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„Wenn es auf der Welt nur ein Land geben würde, dann wäre Istanbul wohl die Hauptstadt.“
Napoléon Bonaparte
Der kleine, schlaue Franzose. Er wusste offenbar, wovon er sprach. Istanbul ist weit mehr als eine Metropole, von denen es überall auf der Welt jede Menge gibt. Die Stadt vereint. Hier treffen Europa und Asien aufeinander. Hier kommen muslimische Traditionen und moderner Fortschrittsglaube zusammen. Hektik und Gelassenheit führen hier eine Koexistenz. Istanbul steckt voller Energie und voller Gegensätze.
Noch auf der Fahrt von Sofia nach Istanbul werden wir im Auto von unserer Mitfahrgelegenheit Deniz und Gilbert belehrt. Links und rechts vom Bosporus, so berichten die beiden albanischen Brüder, unterscheiden sich die Menschen offensichtlich doch grundlegend. Herrschen auf der europäischen Seite zwischen Bankgebäuden, Wirtschaftszentren und touristischen Attraktionen ein stetiges Gehetze und nie enden wollende Unruhe, so ist der asiatische Teil eher gemächlich, beinahe friedlich und entspannt. Von Hektik und Stress keine Spur. Bei etwa 15 Millionen Einwohnern können wir uns so viel Frieden und Ruhe allerdings nur schwer vorstellen. Tatsächlich ist auch das asiatische Istanbul derart überfüllt, dass unser liebgewonnenes Berlin dagegen eher dörflich erscheint.
Unser erstes Istanbul-Abenteuer nimmt dann auch auf der asiatischen Seite seinen Lauf. Ich spreche Englisch. Mein Gegenüber Türkisch. Ich suche nach einer Information. Er gibt mir eine Antwort, die ich nicht verstehe. Achselzuckend bin ich schon nach wenigen Augenblicken bereit das Gespräch zu beenden, doch habe ich nicht mit der Hartnäckigkeit meines Gegenübers gerechnet. Dieser bedeutet mir einen Moment zu warten, eilt zurück in sein Haus, holt die Schlüssel seines Autos, verfrachtet mich in selbiges und schon brausen wir durch Istanbuls Straßen. Die gemeinsame Fahrzeit überbrückt er wortreich mit Geschichten und Anekdoten, von denen ich nicht einmal eine Silbe verstehe.
Bald darauf halten wir vor einem kleinen Kiosk, mein Fahrer springt heraus, spricht mit dem Ladenbesitzer und einen Moment später halte ich eine elektronische Karte für den öffentlichen Nahverkehr der Stadt in der Hand. Aufgeladen und einsatzbreit. Schon die ersten Augenblicke in Istanbul werden uns mit der hingebungsvollen türkischen Hilfsbereitschaft versüßt.
Dann sitzen wir im Bus. Etwa eine Stunde fahren wir durch die Stadtteile Ümraniye und Üsküdar. Aus dem Fenster starrend, versuchen wir so viel wie möglich von der großen, bezaubernden Stadt aufzusaugen. Doch irgendwie kommt uns ziemlich viel ziemlich bekannt vor. Die türkischen Supermärkte mit ihren ausgelagerten Obst- und Gemüseabteilungen, die Dönerläden und Kebabbuden, die Bäcker und Süßwarenkonditoren, die älteren Frauen mit Kopftüchern und langen Gewändern. Dazu die türkischen Großväter mit grauen, buschigen Schnurrbärten, dunklen Jacketts und Schiebermützen. In großen und kleinen Runden sitzen sie zusammen, rauchend und einen Çay nach dem anderen trinkend.
Das alles sieht aus wie in unserer alten Nachbarschaft in Berlin-Neukölln. Während wir damals in unserer Einzimmerwohnung in der Leinestraße oft über Klein-Istanbul philosophierten, so sprechen wir nun plötzlich über Istanbul als Groß-Neukölln.
Am Ufer des Bosporus passieren wir ein paar herrschaftliche Villen. Reichtum und Eleganz sind von hohen Mauern und massiven Toren verdeckt. Lediglich vom Bosporus lassen sich die Villen und eindrucksvollen Privatgrundstücke bestaunen.
Dann erreichen wir endlich den Fähranleger von Üsküdar. Den Blick auf Europa gerichtet, frühstücken wir zwischen den Anglern am Kai. Döner und Ayran zu Sonnenschein und einem fantastischen Blick über den Bosporus. Aus den Lautsprecherboxen der nahen Yeni Valide Moschee erklingt der Gesang des Muezzins, der von Moschee zu Moschee weiter getragen wird. Vor etwa 200 Jahren war Üsküdar der Stadtteil Istanbuls, der Mekka am nächsten lag, was viele osmanische Würdenträger dazu antrieb, hier ihre ganz persönlichen Gotteshäuser zu errichten.
Wir schlendern weiter durch Üsküdars Straßen und Gassen und treffen bald auf einen kleinen Wochenmarkt. Gemüse wird in großen Mengen angeboten. Dazu Obst, Nüsse und Trockenfrüchte. Lose Bonbons türmen sich zu Hunderten übereinander. Aus dem Bosporus gelangt frischer Fisch in die Auslage. Daneben liegen Berge von Oliven und Weinblättern. Im Regal dahinter stehen Einweckgläser mit sauer eingelegtem Gemüse.
Der kleine Markt ist nicht besonders überlaufen und wir spazieren in einer angenehm ruhigen Atmosphäre durch die Gassen. Niemand überfällt uns mit übereifrigen Verkaufsgesprächen. Stattdessen grüßen wir mit unseren wenigen türkischen Brocken, die wir uns bisher aneignen konnten und bekommen von überall ein freundliches Lächeln als Antwort.
Wir genehmigen uns einen frisch gepressten Granatapfelsaft und setzen uns auf einen kleinen Platz in der unmittelbaren Nähe des Marktes. Dutzende türkische Opas verfolgen bereits den gleichen Plan. Ausgestattet mit Zeitungen, Çay und Zigaretten verbringen sie hier den Vormittag. Einige von ihnen beäugen uns interessiert und wir schauen ebenso neugierig zurück.
Von Üsküdar setzen wir unseren Weg ins benachbarte Kadiköy fort. Von der eher konservativen Nachbarschaft geraten wir nun mitten in Istanbuls Kreuzberg. Tatsächlich präsentiert sich Kadiköy wesentlich hipper, wesentlich westlicher als Üsküdar. Hier tragen die wenigsten Frauen ein Kopftuch, dafür gibt es Pubs und Tätowierer – zwei Dinge, die man im Ümraniye oder Üsküdar wohl nur mit viel Mühe finden würde. Auch in Kadiköy gelangen wir eher zufällig in die Gassen des Marktes, der jedoch wesentlich größer ist als sein Pendant in Üsküdar.
Wieder stehen wir zwischen Unmengen an frischem Obst und Gemüse. Neben den für uns üblichen Verdächtigen Kohl, Weintrauben und Erdbeeren liegen Feigen, Granatäpfel und Zuckermelonen. Daneben glotzen einige Fische ausdruckslos in die Luft. Vom kürzlich vorhandenen Leben zeugen nur noch die ausgeklappten, tief roten Kiemen. Grüne, schwarze und rote Oliven werden Kiloweise verkauft, Weinblätter zu Paketen verschnürt. Türkische Süßigkeiten wie Baklava, Lokum und Halva gibt es im Sonderangebot. Unsere besondere Aufmerksamkeit weckt jedoch der Fleischer, in dessen Kühltheke ganze Schafsköpfe, enthäutet und in Frischhaltefolie verpackt, auf ihre Käufer warten. Für die Eiligen gibt es die Delikatesse auch bereits fertig zubereitet.
Uns knurrt der Magen. Allerdings entscheiden wir uns gegen einen Schafskopf und probieren es mit Lahmacun. Die „türkische Pizza“ bekommen wir zusammen mit zwei Plastikdosen gereicht. In der einen befinden sich gut zwei Dutzend Zitronenstücke und die andere ist bis zum Rand gefüllt mit frischem Koriander. Wir machen es den Einheimischen um uns herum nach, drücken die Zitronenstücke über unserem Lahmacun aus, verteilen reichlich Koriander darauf, rollen den Teig zusammen und sind freudige Besitzer eines delikaten Mittagssnacks. Der erste Biss versetzt mich bereits in Staunen. Ich bin immer wieder verblüfft, wie gut frischer Koriander schmeckt und zugleich entsetzt darüber, wie viele Jahre ich in meinem Leben ohne dieses Kraut vergeudet habe.
Wir schlendern weiter durch die Gassen Kadiköys und treffen tatsächlich die ersten ausländischen Touristen im asiatischen Istanbul. Sie kaufen Souvenirs, trinken Çay in durchgestylten Cafés und entdecken einen Teil der Stadt, den ihre Reiseführer vor allem mit dem Begriff »Authentizität« anpreisen. Das asiatische Istanbul gilt noch immer als Geheimtipp. Hier, so heißt es, können Reisende das wirkliche, ungetrübte Istanbul erleben. Aber es ist wie so oft. Sobald ein Geheimtipp den Weg in einen Reiseführer findet, bleibt von der Qualität dieses Tipps meist nicht mehr viel übrig. So ergeht es auch Kadiköy, das mit seinen Restaurants, Bars und Cafés, mit seiner jugendlichen Atmosphäre und der eigenen unbefangenen Offenheit auf dem Weg ist, eine der beliebtesten Sehenswürdigkeit Istanbuls zu werden. Geheim ist hier schon lange nichts mehr.
Doch Kadiköy ist nicht nur modern, es ist auch oppositionell. Die regierende AKP geht hier bei Wahlen immer wieder leer aus und muss sich stattdessen mit unliebsamen Demonstrationen auseinander setzen. Die Lösung heißt oft Polizeigewalt. Auch uns weht noch ein Rest von Tränengas um die Nase, das uns den Ausgang der kürzlich begonnenen Protestbewegung für die syrische Grenzstadt Kobane erahnen lässt.
Doch die schmalen Straßen sind noch immer voller Menschen. Nur die wenigsten stören sich am Reiz in den Augen. Der Alltag geht weiter. Auf dem Markt und in den abzweigenden Gassen herrscht wie immer ein dichtes Gedränge. Wir laufen an vielen kleinen Geschäften und Lokalen vorbei und treffen uns inmitten dieses Getümmels mit unserem Gastgeber Osman.
Gemeinsam sind wir zum Abendessen verabredet, doch zunächst führt uns unser Freund ein paar Mal nach links und rechts, bis wir vor einem kleinen Café halt machen. Hier, so berichtet Osman, gäbe es den besten türkischen Kaffee in ganz Istanbul. Ein Lokal mit Tradition, war es doch das erste in der Gegend, das sich ganz auf den Genuss des Heißgetränks spezialisierte.
Es dauert auch nicht lange und drei kleine Tassen Kaffee stehen vor uns. Tatsächlich weckt der Mokka unsere ermüdeten Lebensgeister. Mit geschärften Sinnen beobachten wir unsere Umgebung und nehmen schnell eine gewisse Eigenartigkeit wahr, die sich an den anderen Tischen des Cafés ereignet. Beinahe sämtliche Kaffeetassen stehen umgedreht auf ihren Untertassen. Als wir Osman darauf aufmerksam machen, zieht sich ein breites Grinsen über sein Gesicht. Wir beobachten gerade das vielleicht größte türkische Freizeitvergnügen: Lesen im Kaffeesatz. Begeistert wagen auch wir einen Blick in unsere vermeintliche Zukunft, stülpen die Tassen auf ihre Unterteller und erkunden wenig später das Chaos, das der Kaffeesatz in ihrem Inneren angerichtet hat.
Unsere Zukunft ist düster. Vielleicht ein bisschen wild. Möglichweise ungeordnet. So genau ist das nicht zu erkennen. Doch ich fühle, dass ich dem Kaffeesatz erst einmal näher kommen muss. Bei eingehender Betrachtung glaube ich tatsächlich eine Muräne zu erkennen, auch ein umgedrehter Totenkopf wird sichtbar. Ganz klar: Dieser Kaffeesatz spricht nicht über meine Zukunft, sondern über das gestrige Abendessen und Osmans leckeres Fischgericht.
Wir lassen den Geist der Vergangenheit im Café zurück und wenden uns der Gegenwart zu, die nun im Wesentlichen vom Hunger beeinflusst wird. Zusammen betreten wir ein Kebab-Restaurant und ordern mit Şiş-Kebab die Spezialität des Hauses. Auf langen Spießen wird uns gegrilltes Lammfleisch serviert. Dazu gibt es Zwiebeln, scharfe Paprika, Rotkohl, Zitronen, Minze, Tomatenchutney, gegrillte Paprika und Tomaten. Das alles wickeln wir je nach Laune und Geschmack in papierdünnes Fladenbrot und lassen uns den Kebab schmecken. So langsam schwant mir, dass türkisches Essen auf meiner kulinarischen Prioritätenliste einen gewaltigen Sprung nach oben machen wird.
Vollgefuttert spazieren wir wieder hinaus auf die Straßen Kadiköys. Die Sonne ist mittlerweile hinter dem Horizont verschwunden und eine leichte Brise weht vom Ufer hinauf in die Stadt. Wir lassen uns ein paar Biere in einer Bar schmecken, die damit wirbt 80 verschiedenen Sorten im Angebot zu haben, aber just in diesem Moment kein Efes, das türkischste aller Biere, ausschenken kann.
Den Abend lassen wir mit etwas Live-Musik ausklingen. Doch was da auf der kleinen Bühne zehn Meter vor uns im Kellergewölbe eines Clubs passiert, ist nicht gerade das, womit wir gerechnet haben. Unsere Ohren kommen in den Genuss brachialen Heavy Metals. Die Jungs an den Instrumenten wirbeln ihr Haupthaar wuchtig durch die Luft und schmettern dem kleinen, aber enthusiastischen Publikum rohe Lyrik entgegen. Osman ist das alles zu viel. Er flieht bereits nach wenigen Liedern ins Freie und auch wir folgenden ihm bald mit dröhnendem Kopf. Crimeson Hill, so der Name der Band, sollte man sich wohl merken, vorausgesetzt es geht darum, überschüssige Energien loszuwerden.
Crimeson Hill im Club Shaft in Kadiköy
Es ist bereits recht spät, als wir wieder auf Kadiköys Straßen stehen und zum Ufer des Bosporus hinunter schlendern. Osman, noch immer körperlich angeschlagen vom Auftritt der Band, braucht offensichtlich Beruhigung. So sitzen wir dann kurz vor Mitternacht in einem der vielen kleinen Cafés, schlürfen Çay und erholen uns ganz allmählich vom Dröhnen in unseren Ohren.
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Antworten
Hach, nachdem ich diesen Bericht gelesen habe, kommen wieder lauter tolle Erinnerungen an meine fünf Monate Kadiköy hoch.
…vor allem das Lahmacun ist ein Gedicht! Ich hoffe, ihr hattet auch genug Zeit um mal İskender und den dort angebotenen Fisch zu probieren?
Grüße
ChristianHallo Christian,
für den Fisch hat es leider nicht gereicht, aber Iskender Kebab haben wir uns ein paar Mal schmecken lassen.
Fünf Monate in Kadiköy – das war bestimmt eine schöne und aufregende Zeit.
Toller Bericht über den asiatischen Part dieser absolut sehenswerten, beeindruckenden, schönen, morbiden, modernen uralten Stadt. Ich bin von Istanbul fasziniert und kann sagen das ich schon einige Städte auf der Welt gesehen habe, keine reicht an Istanbul ran.
Wahre Worte, lieber Siegmar. Istanbul ist unvergleichbar. Die Stadt ist ein Schmelztiegel aller möglichen Gegensätze. Wer diesem Zauber einmal erlegen ist, kommt nicht mehr davon los.
Ich liebe Istanbul! Und euren Artikel. Die Fotos geben leider nur einen Bruchteil des total verrückten Istanbuls wider…man muss einfach dagewesen sein. Ihr spiegelt die Metropole, aber schon fantastisch wider. Mehr davon, bitte!
Vielen Dank, liebe Sonja. Mehr zu Istanbul und der Türkei gibt es auf unserem Blog http://nuestra-america.de.
Toller Bericht 🙂 Würde am liebsten sofort die nächste Maschine nach Istanbul nehmen!
Vielen Dank, Aylin. Istanbul ist immer eine Reise wert. Schnapp dir deinen Koffer und ab dafür.
Uups, die Autokorrektur machte aus »Fernwehkranken« »Fernsehkranke«. Wie phantasielos!
Ja ja, die Autokorrektur. 🙂
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