Dein Warenkorb ist gerade leer!
Auf Reisen gibt es selten Orte, die mir gar nicht gefallen. Manche gefallen mir gerade so bis zum gebuchten Rückflug. An anderen könnte ich gut länger bleiben, an manchen sogar sehr viel länger. Und dann gibt es einige sehr wenige Orte, da könnte ich mir vorstellen zu leben. In Neufundland zum Beispiel. Warum, erfahrt ihr in Teil 1 von „A whale of a time“ – und natürlich, wenn ihr jetzt weiterlest.
Mit ganzen drei Tagen Sonnenschein satt hat uns Neufundland begrüßt, aber mehr bekommt es nun wirklich nicht auf die Reihe. Der nächste Morgen startet mit Nebel und Bindfaden-Regen. Genau so hatte ich mir Neufundland eigentlich vorgestellt.
Auf dem langen Weg zur Südspitze der Avalon Halbinsel erzählt uns Larry, unser neufundländischer Fahrer, aus seinem Leben, das – wie könnte es in Neufundland anders sein – sich immer um den Fisch gedreht hat. Aufgewachsen sei er in einem Fischerdorf, und sein Vater sei Fischer gewesen. „Dabei hat er mir und meinen drei Brüdern immer gesagt, Fischer sei kein richtiger Beruf, weil man nie gewinnen könne und immer Schulden bei den Händlern habe. Die bewerteten unseren Fang. War er perfekt, wurde er nach Spanien und in andere europäische Länder verkauft, der Schlechteste ging an die West Indies.“ Zum ersten Mal höre ich eine gewisse Traurigkeit aus Larrys Stimme. Auch er und seine Mutter hätten dem Vater geholfen und den Fisch gesalzen, damit er länger frisch blieb, sowie zum Trocknen ausgelegt. „Wir mussten nur aufpassen, dass der Regen das Salz nicht sofort wieder abwusch.“ In den 1960ern habe die Regierung schließlich ein Umsiedlungsprogramm ins Leben gerufen, wonach Familien aus kleinen Küstengemeinschaften in größere Städte umgesiedelt werden sollten. „Mein Vater bekam 2000 kanadische Dollar geboten – so viel Geld hatte er noch nie in seinem Leben gesehen. Also zogen wir nach St. John’s. Aber mein Vater konnte kaum seinen eigenen Namen schreiben und tat sich mit dem neuen Leben schwer, er bekam nie einen festen Job.“ Am Ende habe die Familie in ihr Dorf zurückkehren wollen, aber dafür sei es zu spät gewesen, wenn man das Geld einmal akzeptiert habe. Zum Glück sei es den vier Söhnen um einiges besser ergangen.
„Heute wollen die jungen Leute kaum noch Fischer werden, vor allem nach der Fischereikrise in den 90ern sind viele ausgewandert. Aber man will die Jugendlichen wieder ermutigen, den Beruf des Vaters zu übernehmen.“ Am besten stünden noch die Krabbenfischer da, vor allem die Schneekrabbe sei ein echter Gewinnbringer. „Manchmal fühlen wir uns in Neufundland vernachlässigt, weil die Regierung unsere natürlichen Ressourcen nicht vernünftig schützt.“ Dabei sei Neufundland, das lange Zeit ein eigenständiges Dominion im Britischen Empire gewesen sei, überhaupt erst 1949 Kanada angeschlossen worden – mit 52 Stimmen gegen 48 für die Konföderation. „Damit wurde auch der 1. Juli, Kanadas Nationalfeiertag, zum Problem für uns Neufundländer.“ Denn der 1. Juli sei seit 1917 Memorial Day für die Neufundländer, der Tag, an dem sie über 700 Soldaten des 1. Newfoundland Regiments gedächten, die im 1. Weltkrieg fielen. „Mittlerweile handhaben wir es so, dass wir bis mittags an die Toten denken, und danach holen wir das Bier raus und feiern.“
Mistaken Point oder die fiesen Felsen
Eigentlich wollen wir die bekannte Mistaken Point Ecological Reserve auf der Avalon Halbinsel besuchen, doch der Wind peitscht uns den Regen um die Ohren, dass wir schon nach 30 Sekunden im Freien bis auf die Unterhosen nass sind. Ein Ausflug zu den Felsen, wo 1967 die reichhaltigsten und besterhaltenen präkambrischen Fossilien der Welt gefunden wurden, ist undenkbar. Dafür bekommen wir im Interpretation Center zumindest einen kleinen Einblick, was es mit den bedeutenden Fossilien auf sich hat. „Es wurden 6000 Fossilien auf 9000 Quadratmetern Oberfläche gefunden“, berichtet Edwina Warr, die als Guide in dem Museum arbeitet und Besucher auch zu den Felsen begleitet, wenn kein Weltuntergangswetter herrscht. „Niemandem war die Bedeutung dieser Fossilien bewusst, die die ältesten mehrzelligen Fossilien der Welt sind, etwa 575 Millionen Jahre alt. Sie lebten am Boden des Ozeans.“
Wahrscheinlich seien diese Kreaturen unter anderem bei Vulkanexplosionen gestorben. Die Wissenschaftler schafften es, mit speziellem Material Abdrücke der Fossilien zu nehmen, die heute auch – für Schlechtwettertage – im Interpretation Center zu bewundern sind. Manche der Fossilien sehen aus wie Blumenabdrücke, und als diese wurden sie auch lange betrachtet. Insgesamt soll es 30 verschiedene Gattungen geben, verteilt auf 100 Felsschichten. Erst Juli 2016 wurde Mistaken Point als Weltkulturerbe anerkannt.
„Wisst ihr, warum dieser Ort Mistaken Point heißt?“, will Edwina wissen. Wir haben keine Ahnung. „Viele Schiffe, die bei Nebel hier ankamen, verwechselten die Felsen mit Cape Race weiter südlich. Sie segelten nach Norden, fuhren auf die Klippen auf und kenterten.“ Insgesamt habe es 94 Schiffwracks in 40 Jahren gegeben, und auch die Titanic sei nur 360 Meilen südöstlich von Cape Race gesunken. Edwina erzählt, wie die Männer in ihrer Familie oft versucht hätten, Schiffbrüchigen zu helfen. Natürlich gebe es auch immer wieder Leute vor Ort, die Geisterschiffe und Geister zu sehen glaubten. „Man steckt den Kindern manchmal ein Stück Brot in die Tasche, um sie vor Feen zu schützen, die sie fortlocken könnten. Und auch, wenn man seine Kleidung falsch herum trägt, kann das vor Geistern schützen.“ Viele der Traditionen seien aus Irland überliefert worden.
Im Bus geht es durch den strömenden Regen die unebene Strecke bis zum Cape Race Leuchtturm weiter, dem Ende der Avalon Halbinsel. Wir fahren durch Tundra-Landschaften mit arktischen alpinen Pflanzen und voller Beeren, doch leider verstecken sie sich an diesem Tag hinter der Wasser- und Nebelwand. Selbst, als wir vorm Leuchtturm stehen, können wir ihn kaum ausmachen.
Eher fürchte ich schon, in den feuchten Nebelhänden den Geist eines toten Matrosen auszumachen. In Cape Race wurde 1904 die erste Funkstation Neufundlands errichtet. Die Nacht, als die Titanic sank, kamen hier auch die ersten Hilferufe des Ozeanriesen an und Cape Race spielte eine entscheidende Rolle darin, die Nachricht an andere Schiffe und an Land weiterzuleiten. 2012 , zum 100. Jubiläum der Titanic, wurde an derselben Stelle die Marconi-Station als ‚Funk Interpretation Center‘ eröffnet.
Bei den toten Männern
Weiter südlich erwartet uns ein ganz besonderer Abend: In Trepassey, dessen Name aus dem Französischen ‚trépassés‘ stammt und tote Männer bedeutet. Wahrscheinlich wurde dem Ort dieser unheimliche Name dank der vielen Schiffunglücke vor der Küste verpasst. Vom Hafen in Trepassey aus startete auch die ‚Friendship‘, geflogen von Amelia Earhart, die als erste Frau über den Atlantik flog.
Das Wetter macht dem Ortsnamen alle Ehre. Der Nebel hängt noch immer so dicht über uns, dass der Eingang der Unterkunft kaum auszumachen ist. Die perfekte Untergangsstimmung für ein extra zubereitetes Titanic-Dinner im Edge of the Avalon Inn, das dem Originalmenü am letzten Abend des Ozeanriesen nachgekocht wird.
Auf dem Menü der ersten Klasse stehen unter anderem Canapés à l’Amiral, kleine Häppchen, auch als ‚amuse-bouche‘ bekannt, eine Brokkoli-Cremesuppe, pochierter Lachs mit Mousselinesoße, Roastbeef und ein Waldorf Pudding. Dazu gibt es etwas, das wir den armen Reichen auf der Titanic voraus haben: original neufundländische Musik von Genevieve, ihrem Mann Lauren und Sängerin Judy, die gleichzeitig singt, das Akkordeon spielt und mit an den Schuhen befestigten Rasseln klappert. Danach kommt mein neues neufundländisches Lieblingsinstrument zum Zuge – der ‚ugly stick‘, hässlicher Stock. Und ganz schön hässlich ist er wirklich, mit einem Wischmopp als Kopf, improvisiertem Gesicht, gelbem Neufundland-Regenhut sowie etwa zwölf Dutzend Kronkorken und einem Gummistiefel am unteren Ende. Außerdem braucht man einen sogenannten ‚beater‘, ein Stöckchen, mit dem man auf den ugly stick einschlägt und ihm so eine Art Musik entlockt. Gesagt, getan – Genevieve verhaut den ugly stick und rammt ihn dabei in den Boden, dass die Kronkorken nur so klimpern, ihr Mann übernimmt das Akkordeon, Judy stampft auf den Boden und spielt dazu die ‚spoons‘ – zwei gegeneinanderschlagende Löffel. Und tatsächlich: Das Ganze klingt nach Musik!
Wie ich bald erfahre, gibt es den ugly stick seit etwa 1980. Er war eine Erfindung für all die Freunde und Verwandten, die kein Musikinstrument spielten und ansonsten nicht bei musikalischen Einschüben während der beliebten ‚Kitchen Partys‘ mitmachen konnten. Nach der Show probieren wir es auch mal – so einfach ist es gar nicht, dem Holzknüppel vernünftige Laute zu entlocken!
Es dauert nicht lange, dann sind Franziska und ich dran – denn in Neufundland kann kein geselliges Zusammensein zwischen Einheimischen und Besuchern zu Ende gehen, ohne dass ‚die Neuen‘ die Chance bekämen, zu Ehrenbürgern Neufundlands zu werden. Durch die Zeremonie des ‚Screech in‘, die sich wahrscheinlich in den letzten paar Jahrzehnten entwickelt hat. Außer uns beiden hat keiner in der Gruppe Lust auf das schräge Prozedere, das folgendermaßen funktioniert: Die ‚Screechers‘ stellen sich in Reih und Glied auf, dann fragt uns Lauren aus der Musikgruppe – ein echter Neufundländer, denn nur ein solcher darf als Zeremonienmeister fungieren – ob wir zu Ehrenneufundländern werden möchten. Wir antworten mit „Indeed me is, me ol‘ cock!“ Dann müssen wir einen Schwur leisten, Neufundland zu lieben, endend mit „Long may your big jib draw“. In etwa „Lange möge dich dein großes Segel vorantreiben“. Schließlich geht’s zur Sache: Wir müssen einen Kabeljau küssen. Zum Glück ist er bereits tot, in unserem Fall sogar tiefgefroren. Ich bin als Erste dran und drücke unter dem Jauchzen der Zuschauer meine Lippen gegen den eisigen Fischmund. Zugegeben – ich habe schon bessere Küsse erhalten, aber auch durchaus Schlechtere!
Dieser Teil des Brauchs entstammt den Fischern, die stets den ersten Kabeljau küssten, den sie im Frühling fingen, denn er bedeutete neue Nahrung für die Familie. Daraufhin folgt Schritt zwei – wir müssen in einem Zug ein Glas Screech-Rum leeren, der vor etwa 50 Jahren erstmals aus Jamaika importiert wurde und heute aus Neufundland nicht mehr wegzudenken ist. ‚Screech‘, was übersetzt ‚kreischen‘ bedeutet, kommt laut Larry daher, dass die Amerikaner auf Neufundland den Rum serviert bekamen, ihn runterkippten und daraufhin kreischten wie Babys, denn so wirklich lecker ist er nicht. Als Nächstes erwartet uns ein Stück Fleischpastete, das wir essen müssen, gefolgt von einem wangen-aufblähenden Bonbon. Je nach Region kann die Zeremonie ein wenig abweichen, doch wir haben es geschafft und halten Sekunden später ein Diplom mit unseren Namen darauf in den Händen. Nach meinem Diplom fürs Winterschwimmen im finnischen Meer, im Februar bei genau 0 Grad, wird dies das zweite Diplom, dass es je an meine Wand schafft.
Nach unserer Einbürgerung ist erst mal Party angesagt. Leider nicht uns zu Ehren, sondern weil es Sommer ist und viele Leute von der Stadt nach Trepassey, ein 350-Seelendorf, zurückkehren, um ihre Familien zu besuchen. Also wird gemeinsam gefeiert – im Kirchengebäude schräg gegenüber, das aus einer Wellblechhalle besteht, an der ein schlapper Jesus am Kreuz hängt.
„Hier ist im Moment immer was los“, erzählt mir die ältere Dorfbewohnerin am Eingang, bei der ich meine zehn Dollar Eintritt zahle. „In den letzten Wochen gab es viele Hochzeiten oder Jubiläen.“ Und wir dürfen bei der großen Sommerfete dabei sein. In der Halle liegt die Tanzfläche noch leer vor uns und wir gönnen uns erst mal ein Black Horse Bier, bis die Band gemächlich an zu spielen fängt. Schon bald rocken Jung und Alt auf der Tanzfläche zu den irisch-neufundländischen Rhythmen ab, und wir sind mitten drin. „Zu solcher Musik kann man nur tanzen, wenn man total betrunken ist“, kommentiert eine aus unserer Gruppe, doch mir ist das egal – ich kann zu allem tanzen, solange ich nur glücklich bin, und wie könnte ich das als frisch gebackene Ehrenbürgerin dieser wunderbaren Insel nicht sein?
On the road
Larry sorgt wie immer dafür, dass uns auf der langen Fahrt von Trepassey in Richtung Trinity auf der Bonavista Halbinsel nicht langweilig wird. Von ihm erfahren wir viel über einen Ort im Herzen Neufundlands, der leider nicht auf unserem Programm steht: Gander. „Von 1936 bis 1938 hatte Gander den größten Flughafen der Welt“, behauptet Larry, doch nicht das mache den Ort so besonders. „Er wurde 2001 wegen 9/11 weltbekannt – weil alle Flüge, die gerade in der Luft waren und die USA anflogen, nach Gander umgeleitet wurden. Dort landeten plötzlich 7000 oder 8000 Menschen, die Bevölkerung der Stadt verdoppelte sich.“ Natürlich habe es massive Unterkunftsprobleme gegeben, und viele Einheimische hätten Fluggäste bei sich aufgenommen, auch die Schulen und Kirchen hätten ihre Pforten geöffnet. „Später richteten die Amerikaner zum Dank einige Stipendienfonds für die Menschen in Gander ein“, berichtet Larry zufrieden. Über den ganz besonderen Tag sei sogar ein Buch geschrieben worden: ‚The day the world came to town‘.
Mit Larry unterwegs zu sein macht Spaß. Plötzlich tritt er auf die Bremse, als Ron „Elch!“ schreit und zum Fenster stürzt. Wir hetzen aus dem Bus, als säße uns der Elch im Nacken, und starren ins Dickicht. Tatsächlich starrt uns von dort ein stattliches Exemplar entgegen – jedoch ein junges, dessen Geweih noch im Wachstum ist.
Der Elch wartet lange genug, um ein paar von uns Modell zu stehen, dann ist ihm die Klickerei zu blöd, er dreht uns seinen Allerwertesten zu und macht einen majestätischen Abgang im Wald. Neben dem Elch gibt es am Straßenrand noch anderes von Interesse, zum Beispiel die neufundländische Provinzpflanze, ‚pitcher plant‘, Schlauchpflanze. Die rote, fleischige Blume ist richtig blutrünstig, frisst sogar Insekten. Auch Lupinen in rosa und lila reihen sich vor gemütlichen Holzhäusern aneinander und machen die Auswahl schwer, wo man lieber wohnen würde.
„Die Autobahnen hier wurden erst 1965 fertiggestellt“, erzählt uns Larry. „1988 hat man dann den Bahnverkehr ganz eingestellt, und die Gleise wurden nicht mehr benötigt. Es schien einfach praktischer zu sein, mehr Straßen statt Bahnstrecken zu haben.“
Eisberg zum Ersten
Natürlich darf am Tag nach dem Titanic-Dinner auch der Eisberg nicht fehlen. Mit dem Fischer Bruce Miller geht es von New Bonaventure hinaus auf den an diesem Tag besonders wilden Atlantik. Bruce hat uns gelbe Gummihosen- und jacken ausgeliehen, und sehr schnell bin ich dafür dankbar. Das Boot reitet so heftig über die Wellen, dass wir nach jedem Brecher hart mit den Hintern aufknallen und uns das Waser um die Ohren peitscht. Ich schiebe mir eine weitere Rettungsweste als Sitzkissen unter.
Mit einem Affenzahn halten wir auf Kerley‘s Harbour zu, eins der kleinen Fischerdörfer, die im Rahmen der Umsiedlung, von der Larry erzählt hatte, vollkommen verlassen wurden. Das einst schmucke Kerley’s Harbour, aus dem Bruce selbst stammt, liegt seit 1963 verlassen da, vom Boot aus sehen wir halb zerfallene Holzhäuser. „Die Umsiedlung begann, nachdem Neufundland 1949 Kanada angeschlossen wurde“, beginnt Bruce mit verbitterter Miene. „Alles sollte zentralisiert werden. Das bedeutete, dass Familien wie meine, die hier geboren wurden, ihr Haus hatten, ihren Gemüsegarten, ihre Fischerei, die sonntags in die Kirche gingen und von allen respektiert wurden, auf einmal in Städte wie Clarenville umziehen sollten.“ Er schüttelt traurig den Kopf. „Die Menschen waren dort vollkommen aus ihrem Element gerissen, viele kamen nie wirklich an.“ Er zeigt uns Fotos seiner Familie, von Kindern, die in den Dörfern spielten.
„Das Schlimmste aber, was in Neufundland je passiert ist, war der Stopp der Kabeljaufischerei 1992. Das war das Ende für viele von uns.“ Ich muss an den Fischer Billy aus Petty Harbour denken und wie auch er seinen Lebensunterhalt mit zusätzlichen Touristentouren bestreitet. „Deswegen heißen meine Bootstouren ‚rugged beauty boat tours‘“, scherzt Bruce: „Es ist wirklich eine raue Schönheit, die wir hier haben.“ Ob er damit die Verletzlichkeit dieser Schönheit meint? Bemerkenswert ist, dass in dieser Bucht auch mehrere Filme gedreht wurden, darunter ‚Random Passage‘, wofür die Bar Joe’s Place kurz vor Bruces Hütte errichtet wurde, ‚The shipping news‘ und ‚The grand seduction‘.
Kaum hat Bruce seine Geschichte beendet, geht es wieder volle Fahrt voraus – geradewegs auf einen Eisberg zu, der aus der Ferne winzig erscheint, jedoch beim Näherkommen einige Meter Höhe erreicht. Noch nie habe ich einen Eisberg aus solcher Nähe gesehen und bin hin und weg von der Eisskulptur, die in der Sonne zu schwitzen scheint. „Noch näher kann ich nicht ranfahren, man weiß nie, was sich unter Wasser befindet“, erklärt Bruce in einem Abstand von etwa fünf Metern. Insgesamt sollen sich an die 90% des Eisbergs unter Wasser befinden, sodass die sichtbare Spitze nur ein verschwindend kleiner Teil ist. Genau wie Erfolg im Leben, im Vergleich zu der unendlichen Mühe, die man aufwendet, um diese Spitze zu erklimmen, denke ich mir.
In der Regel bleibe ein Eisberg etwa ein bis zwei Wochen bestehen, je nachdem, wie schnell sich die Stückchen von ihm lösten. Bei dem Exemplar vor uns erkennt man an einer Stelle bereits eine feine, hellblaue Linie, an der die Eisskulptur früher oder später zerbrechen wird. Bruce dreht eine Runde nach der anderen um den Eisberg, um den herum das Wasser türkisfarben schillert. So viel Eleganz, so viel natürliche Schönheit. Ein Stück Natur, das so weit gereist ist, nur, um dann innerhalb weniger Wochen zu Nichts zu verfallen. Genau wie alles im Leben. Wie wir Menschen auch.
Trinity, mein Lieblingsdorf
Es gibt Orte, da kommt man an und könnte bleiben. Für mich ist Trinity einer davon. Eine der sogenannten Kulturerbe-Gemeinden mit zahlreichen historischen Gebäuden, für deren Erhalt sich viele Menschen über die letzten Jahrzehnte eingesetzt haben und die heute sorgfältig restauriert sind. Schon von Weitem präsentiert sich das Dorf mit gerade mal 36 ständigen Einwohnern mit seinen bunten Holzhäusern vor einem Lupinenfeld von seiner absoluten Sahneseite.
Hier lernen wir vor dem Artisan Inn, einer der zahlreichen gemütlichen Unterkünfte, Tineke und ihre Tochter Marieke Gow kennen. „Mein Mann John und ich kamen Mitte der 70er Jahre erstmals nach Trinity, nachdem wir nach Neufundland gezogen waren“, erzählt uns die gebürtige Niederländerin Tineke. „Wir haben uns sofort in das Dorf verliebt und ein altes Haus gekauft, das wir Gover House nannten.“ Damals habe es noch kein fließendes Wasser gegeben und beim Haus auch keinen Brunnen. Als dann Ende der 80er auch das Nachbarhaus zum Verkauf angeboten wurde, erwarben es die Gows wegen seines Brunnens – und ließen sich von den Einheimischen überzeugen, das Haus, das zu den fünf ältesten vor Ort zählte, zu retten. „1992, nach dem Zusammenbruch der Kabeljaufischerei, begannen wir unser Business.“
Franziska und ich sowie Katja, eine weitere Journalistin aus der Gruppe, teilen uns ein blaues Cottage neben dem Artisan Inn und stellen uns sofort vor, wir würden hier eine WG gründen. In dem urigen Holzhaus mit drei Schlafzimmern, zwei Bädern sowie einer großen Wohnküche, Terrasse und einem riesigen Garten mit Seeblick verstärkt sich mein Gefühl, dass ich hierhergehöre.
Im Schein der untergehenden Sonne spaziere ich allein zum Hafen, wo tiefhängende Wolken soeben den gegenüberliegenden Leuchtturm auf einer Insel weich einpacken. In diesem Dorf ist ein buntes Holzhaus hübscher als das Nachbarhaus, ist ein Gebäude netter restauriert als das Nächste. Oft sagt man, es gäbe keine vollkommene Schönheit, und schon gar keine von Menschenhand geschaffene, doch diese hier kommt verdächtig nah an Perfektion heran. Auf einer Holztreppe vor einem der Häuser dösen zwei Katzen, mit denen ich sofort tauschen würde, um hier noch mehr Zeit verbringen zu können.
Obwohl ich schon etwas spät zum Abendessen mit Tineke und Marieke dran bin, zieht mich das weiße Kirchengebäude magisch an, vor dem auf Steinplatten die Namen lange Verstorbener stehen. Die Kirche, die innen vollkommen aus Holz besteht, empfängt mich mit einem überwältigenden Geruch aus altem und neuem Holz – mit einem Geruch nach Heimkommen aus der Natur und in die Natur. Hier könnte ich stundenlang sitzenbleiben und zuschauen, wir das dämmerige Licht hinterm Kirchenfenster langsam verschwindet.
Mit einem großen Lächeln auf den Lippen komme ich beim ‚Twine Loft‘ Restaurant an, auf dessen Terrasse ein Pärchen der Sonne beim Untergehen zusieht. In dem hübsch als Restaurant hergerichteten, ehemaligen Schuppen haben die Gows eine lange Tafel mit frischen Blumen für uns bereitet. „Zuerst wollte ich hier fort und in der Stadt leben“, erzählt Marieke Gow, die neben mir sitzt. „Aber meine Mutter bat mich, mit ins Hotelbusiness einzusteigen, und solange ich mithelfe, darf ich auch in unserem gelben Haus wohnen“, lacht sie. Zu den immer ausgelassener werdenden Gesprächen genießen wir das beste Abendessen der Neufundland-Tage, wobei am leckersten der Pudding mit heißer Screech-Soße schmeckt.
Nach dem üppigen Essen unternehmen Franziska, Katja und ich einen Verdauungsspaziergang durchs Dorf, an dessen Holzhäusern gelbe Lampen ihren Schein über die verlassenen Straßen werfen. Ich komme mir vor wie in einem Krimi, in dem bald ein gellender Schrei durch die Nacht tönen würde. Die Mädels sagen mir, ich hätte zu viel Fantasie. Statt bei einer Leiche landen wir im einzigen Pub des Ortes, Rocky’s Place, wo wir mit Ron ein paar Runden Billiard und Darts spielen. Hier steppt nicht gerade der Bär – wir sind an diesem Abend die einzigen Kunden – doch ich könnte mir keinen schöneren Ort vorstellen. Noch lange laufe ich danach durch die Nacht und bleibe vor einem roten Holzhaus mit sechs Lampen sitzen, die sich auf dem Meereswasser davor spiegeln.
Es ist still, vollkommen still. Ich glaube sogar zu hören, wie sich die Wolken vor die Sterne schieben. Aber natürlich spinne ich nur. Noch jetzt, wenn mich der Alltag mit seinen klammernden Problemen wieder im Griff hat, stelle ich mir oft vor, ich wäre in Trinity. Auf einem seiner Hügel, den Wind in den Haaren, die Sonne auf dem Gesicht und die Schönheit im Blick.
Eisberg zum Zweiten
Der nächste Ort nach Trinity im Norden ist Elliston, das sich auch ‚Wurzelkeller-Hauptstadt‘ nennt. Wurzelkeller, auf Englisch ‚root cellars‘, sind freistehende Strukturen über oder unter der Erde, wo im Winter Gemüse gelagert wurde. Zur Hauptstadt der interessanten Strukturen wurde Elliston im Jahre 2000, als es mit insgesamt 133 dokumentierten Wurzelkellern aufwarten konnte. Kaum erreichen wir die Region, erspähen wir auch schon die runden, steinigen Gewölbe, von Gras überwachsen, die aussehen wir überdimensionale Maulwurfhaufen mit Holztüren. In diesen Kellern konnte Gemüse problemlos überwintern, ohne zu erfrieren oder zu verderben.
Außer den Wurzelkellern hat Elliston auch noch eine Insel voller Papageientaucher zu bieten. Dummerweise sind die meisten der tollpatschigen Vögel gerade zum Fischfang auf See, als wir um die Mittagszeit ankommen, und doch stecken einige immer wieder neugierig die Köpfe aus ihren Höhlen oder setzen zu Flugversuchen an. Ich versuche, sie vom Festland gegenüber ganz nah vor die Kameralinse zu bekommen, doch die Tiere sind absolut keine geeigneten Fotomodelle. Später soll ich lange daran sitzen, die Bilder von abgehackten Köpfen, Flügelteilen, orangenen Füßen oder Hinterteilen auszusortieren.
Der nördlichste Stopp ist Bonavista, Namensgeberin der Halbinsel und ehemalige Kabeljau-Hauptstadt Neufundlands. Heute ist sie bekannt für ihre vielen, wohlerhaltenen Holzfachwerkhäuser und für die intaktesten historischen Gebäude der Insel, wovon die ältesten aus dem frühen 17. Jahrhundert stammen. „Während in anderen Städten Feuer im 18. und 19. Jahrhundert die alten Gebäude zerstörten, hatte Bonavista Glück“, erzählt John Norman von Bonavista Living, das sich seit 2010 für den Erhalt und die Restauration der jahrhundertealten Häuser einsetzt. „Insgesamt haben wir hier 1006 registrierte historische Gebäude, von denen manche auch als Geschäfte genutzt werden. Heute kommen junge Leute aus verschiedenen Ländern hierher, mittlerweile zählen wir sogar 22 Nationen.“
In einigen der Häuser befinden sich nun Restaurants oder Pubs, ein Seifengeschäft, ein Handarbeitsladen und sogar eine Eisdiele, die leckeres, hausgemachtes Eis verkauft.
Da dies eistechnisch natürlich bei Weitem nicht reicht, geht es auf zur nächsten Bootstour. Ich lande mit einer 16-köpfigen kanadischen Familie auf dem Unterdeck, neben einer so patriotischen Kanadierin, dass sogar ihre Fußnägel von der kanadischen Flagge geziert werden. Sie habe das von einem Profi aufmalen lassen, erzählt sie mir stolz.
„Ich möchte etwas Eisbergeis für meinen Gin später mitnehmen“, ermahnt sie daraufhin einen der Bootsjungen, der ihr verspricht, den Wunsch zu erfüllen.
Wir brauchen nur wenige hundert Meter aus dem Hafen rauszufahren, und schon befinden wir uns Auge in Auge mit der ersten Eisskulptur, die bereits in drei Einzelteile zerfallen ist. Mich faszinieren die abstrakten Formen – kein Eisberg ist wie der nächste. Das Einzige, das sie sich teilen, ist das um sie herum in der Sonne türkis schillernde Wasser – dort, wo die große, gefährliche Masse des Eisbergs unter Wasser verborgen liegt.
Schon erscheint die nächste Eisskulptur am Horizont, auf die wir geradewegs zuhalten. Die Kanadierin neben mir will noch immer Eis für ihren Gin, der Bootsjunge lächelt zuversichtlich. Tatsächlich schwimmt uns schon in einiger Entfernung ein Teppich aus kleineren und größeren Eisstücken entgegen, der alle an Bord jubeln lässt. Der Bootsjunge schnappt sich ein Fischernetz und geht angeln. Zurück kommt er mit einem Netz voller frischer Eisstücke, an denen wir uns bedienen dürfen.
Glücklich lutschen die Passagiere an dem vielleicht 25.000 Jahre alten Eis. Es schmeckt so pur wie kein Wasser oder Eiswürfel, die ich zuvor probiert habe. Oder bilde ich mir das nur ein?
Dieser Eisberg sieht aus wie die Jacht irgendeines reichen Pinkels, die er sie sich nur zugelegt hat, um anzugeben. Die Reise endet am Bonavista Dungeon, einer eingefallenen Seehöhle, ein hervorragendes Beispiel für die Kraft des Atlantik, der jeden Tag, jede Stunde, Minute und Sekunde, auf diese Felsen einpeitscht.
Der Kreis schließt sich
Das letzte Highlight der Pressereise ist der 5,3 Kilometer lange Skerwink Trail zwischen Trinity und Port Rexton, ein Rundweg über die Klippen und über waldige Pfade, der zu den schönsten Wanderwegen Neufundlands zählt.
Larry hüpft munter voran, zeigt uns immer wieder verschiedene Pflanzen und Blumen, von denen mir besonders die sogenannten ‚Lady‘s slippers‘, Damenpantoffeln, in Erinnerung bleiben – eine Art Pantöffelchen, aber in Rosa.
Immer wieder laufen wir an Tuckamore-Bäumen vorbei, einem Fichtenbaum, den es nur an den windigen Küsten Neufundlands geben soll. Kaum sind wir einige Meter gegangen, bleiben wir wie angewurzelt stehen: Vom Meer aus sprühen uns Fontänen entgegen, als wollten uns die Wale zum Abschied winken, so, wie sie uns bei unserer Ankunft in Quidi Vidi begrüßt haben. „Hier gibt es besonders viel Kapelan“, erzählt Larry – kein Wunder also, dass sich mindestens sechs Wale vor unseren Augen auf die Jagd begeben. Ich habe es aufgegeben, ihnen mit der Kameralinse zu folgen, möchte das einmalige Schauspiel lieber noch einmal mit bloßem Auge verfolgen und in meinem Kopf speichern statt auf meinem Computer.
Hier ist jeder Moment etwas Besonderes, kein Ausblick gleicht dem anderen. Tief dort unten, vor der zerklüfteten Küste, rauscht der Atlantik, doch das Schäumen der Wellen dringt kaum zu uns hoch. Zwischen den verschiedenen Aussichtspunkten geht es durch Wald, oft vorbei an einer Art besonders finsterer, abgemagerter Trauerweiden, die laut Ron „old men’s beard“ heißen. Passt – sie haben wirklich etwas von dem Bart eines sehr alten Mannes. „Einige Bäume wurden hier zum Bootbauen geschlagen“, berichtet Larry, denn früher habe es in jedem Dorf mindestens drei oder vier Leute gegeben, die Boote bauen konnten.
Manchmal lasse ich mich zurückfallen, atme durch und sauge die Stille in mir auf, für Momente, wenn mich das Geplapper des täglichen Lebens mal wieder aus dem Gleichgewicht bringt. Genau dies ist es, was mir viele Reisen geben – sie füllen meinen Tank mit Schönheit, Frieden und Stille, den ich immer wieder anzapfen kann. Ich denke darüber nach, warum mir Neufundland so gut gefällt, und die Antwort ist nicht schwer zu finden. Hier habe ich noch das Gefühl, zu leben, statt gelebt zu werden.
Dies ist der letzte Tag der Pressereise, doch ich habe das Glück, noch vier weitere Tage alleine auf der Insel zu bleiben und an die Westküste zu fahren. Manch einen aus der Gruppe werde ich vermissen, doch ich freue mich auch darauf, noch ein paar Tage für mich zu haben, in dieser immensen Weite, in dieser Natur, in der ich mich lebendig fühle. Der Wind säuselt um die alten Baumstämme und ich denke an Bryan Adams. Der Sänger hatte recht. Neufundland würde schon ein ganz nettes achtes Weltwunder abgeben.
Fortsetzung folgt.
Diese Reise wurde organisiert und unterstützt von Destination Canada, http://de-keepexploring.canada.travel/
Schreibe einen Kommentar