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Tag 4: Zams Venet Gipfelhütte – Braunschweiger Hütte
[17km|↟1325m|↡1513| Gehzeit: 8:15 Std.]
Ich bin angekommen auf der Tour. Mehr als das. Ich stecke mittendrin. Irgendwann muss es ganz normal geworden sein, morgens die Schuhe fest zuzuschnüren und einfach loszulaufen.
Doch an diesem Morgen ist das anders, meine Motivation gedämpft. Weil es draußen unwirtlich nieselt und, ich geb’s zu, es hier richtigen Espresso gibt.
Aber es hilft ja nichts. Man muss immer. Also durchlaufe ich eine dieser vielen Routinen, die sich während so einer Alpenüberquerung einfach automatisieren: Alles regendicht verpacken, Gamaschen anlegen, mein nächstes Ziel ins Hüttenbuch eintragen und, jawohl, loslaufen.
Motivationsloch an der Glanderspitze
Inmitten einer trüben Wolke suche ich meinen Weg hinauf zur Glanderspitze (2512m). Es ist ohnehin erstaunlich, wie schnell die Wolken über den Grat ziehen. Die Sicht kann sich dadurch binnen Sekunden massiv einschränken. An der Spitze stehe ich dann mit ein paar Hartgesottenen ums Gipfelkreuz. Fotos werden gemacht. Also diese Art von Foto, wo eigentlich nichts drauf ist, außer man selbst vor grauem Hintergrund. Aber man macht’s halt trotzdem, um den Anlass zu würdigen. Einer reicht einen Flachmann herum. Gipfelschnapps im Nieselregen.
Mein Abstieg nach Wenns verläuft sachlich und ohne nennenswerte Zwischenfälle. Obwohl. Bei einer heißen Zitrone in der Larcheralm, mache ich eine besondere Bekanntschaft: Der erste Mensch, der, wie ich, die Alpenüberquerung alleine macht. In Südtirol soll für ihn jedoch nicht Schluss sein. Er will weiter. Wahrscheinlich über Bozen bis Venedig, vielleicht geht er auch woanders hin. Lautes Denken: »Was soll ich denn allein in Venedig in der Gondel?«
In Wenns bin ich der letzte in einer langen Schlange nasser Wanderer, die alle den gleichen Linienbus besteigen. Meine Freunde aus Nürnberg sind auch da. Einige schlafen, andere sitzen müde da, während wir uns durch das graue, nasse Tal schlängeln. Die Tour steckt allen in den Knochen. Zaghaft erhebt sich die Menge von ihren Sitzen, als wir auf einer freien Fläche in Mittelberg anhalten. Drinnen der warme Sitz, draußen peitscht inzwischen der Regen. Hier geht keiner gerne von Bord. Der Busfahrer erinnert uns: »Ihr müsst jetzt raus, ihr macht das doch freiwillig.«
Aufstieg zur Braunschweiger Hütte (2759m)
Es ist die höchste Hütte auf meiner Alpenüberquerung und der Aufstieg dorthin wieder mehr als knackig. Ich schicke mich an, über 1000 Höhenmeter zu überwinden, und das über eine dafür eher kurze Distanz. Soll heißen: es wird mal wieder steil. Kein Schritt gleicht dem anderen in dem felsigen Gelände. Ich verwende Metallstufen, Seile und Handgriffe, die in die Felsen eingelassen sind und lerne so, was mir meine Broschüre sagen wollte, als es hieß es ginge über einen »versicherten Weg«.
Für solche Passagen war ich gekommen: wollte ich nicht gefordert werden? Ich bewege mich nicht wirklich an meiner Belastungsgrenze, aber bin schon am Arbeiten. Dieses »ich kann nicht mehr« schießt immer wieder in den Kopf. Erstaunlich ist, wie lange es dann doch immer noch geht. Dass es diesen Punkt jenseits der Schmerzgrenze gibt, an dem man scheinbar ungeahnte Kräfte findet. Doch das theoretische Wissen darüber reicht nicht, finde ich. Man muss sich das immer wieder ganz explizit selbst beweisen, um diese mächtige Message wirklich zu begreifen. Dieser Abschnitt zieht sich über 3 Stunden, bevor die einsame Berghütte sichtbar wird.
Der Abend zieht auf und ich warte vergeblich auf die Ankunft der Jungs aus Nürnberg. Sie kommen nicht an. Ich spreche mit Bergführern, da ich tatsächlich etwas besorgt bin. Wir sind uns allerdings schnell einig, dass nichts passiert sein kann: Selbst wenn einem aus der Gruppe etwas zustößt, wäre ein anderer hier hoch gekommen um Alarm zu schlagen. (Chris, melde dich trotzdem mal, falls du das hier liest!).
Im Bettenlager treffe ich auf drei Lehrer aus Bayern. Es war eine Projektarbeit ihrer Schüler, diese Alpenüberquerung zu organisieren. Die Lehrer bloggen Fotos direkt von der Tour für die Eltern, einer schleppt eine Gitarre durchs Gebirge – beeindruckend, dieses Engagement.
Tag 5: Braunschweiger Hütte – Martin-Busch Hütte
[20km|↟960m|↡1320m| Gehzeit: 8 Std.]
Die vorletzte Etappe der Alpenüberquerung – zur Abwechslung mal kein Text, sondern ein Video.
Noch kurz vorweg: im ersten Abschnitt, werde ich mit einem Gefühl konfrontiert, das auf dieser Tour neu für mich ist: Angst. Beim Abstieg vom Pitztaler Jöchl pfeift mir der Wind um die Ohren. Vor allem aber ist die Sicht schlecht und kein Weg erkennbar. Ich klettere entlang eines steilen Grats über die nassen, glitschigen Steine – ein falscher Tritt und mit mir wäre es schnell bergab gegangen.
Tag 6: Von der Martin-Busch-Hütte nach Meran
[10km|↟500m|↡1312m| Gehzeit: 5 Std.]
Alles ist angerichtet: die Sonne weist mir den Weg nach Italien, als ich aus der Hütte gehe. Ich strotze vor Energie, als wäre dies mein erster Tag dieser Fernwanderung. Das Adrenalin pumpt mir bis in den Hals hoch. Jetzt will ich es schaffen. Und ich werde es schaffen. Ich fege über diese letzte Etappe hinweg, als verfolgte mich ein Schwarm wilder Hornissen. Aus irgendeinem Grund habe ich es heute eilig: ich will den Deckel draufmachen, auf diese Wahnsinnstour.
Meine erste Zwischenstation ist die Similiaunhütte, in der Nähe der Fundstelle des legendären Ötzi. Es ist gerade mal kurz nach 8 als ich hier vorbeikomme, eine Mitarbeiterin fegt noch die Terrasse. Einen Tee bekomme ich trotzdem schon. Ich unterhalte mich mit einer Frau, die gerade von einer Bergführerin instruiert wurde. Vor 30 Jahren kam ihr Vater am Similaun, diesem 3599 Meter hohen, eisbedeckten Gletscher, ums Leben. Heute möchte sie seinen letzten Weg nachgehen.
Die Similaunhütte markiert, so kurz vor dem Ziel, auch den höchsten Punkt meiner Alpenüberquerung (3019m). Die Symbolik liegt auf der Hand: ich bin obenauf. Was soll mich noch aufhalten, wenn ich diese Tour überstehe? Es klingt lapidar, vielleicht fast ein bisschen billig, diese kitschigen Metaphern zu bemühen. Aber ich bin überzeugt, dass zumindest unbewusst dieser Effekt eintritt.
Sobald ich ein paar Meter hinabgestiegen bin, leuchtet er türkis auf: der Stausee von Vernagt. Ein Endpunkt für mich, denn von dort aus werde ich mit dem Bus nach Meran fahren. So schnell wie meine Knie es noch erlauben, gehe ich auf ihn zu. Ich bin nun fast unbemerkt in Italien angekommen und nehme das erst bewusst war, als entgegenkommende Wanderer nicht mehr nur Servus und Grüß Gott sagen, sondern auch Ciao.
Fast Forward nach Meran: die 40 Minuten vom Busbahnhof zum Hotel laufe ich, als wäre es nichts. Die Bewegung ist mein Normalzustand geworden, seit einer Woche mache von morgens bis abends nichts anderes.
Nur das sich mein Setting hier drastisch ändert: der Weg führt direkt durch die beschauliche Innenstadt. Familien flanieren, essen Eis und shoppen. Ich fühle mich wie aus einer anderen Welt und dennoch seltsam überlegen, in den schlammigen, schweren Wanderstiefeln. Als hätte ich es besser angestellt, als jene, deren Sommerurlaub hier so monoton dahin plätschert wie die Passer durch das Tal. Meine 6 Wandertage komprimieren die Intensität von mehreren Sommerurlauben, so kommt es mir vor. Als hätte ich eine Heldenreise wie im Roman durchlaufen.
Es gibt keinen besseren Endpunkt für diese Tour als Meran in Südtirol. Inmitten mediterraner Gelassenheit kann der getriebene Wanderer zur Ruhe kommen. Im Idealfall bei einer Pizza im schattigen Garten eines typischen Südtiroler Gasthauses. Hier wollen alle hin an diesem Sommerabend. Als ich ankomme, sind alle Tische besetzt, die Kellner rasen umher, vor mir werden schon die ersten Menschen abgewiesen: ohne Reservierung geht heute nichts.
Ich stelle mich trotzdem vor: Ich bin in Deutschland losgelaufen, über Österreichs Berge nach Italien. Und nun wäre nichts erfüllender, als wenn meine Tour hier, bei einer Pizza unter diesen Laubbäumen zu einem angemessenen Ende kommt. Es wird konspirativ gemurmelt, kurz darauf sitze ich mit einer Pizza so groß wie ein Wagenrad im Garten. Jetzt klappt alles.
Ich fahre runter. Es ist tatsächlich vorbei. Unterbewusst steigt ein enormer Stolz darüber auf, wie souverän ich alles gemeistert habe, welches Zutrauen ich in das eigene Wirken legen darf. Die ganze Tour hatte ich kein Wort aufgeschrieben, jetzt krame ich zum ersten Mal mein leeres Notizbuch aus dem Rucksack. Als ich anfangen will zu schreiben, merke ich, dass ich meinen Stift vergessen habe. Auch nicht schlimm, an diesem Abend genügt das Sitzen als einzige Tätigkeit vollkommen.
Ich habe die Alpenüberquerung in Zusammenarbeit mit ASI-Reisen gemacht. Dabei wurde ich ihm Vorfeld bestens beraten und bei der Planung und Durchführung unterstützt. Alle Mitarbeiter waren extrem nett und hilfreich. Vielen Dank dafür und liebe Grüße!
Antwort
Italien ist auf jede fall immer wieder ein Besuch wert. Ich habe zuletzt Urlaub in Obermais gemacht und möchte auf jeden fall wieder hin. https://www.bavaria.it/de
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