Der nicht ganz so geheime Blue Lake

»Da fah­ren wir heu­te hin!«, sagt mein Freund neben mir bestimmt und reißt mich aus mei­nen Gedan­ken. Wäh­rend ich die Nase in unse­ren Wan­der­füh­rer gesteckt habe, sitzt er mit dem Tablet in der Hand auf dem Bett und hält mir einen Blog­ar­ti­kel hin, der von einem Ort erzählt, den angeb­lich nicht ein­mal die Locals ken­nen: dem Blue Lake, einen durch Mine­ra­li­en dun­kel­blau gefärb­ten See inmit­ten einer alten Schie­fer­mi­ne. Die Wan­de­rung klingt ein biss­chen aben­teu­er­lich – das letz­te Stück muss durch einen dunk­len Tun­nel zurück­ge­legt wer­den, in dem Was­ser steht. Als wir unse­rem Airbnb-Host von unse­ren Plä­nen erzäh­len, muss sie lachen. »They can’t keep any­thing secret!« Frü­her sei der Blue Lake etwas gewe­sen, das man nicht ohne Wei­te­res fin­den konn­te – man muss­te mit jeman­dem dort­hin, der den Ort und vor allem den Weg kann­te. Heu­te fin­det man ihn als Attrak­ti­on auf Tri­p­ad­vi­sor, gan­ze 91 Bewer­tun­gen inklu­si­ve.

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Wir machen uns mit­tags auf den Weg und kom­men in Fair­bourne an, einem klei­nen Ort an der Küs­te, der vor allem für sei­ne Minia­tur­zug­stre­cke bekannt ist. Erst mal Mit­tag essen – doch wo?! An einem lee­ren Park­platz steht ein bau­fäl­li­ges Hotel, das für sei­nen Pub wirbt. Wir füh­len uns ein wenig wie in einen schlech­ten Hor­ror­film hin­ein­ver­setzt, doch innen ist von der stil­len, ver­las­se­nen Atmo­sphä­re kei­ne Spur mehr. Es ist Sonn­tag und eini­ge der Gäs­te haben bereits jetzt ein paar Glä­ser zu viel intus. Es wird gelacht und getrun­ken und Darts gespielt. Noch bevor wir bestel­len kön­nen, wer­de ich in eine Unter­hal­tung über den Tem­pel­ho­fer Flug­ha­fen ver­wi­ckelt und stim­me einem älte­ren Herrn dabei zu, dass die Welt doch Frei­flä­chen braucht. Zu essen gibt es Sun­day Roast, das ein­zi­ge, was am Sonn­tag­mit­tag auf der Kar­te steht. Was das ist, wis­sen wir nicht, aber wir dür­fen uns eine Fleisch­sor­te aus­su­chen. Als wir nach dem Blue Lake fra­gen, weiß natür­lich jeder Bescheid und wir bekom­men sogar eine klei­ne Kar­te gezeich­net. Falls wir uns ver­ir­ren, heißt es, kön­nen wir ein­fach jeman­den fra­gen, denn es wer­den vie­le Leu­te dort sein. Na super – so geheim­nis­voll scheint der See also wirk­lich nicht mehr zu sein.

Der Sun­day Roast ist letzt­end­lich eine der größ­ten Über­ra­schun­gen unse­res Urlaubs: Wir bekom­men bei­de rie­si­ge Por­tio­nen mit ganz vie­len ver­schie­de­nen Bestand­tei­len – Fleisch, Kar­tof­feln, meh­re­re Sor­ten Gemü­se, Pas­te­ten. Eini­ge davon kön­nen wir beim bes­ten Wil­len nicht iden­ti­fi­zie­ren, aber es schmeckt gran­di­os. Mit so vol­lem Magen ist es aller­dings gar nicht leicht, sich den Weg zum See hin­auf­zu­kämp­fen, der sich nach einem kur­zen Stück an der Stra­ße uner­bit­ter­lich berg­auf schlän­gelt. Nach einem Stück durch den Wald lan­den wir auf ein­mal in einer Ebe­ne, in der Schie­fer­stü­cke auf­ge­schüt­tet wur­den. Wir ste­hen zwi­schen Hau­fen, die weit über unse­re Köp­fe auf­ra­gen, alle aus fla­chen dunk­len Schie­fer­plat­ten gesta­pelt. In Wales wur­de Schie­fer bereits im Römi­schen Reich als Mate­ri­al für Dach­zie­geln ver­wen­det. Wäh­rend die Plat­ten jedoch frü­her nur für ein­zel­ne Bau­pro­jek­te gesam­melt wur­den, bau­te man die Schie­fer­indus­trie im 19. Jahr­hun­dert zum wich­tigs­ten Wirt­schafts­zweig in Wales auf. Der Abbau war damals abso­lu­te Hand­ar­beit. Gan­ze Fami­li­en arbei­te­ten gemein­sam unter Tage und bra­chen die Schie­fer­plat­ten aus dem Fels, unter­stützt von win­zi­gen Ker­zen, die gera­de ein­mal die eige­ne Hand beleuch­te­ten. Spä­ter konn­te man zumin­dest die unbrauch­ba­ren Wand­tei­le spren­gen, doch dies führ­te wie­der­um zu mehr Unfäl­len bei den Arbei­tern. Der Rück­gang der Schie­fer­indus­trie in Wales begann bereits vor dem ers­ten Welt­krieg, heu­te gibt es nur noch ein­zel­ne Stein­brü­che – die jedoch arbei­ten selbst­ver­ständ­lich mit moderns­ter Tech­no­lo­gie. Die ande­ren gro­ßen Schie­fer­mi­nen erfül­len heu­te ganz ande­re Zwe­cke: In der Nähe von Cor­ris gibt es Minen­füh­run­gen und ein unter­ir­di­sches Laby­rinth, das die Geschich­te von König Artus erzählt, in der Nähe von Machynlleth wur­de ein Muse­um für alter­na­ti­ve Tech­no­lo­gie auf­ge­baut. Und in Fair­bourne hat sich Was­ser gesam­melt, in dem im Som­mer geba­det wird. Auf der Anhö­he kurz vor dem See ste­hen sogar noch Minen­ge­rä­te, die im feuch­ten Boden lang­sam vor sich hin ros­ten.

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Der Pub-Besit­zer hat nicht gelo­gen, wir sind nicht die ein­zi­gen und wer­den sogar selbst nach dem Weg gefragt. Anstatt direkt dem Weg durch den nied­ri­gen Minen­schacht zu fol­gen, klet­tern wir erst ein­mal auf den Stein­bruch und schau­en uns den See von oben an, der tat­säch­lich irri­tie­rend blau ist, vor allem im Kon­trast zu den röt­lich gefärb­ten Wän­den des Stein­bruchs. Als wir uns durch den Schacht kämp­fen und direkt am See ste­hen, sind wir dann schließ­lich doch noch ganz allei­ne. Der Stein­bruch umschließt uns mit sei­nen hohen Wän­den, als wären wir vom Rest der Welt abge­schnit­ten. In die Fel­sen sind Buch­sta­ben und Sym­bo­le längst ver­gan­ge­ner Zeit ein­ge­ritzt. Die eige­nen Stim­men hal­len von den Wän­den wider, sogar der Wind, der an den Bäu­men hoch auf dem Stein­bruch zerrt, scheint hier lei­ser zu sein. Der See ist völ­lig ruhig, das Was­ser auf der Ober­flä­che kräu­selt sich nicht ein­mal. Eine per­fekt blaue Flä­che, ein­ge­färbt von Mine­ra­li­en, die im Schie­fer gelöst wur­den, geheim­nis­voll und still. Trotz sei­ner Bekannt­heit hat der Blue Lake sei­ne Atmo­sphä­re des ein­sa­men High­lights behal­ten, man kommt sich vor wie abge­schnit­ten vom Rest der Welt. Bevor wir gehen, muss der Bes­te sich natür­lich noch ein­mal ins tief­blaue Was­ser wer­fen und kommt zit­ternd wie­der her­aus. Der See ist tief, nach einem fla­chen Vor­sprung geht es direkt abwärts, und bleibt wohl auch im Som­mer kalt – per­fekt für eine Abküh­lung nach der Wan­de­rung. Ich ver­zich­te trotz­dem.

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Anstatt wie­der berg­ab, lau­fen wir, zurück aus dem Tun­nel, wei­ter berg­auf, bis es wei­ter nicht mehr geht, stem­men uns gegen den Wind und bli­cken über die Küs­te und die Bucht bei Bar­ne­mouth. Hier oben haben die Bäu­me den all­ge­gen­wär­ti­gen Böen schon nach­ge­ge­ben und wach­sen eher zur Sei­te als nach oben. Unter­hal­ten kann man sich kaum, die Luft reißt jedes Wort mit sich. Berg­ab geht es vor­bei an Scha­fen, einem klei­nen Bach und, wie soll­te es auch anders sein, an Häu­sern und Mau­ern, die vor lan­ger Zeit aus Schie­fer­plat­ten auf­ge­schich­tet wur­den. Ich bin nicht ganz sicher, was ich vom Blue Lake hal­ten soll. Soll ich es scha­de fin­den, dass aus einem Geheim­nis eine klei­ne Attrak­ti­on wur­de – und Ent­de­cker­geist eigent­lich nicht mehr not­wen­dig ist, um sich wie ein Ent­de­cker zu füh­len? Beim Schrei­ben die­ses Arti­kels habe ich fest­ge­stellt, dass es am Blue Lake sogar ein Goog­le Street­view-Rund­um­bild gibt. Den­noch – ich freue mich ein­fach, dass ich dank Tri­p­ad­vi­sor & Co. die Mög­lich­keit habe, Orte zu erkun­den, die nicht im Rei­se­füh­rer ste­hen. Und mache sie gleich mal noch ein biss­chen bekann­ter.

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