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Argentinien, Mai 2006.
Doch genau in diesen Momenten – und das ist mir immer wieder passiert – ist dann oft unerwartet jemand da, der die Situation ein bisschen erträglicher macht. Als ich neun Monate zuvor in die Stadt komme, lerne ich einen jungen Mann kennen. An diesem Tag bin ich in einem Internet-Café, um meinen Eltern und Geschwister von den ersten aufregenden Tagen meines neuen Lebens zu erzählen. Neben mir sitzt dieser junge Mann, dem ich nicht wirklich Aufmerksamkeit schenke. Zu beschäftigt bin ich damit, meine Erlebnisse in die Tastatur zu klopfen. Dann schicke ich die E-Mail ab, stehe auf und zahle die Minuten, die ich im Internet verbracht habe.
Der junge Mann muss meine sprachliche Hilflosigkeit beim Bezahlen mitbekommen haben, denn als ich das Café gerade verlassen will, steht er plötzlich neben mir und fragt mich, woher ich käme. Ich sage es ihm, frage, woher er käme. In gebrochenem Deutsch antwortet er: “Ich bin Argentinier.” Er erzählt mir, dass er am Flughafen arbeitet und Deutsch lernen will und gerne jemanden hätte, mit dem er üben kann. So weit kommt es nie, zu unterschiedlich sind unsere Arbeitszeiten, wir finden selten einen Termin, an dem ich ihm mit seinem Deutsch helfen kann. Doch immer wieder treffen wir uns im Internet-Café, er wird Teil meiner E-Mail-Schreib-Sessions. Wir führen Small Talk, später auch intensivere Gespräche. In einer Zeit, als ich mit meiner Arbeit zu kämpfen habe und überlege, alles hinzuschmeißen, ist er neben meiner Spanischlehrerin die Person, der ich davon erzähle.
Die Wochen vor meiner Heimreise ist auch er es, der mein Gefühlschaos mitbekommt und zu verstehen versucht. Er gibt mir ein Versprechen, das mir die Tränen in die Augen treibt: Er würde der letzte Mensch sein, der sich von mir verabschiedet, er würde in der Abflughalle da sein. So wirklich glauben will ich es nicht, verrate ihm aber, wann ich welchen Flieger besteigen werde.
Am Abend vor meiner Reise verabschiede ich mich von all meinen Freunden. Den Tag meines Abflugs verbringe ich mit der Familie, um deren Kinder ich mich monatelang gekümmert habe. Und dann kommt dieser Moment, an dem ich mich von ihnen verabschiede, mich schweren Herzens zur Sicherheitskontrolle begebe und dann plötzlich alleine in der Abflughalle stehe, mir und meinen Gedanken komplett selbst überlassen. Es ist keiner mehr da, der mich ablenken könnte. Ich zähle die Stunden bis zum Boarding, schleiche durch die langen Gänge des Duty Free. Und dann, kurz vor Abflug, gehe ich zum Gate. Ich bin nervös, weit und breit ist der junge Mann nicht zu sehen. In wenigen Minuten steige ich in den Flieger und womöglich hält er sein Versprechen nicht. Wir werden zum Boarding aufgerufen. Ich habe die Angewohnheit, als eine der letzten ins Flugzeug zu steigen. Auch dieses Mal, vielleicht auch deshalb, weil ich immer noch die Hoffnung habe, dass der Freund doch kommt und sich von mir verabschiedet.
Dann der letzte Aufruf zum Boarding. Ich stehe enttäuscht auf und stelle mich in die kurze Schlange vor dem Gate, die langsam aber beständig vorrückt. Ich habe mich mit dem Gedanken, dass der junge Mann doch nicht mehr kommen würde, abgefunden. Vielleicht ist ihm etwas dazwischen gekommen, vielleicht hat er gerade zu viel Arbeit aufgebrummt bekommen. Während ich versuche, mich mit diesen Überlegungen anzufreunden, steht er plötzlich neben mir. Außer Atem. Er ist zu meinem Abflug-Gate gelaufen, so schnell es eben ging, um mich zu verabschieden. Ich bin den Tränen nahe, als er mich in den Arm nimmt und mir einen guten Flug wünscht. Freudentränen, Tränen der Erleichterung. Das war wahrscheinlich der schönste Abschied, den mir jemals jemand geschenkt hat.
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