll­müt­ze ver­mummt, ver­narb­tes Gesicht und Täto­wie­run­gen am Hals. Ich sehe mich schlicht und ergrei­fend dem per­so­ni­fi­zier­ten Ver­bre­chen gegen­über. Die drei sehen so gefähr­lich aus, dass ich nicht ein Wort her­aus­brin­ge und die längs­te Sekun­de mei­nes Lebens auf das Inne­re des Wagens star­re. Als der Fah­rer auf­blickt, ver­mut­lich so zuge­kifft, dass er eher mit einer Fata Mor­ga­na rech­net, als mit mir, setzt mei­ne Atmung wie­der ein. Ich reagie­re sofort:
»…ääh, sor­ry, do you may­be have some­thing to smo­ke, plea­se?«
stam­me­le ich vor mich hin, wor­auf­hin der Typ ohne mit der Wim­per zu zucken zum Hand­schuh­fach greift, eine Rie­sen­knar­re zückt und mich mit fünf Schüs­sen in die Brust nie­der­streckt.

Statt des­sen hält er mir (bei genaue­rer Betrach­tung) mit dem Hauch eines Lächelns im ver­narb­ten Gesicht jetzt eine klei­ne Ecke Dope ent­ge­gen. Irgend­wo kräht ein Vogel. Die bei­den auf der Rück­bank ver­fol­gen das Gesche­hen. Ich grei­fe zu, fra­ge, wie viel Geld ich ihm schul­de und ver­flu­che mich im sel­ben Moment für das Erwäh­nen von Geld, dem Ur-Sinn des Gewalt­ver­bre­chens. Der bul­li­ge Kerl hin­ten links zieht sich sofort inter­es­siert nach vor­ne, aber der Typ am Steu­er winkt mich mit einer Hand­be­we­gung wort­los weg.
Das ist er.

Der end­gül­ti­ge Beweis, dass ich es hier mit der süd­afri­ka­ni­schen Vari­an­te von Pablo Esco­bar zu tun habe. Ich soll­te gehen, ste­he aber immer noch vor dem Wagen rum. Er grinst und lehnt sich in den Sitz zurück. Ich brau­che eine wei­te­re Sekun­de. Ob ihm mein Mut impo­niert hat? Selbst dem blin­des­ten Krück­stock konn­te mei­ne über­schäu­men­de Furcht kaum ent­ge­hen. Was sind das für Typen? Kein Grund nach­zu­fra­gen. Ich dre­he mich um und wan­de­re so gefasst wie mög­lich zu unse­rem Auto. Ohne zu stol­pern oder ein­fach los zu ren­nen. Schnell habe ich die Hälf­te hin­ter mir und immer noch kei­ne Kugel im Rücken. Ich kom­me Schritt für Schritt vor­an, aber blei­be bereit, mich zu Boden zu wer­fen und ver­lie­re dabei unse­ren Miet­wa­gen und unser Fleck­chen Sicher­heit am Ende die­ses Park­plat­zes nicht aus den Augen.

Eck­art brennt auf mei­nen Bericht. Ich mah­ne die bil­li­gen Zuschau­er auf der Tri­bü­ne zur Geduld und beschrän­ke mich auf die Fak­ten.
»…die Typen sahen aus…
….…..garan­tiert bewaff­net.…
..….……der hin­ten woll­te gera­de aus­stei­gen.…
….….….…..aber mit dem Anfüh­rer lief alles cool.…«

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