Begegnungen am Straßenrand

Tram­pen ist was Fei­nes. Wir genie­ßen es am Stra­ßen­rand zu ste­hen, dem Ver­kehr freu­dig ent­ge­gen zu bli­cken und auf die nächs­te Mit­fahr­ge­le­gen­heit zu war­ten. Doch auf Indi­ens Stra­ßen sind wir sel­ten allein. Egal, ob in der Wüs­te Raja­st­hans, den kur­vi­gen Stra­ßen des Hima­la­yas oder in der tro­pi­schen Hit­ze des Südens – über­all begeg­nen uns die glei­chen schrä­gen Typen, die uns jedoch kei­nen Meter näher an unser Ziel brin­gen.

Aus die­sem Grund prä­sen­tie­ren wir euch eine (völ­lig ernst gemein­te) Typo­lo­gie der Men­schen, die uns in Indi­en nicht mit­ge­nom­men haben.

Und auch wenn es so anmu­ten mag: Der fol­gen­de Text ent­hält kei­ner­lei Über­trei­bun­gen.

1. Der Wegweiser

Der Weg­wei­ser ist ein immer wie­der­keh­ren­des Phä­no­men auf Indi­ens Stra­ßen. Er spricht wenig und zeich­net sich durch Ges­ten aus.

Wir ste­hen mit einem beschrif­te­ten Schild am Stra­ßen­rand. Wie immer haben wir uns eini­ge Kilo­me­ter vom Stadt­rand ent­fernt posi­tio­niert. Denn dort, wo in Indi­en die Stadt endet, enden nicht auto­ma­tisch die Men­schen­men­gen, die fürs Tram­pen durch­aus fata­le Fol­gen haben kön­nen (sie­he auch: die indi­sche Men­schen­men­ge). Klei­ne Tee­häu­ser, die Stän­de der Pan­ver­käu­fer, die mobi­len Obst­händ­ler mit ihren rol­len­den Kar­ren – sie alle bevöl­kern die Stra­ßen bis weit außer­halb der Stadt­gren­zen.

Da ste­hen wir also an der Stra­ße, die auf direk­tem Wege zu unse­rem Ziel­ort führt, der auf unse­rem Schild steht. Wir befin­den uns auf der kor­rek­ten Stra­ßen­sei­te – alles hat sei­ne Rich­tig­keit. Und da pas­siert es, immer wie­der. Ein Auto hält an, der Fah­rer, der Bei­fah­rer, oder aber auch bei­de zusam­men (meis­tens dick­bäu­chi­ge Inder mit Schnub­bi), wie­der­ho­len, laut und auf­ge­regt brül­lend, den Orts­na­men auf unse­rem Schild, deu­ten mit dem gan­zen Arm in gro­ßen Ges­ten die Stra­ße hin­un­ter und fah­ren wei­ter. In eben die­se Rich­tung. Uns ist klar, dass das Kon­zept des Tram­pens in Indi­en unbe­kannt ist. Doch für wie hilf­los hal­ten uns die­se Men­schen?

Unser Tipp für Indi­en­rei­sen­de: Wenn ihr euch ein­mal ver­lau­fen habt, macht es euch nicht zu ein­fach, indem ihr jeman­den nach dem Weg fragt oder in eine Kar­te guckt. Bas­telt euch lie­ber ein Schild, beschrif­tet es und stellt euch damit irgend­wo an den Stra­ßen­rand und hofft dar­auf, dass jemand anhält und euch mit­teilt, wo sich die­ser Ort befin­det. In Indi­en ist nichts leich­ter als das.

Begegnungen in Indien

Trampen in Indien

2. Der fantasielose Skeptiker oder auch der Besserwisser-Schnösel

Der fan­ta­sie­lo­se Skep­ti­ker weiß nicht, was wir machen, kann sich nicht vor­stel­len, dass wir bei Ver­stand sind und ist der Mei­nung, nur er kön­ne uns hel­fen.

Aus­nahms­los ist die­se Gat­tung der Inder immer die ers­te Per­son, die uns anspricht, sobald wir uns am Stra­ßen­rand posi­tio­nie­ren. In der Regel han­delt es sich dabei um einen jun­gen Mann, der die Schu­le noch nicht gänz­lich abge­schlos­sen hat. Er trägt eine Bril­le, einen akku­rat gekämm­ten lin­ken Sei­ten­schei­tel mit Fön­wel­le, ein fein säu­ber­lich gebü­gel­tes Hemd und eine enge Jeans­ho­se, die sich um sei­ne schlak­si­gen Bei­ne legt. In den Genuss einer geho­be­nen, pri­va­ten Bil­dung gekom­men, denkt er, er sei schlau­er als der Rest der Welt. Zumin­dest spricht er Eng­lisch.

Mit den für die­se Gat­tung typi­schen Sät­zen, die immer einen lan­gen, ein­lei­ten­den Satz­teil mit sich brin­gen, und sel­ten schnell auf den Punkt kom­men (Actual­ly, what hap­pen­ed is…), prescht der fan­ta­sie­lo­se Skep­ti­ker lang­at­mi­ge Phra­sen und ver­sucht uns weis zu machen, dass unser Vor­ha­ben zum Schei­tern ver­ur­teilt ist. Es sei „not pos­si­ble“, dass jemand hier für uns anhal­ten wür­de.

Begegnungen in Indien

Wir win­ken ab, ver­su­chen das Gespräch kurz zu hal­ten, fürch­ten eine Ansamm­lung von Indern, die in Sekun­den­schnel­le wie aus dem Nichts ent­ste­hen kann (sie­he auch: die indi­sche Men­schen­men­ge). Freund­lich machen wir unser Gegen­über dar­auf auf­merk­sam, dass wir unser Vor­ha­ben trotz­dem ger­ne aus­füh­ren wür­den. Doch der fan­ta­sie­lo­se Skep­ti­ker ist strikt dage­gen, dass wir unse­ren eige­nen Wil­len durch­set­zen, stimmt die­ser doch nicht mit sei­nem eige­nen Gut­dün­ken über­ein. Der Schlau­mei­er weiß es ein­fach bes­ser.

Irgend­wann wer­den wir ner­vös, sehen wir doch schon die ers­ten neu­gie­ri­gen Inder, die sich auf der ande­ren Stra­ßen­sei­te posi­tio­nie­ren (sie­he auch: der Pir­scher oder der Star­rer). „Lis­ten“, ver­su­chen wir den nicht enden wol­len­den, bemüht geho­be­nen Rede­schwall des Schlau­mei­ers zu unter­bre­chen. Aber auch der Umstand, dass wir den gan­zen Weg aus Deutsch­land per Anhal­ter gekom­men sind, über­zeugt ihn nicht. Wie so oft hat er nicht zuge­hört oder uns nach dem ers­ten Halb­satz unter­bro­chen; ist er doch zu sehr damit beschäf­tigt selbst zu spre­chen. Er wie­der­holt sich. Wir könn­ten hier nicht ste­hen, nie­mand wer­de uns mit­neh­men.

Ob er es jemals pro­biert habe, fra­gen wir. Aber natür­lich ist der Schlau­mei­er noch nie getrampt, trotz­dem weiß er, dass unse­re Idee töricht ist. Und woher, bit­te­schön? „Becau­se I am Indi­an“ ant­wor­tet er genau­so schlicht wie über­heb­lich. Wir been­den das Gespräch, indem wir ihm deut­lich sagen, dass er jetzt ger­ne wei­ter­ge­hen kann, denn schnell kann die­se Situa­ti­on aus­ar­ten (sie­he auch: der pene­tran­te Hel­fer). Mit einem arro­gan­ten Kopf­schüt­teln und sicht­lich in sei­nem Selbst­bild gekränkt ent­fernt sich der fan­ta­sie­lo­se Skep­ti­ker schließ­lich.

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3. Der Hilfsbereite

Der Hilfs­be­rei­te gehört zur ange­nehms­ten und gleich­zei­tig auch zur facet­ten­reichs­ten Gat­tung der­je­ni­gen Inder, die uns beim Tram­pen durch Indi­en begeg­net ist.

Denn eines wol­len fast alle Inder: hel­fen. Vom 10-jäh­ri­gen Knirps über den dahin­schlen­dern­den indi­schen Opa bis zur Klein­fa­mi­lie. Ob nun Fuß­gän­ger oder Auto- und Motor­rad­fah­rer, die anhal­ten, zurück­fah­ren oder in hals­bre­che­ri­schen Manö­vern wen­den. Sie alle den­ken, uns sei etwas Schlim­mes zuge­sto­ßen, wir sei­en ver­zwei­felt und wir bräuch­ten sehr drin­gend Hil­fe.

Any Pro­blem? What hap­pen­ed? Whe­re you going? You want help?

Ein fata­ler Feh­ler wäre es nun zu erzäh­len, was wir hier wirk­lich machen. Das ruft nur wie­der den fan­ta­sie­lo­sen Skep­ti­ker oder Schlim­me­res (sie­he auch: der pene­tran­te Hel­fer) auf den Plan, wel­ches wie­der­um schnell zur gro­ßen Men­schen­an­samm­lung (sie­he auch: die indi­sche Men­schen­men­ge) füh­ren kann. Auch hier heißt es wie­der, schnell sein, lächeln und freund­lich ver­si­chern, dass es uns gut geht und wir mit kei­ner­lei Schick­sals­schlag kon­fron­tiert wor­den sind. Eini­ge Inder geben sich damit zufrie­den, wackeln freund­lich mit dem Kopf, wol­len viel­leicht noch ein Sel­fie machen und zie­hen letz­ten Endes von dan­nen. Dann haben wir Glück.

Haben wir Pech, ver­wan­delt sich der Hilfs­be­rei­te zu einer sehr anstren­gen­den Gat­tung (sie­he auch: der pene­tran­te Hel­fer).

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4. Der penetrante Helfer

Der pene­tran­te Hel­fer ist eine der gefähr­lichs­ten Gat­tun­gen der Men­schen, denen wir auf den Stra­ßen Indi­ens begeg­net sind. Wird man ihn nicht schnellst­mög­lich los, sind weit­rei­chen­de Fol­gen garan­tiert (sie­he: die indi­sche Men­schen­men­ge), bis hin zum Poli­zei­ein­satz. Der pene­tran­te Hel­fer ist zeit­gleich auch die ner­vigs­te Gat­tung Mensch, die man antref­fen kann und bringt selbst erfah­re­ne Tram­per und die ruhigs­ten Zeit­ge­nos­sen irgend­wann zur Weiß­glut. Gesprä­che mit dem pene­tran­ten Hel­fer lau­fen immer in einem ähn­li­chen Sche­ma ab. 

PENETRANTER HELFER: Whe­re you going?

WIR: Orts­na­me.

PENETRANTER HELFER: Bus­stand (gro­ße Ges­te mit dem Arm).

WIR: Oh no. We don’t go by bus.

PENETRANTER HELFER: No bus?

WIR: No bus.

PENETRANTER HELFER: You go taxi?

WIR: No, we go by lift only.

PENETRANTER HELFER: Ahhh, okay.

(PAUSE)

PENETRANTER HELFER: You need bus?

WIR: No. NO BUS!

PENETRANTER HELFER: Ahhh. Okay. No bus. No bus. No pro­blem.

(PAUSE)

PENETRANTER HELFER: You need taxi?

WIR: No. NO TAXI.

PENETRANTER HELFER: Ahhh. Okay. No taxi. No taxi.

(PAUSE)

(DER PENETRANTE HELFER HÄLT EINEN BUS)

PENETRANTE HELFER: You go bus!

WIR: No, we don’t go by bus.

PENETRANTER HELFER: YES! You go bus.

WIR: No. NO BUS!

PENETRANTER HELFER: ???

WIR: NO BUS!!!

(BUS FÄHRT WEITER)

PENETRANTER HELFER: No bus?

WIR: No. NO BUS. Lift only, okay? LIFT ONLY.

PENETRANTER HELFER: Ahhh. Okay, okay. Lift Only.

(PAUSE)

(DER PENETRANTE HELFER HÄLT EIN TAXI)

WIR: No, NO TAXI.

(TAXI FÄHRT WEITER)

WIR: NO. NO TAXI. NO TAXI. NO BUS. LIFT ONLY. OKAY? LIFT ONLY!!!

PENETRANTER HELFER (erstaunt):  Ahhh. LIFT ONLY?

WIR (hoff­nungs­voll): Yes, only lift.

(PAUSE)

PENETRANTER HELFER: You need Bus?

WIR: NO! NO BUS!!!

(DER PENETRANTE HELFER HÄLT EINE AUTORIKSCHA)

Die­ses Gespräch kann in die Unend­lich­keit wei­ter gespon­nen wer­den. Dabei wer­den immer wie­der die­sel­ben Fra­gen gestellt und unzäh­li­ge Bus­se, Taxis und Auto­rik­schas ange­hal­ten.

Ganz gleich, was man tut. Der pene­tran­te Hel­fer wird nicht auf­hö­ren zu hel­fen, bevor man ihn, manch­mal auch mit rabia­ten Mit­teln, davon­ge­scheucht hat. Meis­tens reicht es schon eine ihn wei­ter­schi­cken­de Hand­be­we­gung zu machen und in kräf­ti­gem Ton „Jol­lo, Jol­lo“ zu schnau­zen, was so viel heißt wie „Vor­wärts“ oder „Los“.

Wird man den pene­tran­ten Hel­fer nicht los, dann gerät das Rei­sen per Anhal­ter schnell in Gefahr, denn der pene­tran­te Hel­fer scheut auch nicht davor zurück in sei­ner Ver­zweif­lung die Poli­zei zu rufen, wel­ches ganz sicher zu einer kata­stro­pha­len Situa­ti­on füh­ren wird (sie­he auch: die indi­sche Men­schen­men­ge).

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5. Der Starrer

Der Star­rer ist die weit­ver­brei­tets­te Erschei­nung an indi­schen Stra­ßen. Er posi­tio­niert sich in der Regel in siche­rer Ent­fer­nung zu uns, meis­tens auf der gegen­über­lie­gen­den Stra­ßen­sei­te und starrt uns unver­hoh­len an. Dabei sucht er sich ein schat­ti­ges Plätz­chen und hat alle Zeit der Welt. Der Star­rer hat kein Pro­blem damit, meh­re­re Stun­den Lebens­zeit dem Star­ren zu wid­men, denn Zeit hat er offen­sicht­lich mehr als genug.

Der Star­rer tritt nur in Akti­on, wenn zum Bei­spiel ein Auto für uns hält, denn dann rennt der Star­rer, als gin­ge es um sein Leben, um noch vor uns das Auto zu errei­chen, um nicht ein ein­zi­ges Wort des Gespro­che­nen zu ver­pas­sen. Bei solch einer Situa­ti­on tre­ten auch Star­rer auf den Plan, die uns noch gar nicht auf­ge­fal­len sind, da sie aus einem siche­ren Ver­steck oder aus grö­ße­ren Ent­fer­nun­gen her­aus star­ren. Fährt das Auto dann wei­ter, kehrt der Star­rer in sei­ne vor­he­ri­ge Posi­ti­on zurück und tut das, was er am bes­ten kann: star­ren. In eini­gen Fäl­len mutiert der Star­rer auch zum Pir­scher oder zum Schlei­cher (sie­he auch: der Pir­scher).

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6. Der wissbegierige Starrer

Der wiss­be­gie­ri­ge Star­rer ist eine Spiel­art des Star­rers. Er spricht wenig, möch­te den­noch sei­ne Neu­gier stil­len. Dabei kommt er meis­tens auf uns zu, bis er schon fast auf unse­ren Füßen steht und deu­tet auf unser Schild. Er möch­te, dass wir ihm die­ses zum bes­se­ren Lesen ent­ge­gen­hal­ten. Igno­riert man sei­ne Andeu­tung, nimmt er einem ein­fach das Schild aus der Hand. Nach­dem er es eine Minu­te lang genau­es­tens gele­sen hat, gibt er es uns freund­lich mit dem Kopf wackelnd wie­der zurück. Ist der Wis­sens­durst des wiss­be­gie­ri­gen Star­rers in die­ser Hin­sicht gestillt, über­wiegt sei­ne Neu­gier, wie es denn nun mit uns wei­ter­gin­ge. Also steht er, typisch indisch, wei­ter­hin nur weni­ge Zen­ti­me­ter von uns ent­fernt, und beob­ach­tet still­schwei­gend das Gesche­hen. Auch der wiss­be­gie­ri­ge Star­rer hat sehr viel Zeit im Gepäck.

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7. Der Pirscher oder auch der Schleicher

Der Pir­scher, auch der Schlei­cher genannt, ist eine Wei­ter­ent­wick­lung des Star­rers. Er beob­ach­tet uns zunächst, wie auch der Star­rer (sie­he oben), von der gegen­über­lie­gen­den Stra­ßen­sei­te. Lässt man ihn aller­dings kurz aus den Augen, pirscht er sich lang­sam, Schritt für Schritt, immer näher an uns her­an. Zunächst wech­selt er die Stra­ßen­sei­te und beob­ach­tet uns aus eini­gen Dut­zend Metern Distanz. Doch die­se Ent­fer­nung ver­kürzt sich zuneh­mend, ohne dass es groß­ar­tig auf­fal­len wür­de.

Der Schlei­cher agiert dabei äus­serst geschickt. Nach spä­tes­tens 10–15 Minu­ten hat er sich bis auf einen Meter her­an­ge­schli­chen, hält sehr bald nur noch eine Arm­län­ge Abstand und starrt uns an. Starrt man zurück, blickt der Pir­scher ver­un­si­chert auf den Boden, nur um uns, sobald man den Blick abge­wen­det hat, wie­der anzu­star­ren. Manch­mal zückt der Pir­scher auch sein Han­dy und tut so, als stün­de er nur ganz zufäl­lig weni­ge Zen­ti­me­ter von uns ent­fernt. Auch der Pir­scher hat kei­ner­lei Zeit­vor­ga­ben und kei­ne wei­te­ren Ter­mi­ne an die­sem Tag.

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8. Drei Jugendliche auf dem Moped

Wären die drei Jugend­li­chen, die auf ein Moped gequetscht, in der Gegend her­um crui­sen, zu Fuß unter­wegs, gehör­ten sie in die Kate­go­rie der Pir­scher und Schlei­cher. Auf ihrem Zwei­rad bil­den sie jedoch eine eige­ne, nicht zu unter­schät­zen­de Gat­tung.

Die drei Jugend­li­chen auf dem Moped fah­ren eini­ge Male an uns vor­bei. Beim ers­ten Mal ges­ti­ku­liert einer der drei Jungs auf­ge­regt her­um und zeigt mit dem Fin­ger auf uns, um auch die ande­ren bei­den Mit­fah­rer auf uns auf­merk­sam zu machen. Dabei ent­geht das Moped knapp einem Unfall mit einer Kuh, die mit­ten auf der Stra­ße in Ruhe ihr Mit­tag­essen zum wie­der­hol­ten Male genießt. Die wei­te­ren Male, die das Moped nun im Minu­ten­takt an uns vor­bei­rollt, wird ange­strengt ver­sucht, unse­re Auf­merk­sam auf sich zu len­ken. Vor­ran­ging wird dabei gegrölt und gejohlt. Die­ser Vor­gang wie­der­holt sich in etwa zehn Mal, bis das Moped in eini­ger Ent­fer­nung zum Ste­hen kommt.

Nun wird dis­ku­tiert und geki­chert, wobei einer der drei Jungs, wohl der Schwächs­te aus der Grup­pe, immer wie­der in unse­re Rich­tung geschubst wird. Bald trot­tet er unsi­cher und gegen sei­nen Wil­len auf uns zu, nur um dann end­lich vor uns ste­hend, den Super­coo­len her­aus­hän­gen zu las­sen. Betont läs­sig rotzt er uns dann ein „Whe­re [sic!] is going on, bro?“ ent­ge­gen, bevor er end­lich klein­laut mit der Spra­che her­aus­rückt. Er und sei­ne Freun­de hät­ten doch ger­ne ein Sel­fie mit uns.

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9. Die Kuh

Indi­en ist nicht nur vol­ler Inder. Auf den Stra­ßen begeg­nen wir auch einer Viel­zahl ver­schie­dens­ter Tier­ar­ten. Sei es die Kuh, die extra von dort, wo die Stra­ße am Hori­zont endet, zu uns her trot­tet, nur um direkt neben unse­re Ruck­sä­cke zu kacken, und dann gemüt­lich wie­der den gan­zen Weg zurück wackelt. Sei­en es Affen, die unse­ren Pro­vi­ant klau­en, Hun­de, die gestrei­chelt wer­den wol­len, Schwei­ne, die um unser Gepäck her­um grun­zen, Hüh­ner, die hek­tisch über uns hin­weg flat­tern, her­ren­lo­se Zie­gen- oder Schafs­ka­ra­va­nen, die schie­lend an uns vor­bei­zie­hen oder Was­ser­büf­fel, Ele­fan­ten und Kame­le, die gemäch­lich der Stra­ße fol­gen. Kei­ner von ihnen möch­te uns mit­neh­men.

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10. Die Laufkundschaft

Die Lauf­kund­schaft kreuzt unse­ren Weg, ist aber aus unter­schied­li­chen Grün­den nicht in der Lage anzu­hal­ten und sich zum Star­rer oder Pir­scher zu ent­wi­ckeln.

Ob es nun die 80 Per­so­nen sind, die im klapp­ri­gen Bus an uns vor­bei­fah­ren oder die klei­ne Auto­rik­scha, die gera­de 10 Kin­der aus der Schu­le abge­holt hat. Sie alle freu­en sich uns zu sehen und win­ken wie ver­rückt. Wir win­ken zurück. Aus zahl­rei­chen vor­bei­fah­ren­den Fahr­zeu­gen sehen wir her­aus­ge­hal­te­ne Smart­phones, die gera­de ein Film­chen von uns dre­hen oder Fotos schie­ßen und die bei Miss­lin­gen ger­ne bereit sind, ein oder zwei wei­te­re Male an uns vor­bei­zu­fah­ren. Autos wen­den, nur um noch­mals im Schritt­tem­po an uns vor­bei­zu­rol­len und uns bes­ser begut­ach­ten zu kön­nen. An ein­sa­men Stra­ßen wer­fen uns LKW-Fah­rer Keks­pa­ke­te in die Arme oder hupen uns zur Begrü­ßung in die ewi­ge Schwer­hö­rig­keit. Immer wie­der schallt aus den vor­bei­fah­ren­den Autos eupho­ri­sches, auf­ge­dreh­tes „Hiiiiiiiiiii“ und „Hel­looooooooooooooo“, zu uns her­über. Immer wie­der strah­len uns Gesich­ter an.

Voll besetz­te Autos kom­men direkt vor unse­rer Nase zum Ste­hen, wäh­rend uns Fah­rer und Bei­fah­rer in aller Ruhe 2–3 Minu­ten anstar­ren, bevor sie wort­los wei­ter­fah­ren. Fahr­rad­fah­rer, Motor­rad- und Moped­fah­rer sowie Fuß­gän­ger hal­ten in der Regel zwei bis drei Meter hin­ter uns und bli­cken neu­gie­rig zurück, bis ihnen lang­wei­lig wird oder wir böse, aus Angst vor der indi­schen Men­schen­men­ge, zurück­star­ren. Es gibt wirk­lich kaum jeman­den, der ohne uns zu beach­ten an uns vor­bei­zieht.

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11. Die indische Menschenmenge oder auch die völlige Eskalation

Die indi­sche Men­schen­men­ge ent­steht schnell und kann inner­halb weni­ger Sekun­den zu einer Grup­pe von meh­re­ren Dut­zend Per­so­nen her­an­wach­sen. Der Grund dafür ist ein­fach erklärt.

Sind wir mit einem belie­bi­gen Inder im Gespräch, sei es mit dem Hilfs­be­rei­ten, dem pene­tran­ten Hel­fer, dem wiss­be­gie­ri­gen Star­rer oder den drei Jugend­li­chen auf dem Moped, wird jeder Inder, der in die­ser Zeit die Stra­ße ent­lang­läuft, ste­hen blei­ben, um her­aus­zu­fin­den, was gera­de los ist und wor­über gespro­chen wird. Man kann es nicht genug beto­nen. JEDER Inder. IMMER.

Auch Inder, die im Nor­mal­fall an uns vor­bei­ge­lau­fen wären, blei­ben nun, nur weni­ge Zen­ti­me­ter von uns ent­fernt ste­hen und beob­ach­ten die Lage.

Das lockt auch alle ver­steck­ten und nicht-ver­steck­ten Star­rer und die Pir­scher und Schlei­cher an, die sich uns nun im Deck­man­tel der Men­ge ohne jeg­li­che Scheu nähern. Ähn­li­ches geschieht auch, wenn ein Auto hält. Dann kom­men die Star­rer und Pir­scher ange­rannt und die vor­bei­ge­hen­de Lauf­kund­schaft setz ihren Weg ein­fach nicht fort. Die Neu­gier­de gewinnt Über­hand.

Beim Tram­pen in Indi­en muss es also schnell gehen. Unnö­tig lan­ge Gesprä­che wer­den zwangs­läu­fig zu einer gro­ßen indi­schen Men­schen­men­ge füh­ren.

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Aber auch die ein­zel­nen Fahrrad‑, Motorrad‑, oder Moped­fah­rer, die weni­ge Meter hin­ter uns zum Ste­hen kom­men, wer­den schnell zum Anlass einer gro­ßen Ansamm­lung. Unwei­ger­lich hal­ten dann wei­te­re Zwei­rad­fah­rer an und tau­schen sich mit den bereits hal­ten­den Fah­rern über uns aus. Ihr Ziel ist es, schnell auf den aktu­ells­ten Stand der Gescheh­nis­se gebracht zu wer­den. Durch eine zusam­men­fas­sen­de Erklä­rung hof­fen sie in kür­zes­ter Zeit mög­lichst viel über uns zu erfah­ren.

Ist man mit einem Inder im Gespräch und kann die­ses nicht schnell been­den (sie­he: der pene­tran­te Hel­fer), wird die indi­sche Men­schen­men­ge wach­sen und wach­sen. Fotos wer­den geschos­sen, Vide­os gedreht. Jeder Inder, der ein wenig Eng­lisch spricht, wird sich dann in das Gespräch mischen, was das Inter­es­se aller ande­ren noch ver­stärkt. Folg­lich wer­den die Ohren aller Betei­lig­ten spit­zer und sie nähern sich noch wei­ter, um bes­ser hören zu kön­nen (auf­grund des extre­men Lärm­pe­gels im All­tag, her­vor­ge­ru­fen durch den Ver­kehr und extra laut kon­stru­ier­ten Hupen, hören die meis­ten Inder sehr schlecht).

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Umringt von der indi­schen Men­schen­men­ge sind wir für die vor­bei­fah­ren­den Autos unsicht­bar. Im schlimms­ten Fall sorgt die Men­schen­men­ge für das Auf­tau­chen der Poli­zei. Sobald die Poli­zei ein­trifft, kommt das gan­ze Dorf, der gan­ze Stadt­teil, die gan­ze Stadt zusam­men und jeder Fuß­gän­ger, jeder Zwei­rad­fah­rer und vie­le vor­bei­fah­ren­de Autos unter­bre­chen ihren Weg und möch­ten unbe­dingt wis­sen, was da gera­de los ist.

Men­schen, die zu weit ent­fernt vom Gesche­hen sind, set­zen ihre Ellen­bo­gen ein, um näher zu kom­men. Die Situa­ti­on eska­liert. Die Poli­zei ver­steht abso­lut gar nichts, spricht auch (wenn über­haupt) nur weni­ge Wor­te Eng­lisch und macht die Sache nur noch schlim­mer.

In die­sem Moment sehen wir uns zur Flucht gezwun­gen. Ein paar hun­dert Meter rei­chen meis­tens, um der gro­ßen Mas­se zu ent­ge­hen. Außer ein paar Star­rern folgt uns zum Glück nie­mand. Die Star­rer posi­tio­nie­ren sich als­bald wie­der auf der gegen­über­lie­gen­den Stra­ßen­sei­te. Aber die fal­len uns kaum noch auf. Wir sind Schlim­me­res gewohnt.

Begegnungen in Indien

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Trampen in Indien

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Antworten

  1. Avatar von Florian Blümm

    Groß­ar­tig! Fehlt noch: Der Ricksha/​Taxifahrer, oder hal­ten die nicht?

    Dan­ke fürs Vor­rei­ter sein, auch wenns manch­mal hart ist 😉

    1. Avatar von Morten und Rochssare
      Morten und Rochssare

      Doch, doch; die Rik­scha­fah­rer hal­ten auch, aber das machen sie ja in jedem Land – und hart­nä­ckig sind sie auch über­all. Die Berufs­grup­pe Taxi­fah­rer ist mit ihren Eigen­hei­ten ver­mut­lich nicht indien­spe­zi­fisch genug, um hier gelis­tet zu wer­den. 😉

  2. Avatar von Guido
    Guido

    Die kacken­de Kuh hat ein­deu­tig den höchs­ten Sym­pa­thie-Score.
    I break tog­e­ther. 😉

    1. Avatar von Morten und Rochssare
      Morten und Rochssare

      Tja, lus­ti­ge Tie­re sind immer sehr beliebt. 😉
      Tat­säch­lich ist uns die Kuh auch sehr sym­pa­thisch!

  3. Avatar von Sebastian

    Der Ham­mer, ich habe beim Lesen des Arti­kels Trä­nen gelacht!
    Auch wenn es manch­mal stark an die Ner­ven gehen kann, man muss Asi­en und sei­ne Bewoh­ner ein­fach lie­ben – nicht zuletzt dafür dass sie ein­fach so unglaub­lich anders ticken als wir.

    1. Avatar von Morten und Rochssare
      Morten und Rochssare

      In Indi­en ticken die Men­schen tat­säch­lich sehr anders, als wir es aus Euro­pa gewohnt sind. Lus­tig ist das alle­mal. 😉

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