Neufundland, das 8. Weltwunder? (1)

Was Glück wirk­lich ist, dar­über gibt es vie­le Dis­kus­sio­nen und Theo­rien. Doch wenn Orte glück­lich machen kön­nen, dann ist Neu­fund­land bestimmt ein hei­ßer Anwär­ter auf einen Spit­zen­platz. Mit sei­nen unbe­rühr­ten Land­schaf­ten. Sei­ner Wei­te. Mit Eis­ber­gen. Walen. Toll­pat­schi­gen Papa­gei­en­tau­chern. Leucht­tür­men. Unge­schönt freund­li­chen Leu­ten, die sich nicht mit Schlös­sern und Schlüs­seln vor den Mit­men­schen schüt­zen müs­sen. Und die sagen, in Neu­fund­land hät­te man „a wha­le of a time“. Ich sage, sie haben recht.

Fisch überm Meer  

Heut­zu­ta­ge spre­chen Men­schen ja oft nur mit­ein­an­der, wenn es kein WiFi gibt. Oder, im Fal­le eines Flug­zeugs, auch schon mal, wenn der Bild­schirm kaputt ist. So ler­ne ich auf dem Flug nach St. John’s, der Haupt­stadt der kana­di­schen Pro­vinz Neu­fund­land & Labra­dor, Bru­no ken­nen. Er ist Bra­si­lia­ner und macht seit vier Jah­ren sein Dok­to­rat in Mee­res­bio­lo­gie in St. John’s – eben­so wie sei­ne nor­we­gi­sche Kom­mi­li­to­nin eini­ge Rei­hen vor ihm, die er zufäl­lig am Flug­ha­fen getrof­fen hat. Wäh­rend ich mich fra­ge, was jun­ge Aus­län­der wohl in einer Stadt mit gera­de mal 110.000 Ein­woh­nern anfan­gen, auf einer Insel, wo es oft kalt ist, viel Nebel gibt, genau­so viel Regen und im Win­ter noch mehr Dun­kel­heit, bekom­me ich schon die Ant­wort. „Ab ers­ten Juli dür­fen wir Kabel­jau fischen“, froh­lockt Bru­no, und die Nor­we­ge­rin gibt mir auf dem Weg zur Toi­let­te Tipps, wo ich am bes­ten Lach­se und Hum­mer angeln kann.

Schnell ver­ste­he ich, dass die Fische­rei in Neu­fund­land um eini­ges kom­ple­xer ist, als mir bewusst war. Man kön­ne nicht nach Lust und Lau­ne angeln gehen – und schon gar kei­nen Kabel­jau, klärt mich Bru­no auf. Frei­zeit­ang­ler dürf­ten 2017 gan­ze 46 Tage lang fischen, in vor­ge­ge­be­nen Gebie­ten, wobei pro Tag pro Per­son nur fünf Fische gefan­gen wer­den dürf­ten, inklu­si­ve Kabel­jau. Säßen zwei Per­so­nen im Boot, gin­gen zehn Fische, wobei die Höchst­zahl pro Boot 15 Fische sei­en, sonst müs­se man schnell tau­sen­de kana­di­scher Dol­lar an Stra­fe zah­len. „Es gibt immer noch das Pro­blem der Über­fi­schung“, berich­tet Bru­no. „Als Hob­by­ang­ler braucht man kei­ne Zulas­sung, aber Berufs­fi­scher haben eine und dür­fen maxi­mal zehn- oder fünf­zehn­tau­send Pfund Fisch pro Woche an Land brin­gen.“ Ab Juli 1992 habe es einen zehn­jäh­ri­gen Fische­rei-Stopp in der nord­at­lan­ti­schen Han­dels­fi­sche­rei gege­ben, nach­dem die­se wegen mas­si­ver Über­fi­schung kom­plett zusam­men­brach. Beson­ders stark sei der Kabel­jau­be­stand betrof­fen gewe­sen, der sich erst jetzt, nach über zwei Jahr­zehn­ten, lang­sam wie­der erho­le.

Bis der Flie­ger in St. John’s auf­setzt, weiß ich nicht nur alles über die aktu­el­le Fisch-Lage Neu­fund­lands, son­dern auch, wo man sich in der Haupt­stadt am bes­ten betrinkt. „Geh in die Geor­ge Street, das gibt‘s nur Bars und Pubs!“ Auch Yel­low Bel­ly, eins der belieb­tes­ten Pubs, sei ein Muss. Am liebs­ten wür­de ich gleich ins Nacht­le­ben abtau­chen und mir am nächs­ten Mor­gen eine Angel­ru­te zule­gen – da fällt mir ein, dass ich ja auf Pres­se­rei­se in Neu­fund­land bin.

Will­kom­men im „ach­ten Welt­wun­der“

Das Ers­te, was ich ler­ne: Eigent­lich heißt New­found­land auf Eng­lisch gar nicht New­found­land, son­dern eher New­funn­laaand, was sich je nach Spre­cher auch schon mal wie New­fin­laaand anhört – und tat­säch­lich sol­len mich die Land­schaf­ten mehr als ein­mal an Finn­land erin­nern. Lar­ry, unser Bus­fah­rer, ein sieb­zig­jäh­ri­ger, braun­ge­brann­ter Mann, des­sen Augen stän­dig strah­len und der ein Dau­er­lä­cheln auf den Lip­pen hat, ist der ers­te Neu­fund­län­der, den ich spre­chen höre – eine Mischung aus eng­li­schem und iri­schem Akzent, da sich aus bei­den Län­dern vie­le Men­schen in Neu­fund­land ansie­del­ten. „Die Leu­te ver­ste­hen mich immer schlecht, aber sie lie­ben, was ich sage“, scherzt er mit uns. Wir, das sind fünf Jour­na­lis­tin­nen und ein bedau­erns­wer­ter kana­di­scher Gui­de, Ron. Lar­ry ver­spricht, dass wir in Neu­fund­land „a wha­le of a time“ haben wer­den. Kaum hat er es aus­ge­spro­chen, sehen wir vor Qui­di Vidi, einem uri­gen Stadt­teil von St. John‘s, der mit sei­nen bun­ten Holz­häu­sern und klei­nem Fjord aus­sieht wie ein Minia­tur-Fischer­dorf, auch schon die ers­ten Wale. In den Som­mer­mo­na­ten ist vor der Ost- und Nord­küs­te Neu­fund­lands Wal-Zeit. Zumin­dest schi­cken sie uns eini­ge Blas-Will­kom­mens­grü­ße, bevor ihre Rücken­flos­sen wie­der unter der Was­ser­ober­flä­che ver­schwin­den.

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„Vor Kur­zem habe ich eine Tour mit Bryan Adams durch Neu­fund­land gemacht“, berich­tet Lar­ry stolz. „Und wisst ihr, was er mir danach gesagt hat? Dass Neu­fund­land das ach­te Welt­wun­der wer­den soll­te!“ Alle sehen ihn skep­tisch an. Ich ahne noch nicht, dass ich Bryan in weni­gen Tagen voll zustim­men soll.

Bier aus Eis­ber­gen

Qui­di Vidi hat mehr zu bie­ten als schmu­cke Häus­chen und Boo­te. Es ist auch Hei­mat der Qui­di Vidi Braue­rei, 1996 von zwei Inge­nieu­ren in einer ehe­ma­li­gen Fisch­fa­brik eröff­net, wo unter ande­rem Bier aus bis zu 25.000 Jah­re alten Eis­ber­gen gebraut wird: das Ice­berg Beer, das in nacht­him­mel­blau­en Fla­schen ver­kauft wird. Kein Wun­der, dass die Fla­schen manch­mal aus­ge­hen, weil die Leu­te sie ein­fach nicht zurück­ge­ben wol­len, wie Les, ein Ange­stell­ter der Braue­rei, weiß. „Neu­fund­land hat Ed Kean, den Eis­berg-Cow­boy. Er fährt im Som­mer jeden Tag 16 Stun­den lang zu den Eis­ber­gen raus, ern­tet so vie­le Eis­stü­cke wie mög­lich, und die wer­den dann in Bona­vis­ta geschmol­zen und an uns ver­kauft.“ Über­haupt sei es das Was­ser, das ein Bier aus­ma­che, und das Eis­berg-Bier bestehe zu 98% aus Was­ser. „Eis­berg­was­ser ist das sau­bers­te Was­ser der Welt.“ Auf die Fra­ge, ob das Bier auch ins Aus­land expor­tiert wer­de, schüt­telt Les wild den Kopf. Es blei­be nichts übrig, weil die Neu­fund­län­der selbst so viel Bier trin­ken wür­den – etwa 20 Dut­zend Liter Bier pro Kopf jähr­lich. „Wir expor­tie­ren nur in ein paar kana­di­sche Pro­vin­zen, vor allem nach Alber­ta, weil da vie­le Neu­fund­län­der leben.“

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Die Braue­rei ist jedoch nicht nur wegen ihres Eis­berg-Biers beliebt. Jeden Frei­tag­abend star­tet im Pub gegen­über eine soge­nann­te ‚Kit­chen Par­ty‘, Küchen­par­ty. „Im atlan­ti­schen Kana­da trinkt man nor­ma­ler­wei­se zusam­men Bier in der Küche, wenn man bei jeman­dem ein­ge­la­den ist“, erklärt Les. „Unse­re ist die ein­zi­ge Kit­chen Par­ty in einer Braue­rei in St. John’s, und ab 18 Uhr spielt unse­re Band – The Brew Crew.“ Die Band besteht aus sie­ben Rent­nern. Einer von ihnen ist Harold Snow, der mir erzählt, wie viel Freu­de er dar­an habe, jeden Frei­tag mit sei­nen Kum­pels zu sin­gen und zu spie­len – und sei­nem pral­len Bauch nach auch am Ver­zehr des Eis­berg-Biers. Die Musik erin­nert schwer an iri­sche Pub-Musik, nur, dass statt Irland Neu­fund­land in den Tex­ten vor­kommt, dazu schun­keln und klat­schen die Ein­hei­mi­schen – und eini­ge aus­län­di­sche Besu­cher, die nach den Som­mer­mo­na­ten ganz schnell wie­der ver­schwin­den.

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Go East

Wenn ich an St. John’s den­ke, den­ke ich an far­ben­fro­he Rei­hen­häu­ser, an den gemüt­li­chen Natur­ha­fen und an einen klei­nen Park mit Hun­de-Sta­tu­en – natür­lich von einem Neu­fund­län­der und einem Labra­dor. Dort steht auf Tafeln viel über St. John’s Geschich­te geschrie­ben, doch was mir in Erin­ne­rung bleibt, ist eine Auf­lis­tung all des­sen, was wir von Hun­den ler­nen kön­nen: Wenn ein gelieb­ter Mensch nach Hau­se kommt, lau­fe zu ihm und begrü­ße ihn. Wenn man dich aus­ge­schimpft hat, geh zurück und sei wie­der ein Freund. Wenn jemand einen schlech­ten Tag hat­te, setz dich neben ihn und hät­schel ihn ein biss­chen. Wenn du glück­lich bist, tanz her­um und wack­le mit dem gan­zen Kör­per. Erfreu dich an dem ein­fa­chen Ver­gnü­gen eines schö­nen Spa­zier­gangs. Knurr nicht, wenn ein freund­li­ches Brum­men aus­reicht.

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Schräg gegen­über des klei­nen Parks befin­det sich ein Wahr­zei­chen der Stadt, der Signal Hill mit dem Cabot Tower, einem Turm, der 1897 zum 400. Jah­res­tag der Ent­de­ckung Neu­fund­lands durch John Cabot errich­tet wur­de. Bis in die 1960er Jah­re beher­berg­te er eine Funk­sta­ti­on, doch heu­te dient er nur noch einer Aus­stel­lung zur Geschich­te des Turms und über Mar­co­ni und des­sen Funk­sta­ti­on im Cabot Tower. Von dort hat man den bes­ten Blick über St. John’s, über das auf einem Hügel die impo­san­te Kathe­dra­le wacht – und über einen Pfad, der sich schlan­gen­ar­tig hin­ab auf die grü­ne Fels­spit­ze win­det. Obwohl wir angeb­lich nur noch 20 Minu­ten zur Ver­fü­gung haben, kön­nen Fran­zis­ka, eine der Jour­na­lis­tin­nen, und ich nicht wider­ste­hen. Schon sind wir mit­ten auf dem steil nach unten füh­ren­den Weg, auf dem uns vie­le Jog­ger ent­ge­gen­kom­men. Wir sind auf dem Fit­ness­par­cours der Ein­hei­mi­schen gelan­det, die nach dem Berg­ab-Sprint in Win­des­ei­le den Weg zurück nach oben het­zen. Fast jeder von ihnen hat noch ein Lächeln und fröh­li­ches „Good mor­ning“ oder, im Fal­le der beson­ders Rot­ge­sich­ti­gen, ein „Hi“ für uns übrig.

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Jedes Mal, wenn ich einen neu­en Pfad bege­he, zieht mich die­ser magisch an. Ich will wei­ter, will wis­sen, was es um die nächs­te Kur­ve gibt, wel­cher Aus­blick sich eröff­net. Fran­zis­ka ergeht es nicht anders, und so lau­fen wir den N Head Trail immer tie­fer hin­ab, bis zu The Bat­tery, einem beson­ders gemüt­li­chen, dorfähn­li­chen Orts­teil von St. John’s am Hafen­ein­gang, von wo die Stadt wäh­rend bei­der Welt­krie­ge ver­tei­digt wur­de. Heu­te denkt man bei den idyl­li­schen Holz­häus­chen, vor denen sich teils Fischer­net­ze ent­lang­zie­hen, kana­di­sche Flag­gen im Wind wehen oder sich Kat­zen und Hun­de in der Son­ne rekeln, ganz bestimmt nicht mehr an Krieg.

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Von der gegen­über­lie­gen­den Hafen­sei­te aus könn­te man auf dem soge­nann­ten East Coast Trail in gut 15 Kilo­me­tern bis nach Cape Spear wan­dern – dem öst­lichs­ten Punkt Nord­ame­ri­kas. Wir errei­chen den Punkt mit Lar­ry im Bus, der wie immer fröh­lich aus dem Näh­käst­chen plau­dert. „Am 24. Juni 1983 kamen Lady Di und Prinz Charles nach Cape Spear, und für die bei­den wur­den extra Toi­let­ten gebaut. Wir nen­nen das heu­te noch den ‚roy­al flush‘.“ Den Namen Cape Spear – Speer – habe die Land­spit­ze dank ihrer Form erhal­ten.

Am Cape Spear befin­den sich gleich zwei Leucht­tür­me, dar­un­ter der zweit­äl­tes­te Neu­fund­lands, der 1836 erbaut wur­de und aus einem Licht­turm aus Stein sowie dem Wohn­haus des Leucht­turm­wäch­ters besteht. Wie mir Vic­to­ria, die Besu­cher am Ein­gang begrüßt, erzählt, leb­te hier 150 Jah­re lang eine iri­sche Fami­lie, die Cant­wells, bis der Turm in den 1990ern voll auto­ma­ti­siert wur­de. Das Inne­re des Wohn­hau­ses beher­bergt noch die Ein­rich­tung der Fami­lie, die recht ein­fa­chen Ansprü­chen genügt. Ich wür­de, könn­te ich hier leben, auch nicht viel brau­chen. Mir genügt der Atlan­tik vor mir mit Irland irgend­wo weit im Osten und ganz Nord­ame­ri­ka im Rücken. Im Oze­an dre­hen Wale ihre gemäch­li­chen Bah­nen, um Kape­lan, klei­ne, im nörd­li­chen Atlan­tik vor­kom­men­de Lachs­fi­sche, die auf dem Spei­se­plan der Wale ganz oben ste­hen, zu fan­gen, und in wei­ter Fer­ne schmilzt ein Eis­berg lang­sam in der Son­ne. Ich ver­su­che mir vor­zu­stel­len, dass die­se Eis­skulp­tur tat­säch­lich 10- bis 25.000 Jah­re alt ist, einst aus Grön­land abwan­der­te und sich dank der Labra­dor-Strö­mung im Monat etwa sie­ben Kilo­me­ter weit bewegt. Kein Wun­der, dass die Eis­klöt­ze bei so viel Gemüt­lich­keit ein so hohes Alter errei­chen!

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Wäh­rend die Grup­pe im Leucht­turm ver­schwin­det, mache ich mich auf den Weg in Rich­tung des East Coast Trails, der bis an den süd­li­chen Zip­fel der Ava­lon-Halb­in­sel führt. Am liebs­ten wür­de ich die gut 200 Kilo­me­ter wei­ter­lau­fen. Es geht über Pfa­de, die aus Schlamm oder zwei Holz­bret­tern bestehen, durch Fel­der und klei­ne Wäl­der vol­ler Weih­nachts­bäu­me, dann wie­der zu den schöns­ten Aus­sichts­punk­ten, wo der Atlan­tik auf die Fel­sen prallt. Erneut erin­nert mich die Wei­te der grü­nen Land­schaft an Finn­land. Und wie­der hat mich der Weg in sei­nem Bann. Mit jedem Schritt spü­re ich, wie ich etwas ver­bren­ne. Nicht Kalo­rien, son­dern Sor­gen.

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„There’s no place I’d rather be than here in New­found­land“

Wenn man der Küs­te von Cape Spear immer wei­ter süd­lich folgt, stößt man irgend­wann auf das etwa 960-See­len­dorf Pet­ty Har­bour, über­setzt ‚win­zi­ger Hafen‘. Der Name passt. Hier gibt es außer bun­ten Häu­sern, einer klei­nen Bucht und vie­len Boo­ten nicht viel, dafür aber das Wich­tigs­te: Ein bei den Ein­hei­mi­schen beson­ders belieb­tes Fisch­re­stau­rant, Chafe’s Landing. Hier pro­bie­re ich zum ers­ten Mal Lobs­ter Pou­ti­ne, eine kana­di­sche Spe­zia­li­tät mit Pom­mes Fri­tes als Basis und einer schwe­ren Soße mit Hum­mer­stück­chen dar­in.

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Die Por­ti­on ver­langt dem Durch­schnitt­ses­ser mehr als einen klei­nen Ver­dau­ungs­spa­zier­gang ab – auf dem ich Bil­ly ken­nen­ler­ne. Bil­ly der Boots­ka­pi­tän sitzt vor einem wei­ßen Holz­häus­chen an einem Tisch, auf dem das beacht­li­che Modell eines Fischer­boo­tes steht. Ich fra­ge ihn, ob er es selbst gebaut habe. Er strahlt mich an, als hät­te er soeben im Lot­to gewon­nen. Es folgt ein Rede­schwall, von dem ich nicht ein­mal die Hälf­te ver­ste­he. Lar­ry scheint dage­gen reins­tes Oxford-Eng­lisch zu spre­chen. Stolz posiert Bil­ly vor der Hüt­te mit dem Boot in den Hän­den und erlaubt mir, es auch ein­mal zu hal­ten. „Schau mal, hier drin­nen!“ Er zeigt in die Koje, wo ein Bild von einem üppi­gen Fisch­fang klebt. Er ver­schwin­det kurz in dem Häus­chen und kommt mit einem Foto zurück, das ihn vor einem Rie­sen­hau­fen Kreb­se auf sei­nem Boot abbil­det. „Was glaubst du, wie alt ich bin?“ Ich schät­ze ihn groß­zü­gig auf 50, wor­auf­hin er mir fast einen Hei­rats­an­trag macht. Er zieht mich ins Inne­re sei­nes Heims, zeigt mir Fotos sei­ner Fami­lie und eins von ihm, das ihn bei sei­nem 65. Geburts­tag auf dem Schiff dar­stellt, einen Krebs über dem Kopf.

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„Seit dem Zusam­men­bruch der Fische­rei 1992 ist es für uns schwer gewor­den, vom Fisch zu leben“, ver­ste­he ich aus sei­nem Wort­schwall und muss sofort an Bru­nos Brie­fing zum Fische­rei-Stopp Anfang der 90er den­ken. Das Ereig­nis muss für Fischer wie Bil­ly eine Kata­stro­phe gewe­sen sein, doch heu­te ist ihm von dem Schlag nichts mehr anzu­mer­ken. „Wir inves­tie­ren jetzt mehr in den Tou­ris­mus“, erzählt er mir und ver­sucht im glei­chen Atem­zug, mich zu einer Boots­tour zu über­re­den. „Das ist mei­ne Frau“, zeigt er auf ein Pin-up-Model an der Wand. „Möch­test du mit uns eine klei­ne Tour unter­neh­men?“

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Ich wür­de ger­ne, doch für uns ist bereits ein ande­rer Boots­aus­flug vor­ge­se­hen – von dem 25 Kilo­me­ter wei­ter süd­lich gele­ge­nen Bay Bulls aus. Von dort fah­ren wir mit dem Kata­ma­ran der Fami­lie Gatherall raus auf den Oze­an in der Hoff­nung, Wale und Papa­gei­en­tau­cher ein­mal ganz aus der Nähe zu sehen. Das Boot hüpft über die immer höher wer­den­den Wel­len in Rich­tung der Wit­less Bay Eco­lo­gi­cal Reser­ve. „Ein Wal“, ertönt es auf ein­mal von Back­bord, und alle stür­zen auf die lin­ke Schiff­sei­te. Da taucht ein Wal gera­de in aller Ruhe wie­der ab, irgend­je­mand ruft, es sei ein Min­ke­wal. Dane­ben gibt es vor Neu­fund­land häu­fig auch Finn­wa­le, Buckel­wa­le und Pott­wa­le. Noch sieht man den anmu­ti­gen Kör­per des Säu­gers kurz unter der Was­ser­ober­flä­che, und schon ist er wie­der oben, sprüht sei­ne Fon­tä­ne in die Luft, taucht wie­der ab.

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„Jetzt ist die Kape­lan-Sai­son, des­we­gen kom­men die Wale her“, ruft der Kapi­tän begeis­tert, wäh­rend die Kame­ra­lin­sen aus­fah­ren und neben dem Plät­schern des Was­sers nur ein stän­di­ges Kli­cken zu hören ist, beglei­tet von A- und O‑Rufen, wenn der Wal wie­der auf­taucht. Dann ist er plötz­lich weg. „Er kann jetzt bis zu 45 Minu­ten unter Was­ser blei­ben“, ver­kün­det der Kapi­tän. Die Kame­ra­lin­sen fah­ren wie­der ein – doch da ist auch schon der nächs­te Wal in Sicht. Nein, die­ses Mal sind es gleich zwei! So nah war ich noch nie an Walen dran. Statt nur durch die Kame­ra­lin­se zu star­ren, schaue ich mir lie­ber mit eige­nen Augen an, wie die Rücken­flos­sen auf- und wie­der abtau­chen. Ein­mal erken­ne ich sogar die Schwanz­flos­se, die blitz­schnell an der Was­ser­ober­flä­che erscheint und gleich wie­der ver­schwin­det. Es ist eines der fas­zi­nie­rends­ten Schau­spie­le, das mir die Natur je gebo­ten hat. Völ­lig unbe­küm­mert von dem auf dem Was­ser düm­peln­den Boot, genie­ßen die Säu­ger ihre Mit­tags­mahl­zeit.

Bald errei­chen wir die Wit­less Bay Eco­lo­gi­cal Reser­ve, die nur Wis­sen­schaft­lern mit Spe­zi­al­er­laub­nis zugäng­lich ist und ansons­ten vom Was­ser bewun­dert wer­den kann. Schon von Wei­tem hört man die Rufe und Lau­te unzäh­li­ger Vögel, die einen ziem­lich schrä­gen Kanon prä­sen­tie­ren.

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„Die meis­ten See­vö­gel sind das gan­ze Jahr über auf See und kom­men nur zwi­schen Mai und August an Land, um ihre Jun­gen groß­zu­zie­hen“, erklärt der Kapi­tän. Die Klip­pen der fel­si­gen, grü­nen Insel sit­zen gespickt vol­ler Vögel. Bei genaue­rem Hin­se­hen ent­pup­pen sich eini­ge als lus­ti­ge Papa­gei­en­tau­cher, die neu­gie­rig die Köp­fe aus ihren Löchern ste­cken und sogleich wie­der dar­in abtau­chen. Man­che set­zen auch zum Flug an, um wenig spä­ter in per­fek­ter Bruch­lan­dung im Was­ser zu enden. Ele­ganz geht anders, und doch zäh­len die Toll­pat­sche mit ihren oran­ge­nen Schnä­beln und Enten­fü­ßen zu den schöns­ten Vögeln, die ich je gese­hen habe – bis­her immer nur auf Post­kar­ten. Auf den Fel­sen sit­zen dicht anein­an­der gedrängt schwar­ze Vögel mit wei­ßen Bäu­chen, die auch für jede Men­ge dunk­le Fle­cken am strah­lend blau­en Him­mel sor­gen.

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Obwohl mir der kal­te Wind um die Ohren pfeift und sich mei­ne Hän­de mitt­ler­wei­le wie Eis­wür­fel anfüh­len, habe ich mich lan­ge nicht mehr so erfüllt gefühlt. Auf dem Rück­weg dreht der Kapi­tän noch­mal die Musik­an­la­ge voll auf, und die übli­che irisch-neu­fund­län­di­sche Pub-Musik beschallt uns von allen Sei­ten. Den meis­ten geht sie nach spä­tes­tens einer Minu­te auf die Ner­ven. In dem Song geht es um den Stolz der Insu­la­ner, um die Frei­heit eines Lebens am Meer. „There’s no place I’d rather be than here in New­found­land“, spielt der Refrain. Er spricht mir aus dem Her­zen.

Frei­zeit auf Neu­fund­län­disch – See­ka­ja­ken und Pick­nick mit kal­tem Hin­tern

Es gibt Din­ge, die muss man in Neu­fund­land ein­mal gemacht haben, und dazu gehört Kajak­fah­ren auf dem Meer. „Aber was, wenn ein Wal kommt und unser Boot umwirft?“, lau­tet eine viel gestell­te Fra­ge. Stan Cook, der braun­ge­brann­te, glatz­köp­fi­ge Tour­gui­de, der mit sei­nen brei­ten Schul­tern wirkt, als könn­te ihn nicht mal mehr ein Eis­berg bei vol­ler Fahrt vor­aus erschre­cken, winkt ab. „Die Tie­re sind nicht dumm, die mer­ken, wenn da was kommt und machen einen gro­ßen Bogen dar­um.“

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Ein paar von uns sind genau wie ich noch nie wirk­lich Kajak gefah­ren. Um so dank­ba­rer bin ich, dass ich mit Fran­zis­ka in einem Zwei­er-Kajak lan­de, das sie von hin­ten zusätz­lich mit den Füßen steu­ern kann. Mein Herz schlägt schnel­ler, als uns Stan ins Was­ser schiebt und wir auf ein­mal in der ruhi­gen Bucht vor Cape Broyle, süd­lich von St. John’s, trei­ben. Der Aben­teu­er­hun­ger packt uns, wir ergrei­fen die Ruder und wol­len los. Die See ist an die­sem Tag ganz still und wir pad­deln mit der Strö­mung auf bewal­de­te Fel­sen zu, vor denen See­igel im Was­ser düm­peln.

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Wäh­rend die ande­ren dort ver­wei­len, machen Fran­zis­ka und ich uns schon wie­der aus dem Staub, in Rich­tung eines klei­nen Was­ser­falls zwi­schen den Klip­pen. Fran­zis­ka steu­ert uns so nah an das rau­schen­de Was­ser her­an, dass wir fast eine Dusche neh­men.

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Dann geht es wei­ter, über tür­kis­far­ben schil­lern­des Was­ser zu einer Grot­te, in die man nur gera­de hin­ein und rück­wärts wie­der hin­aus­fah­ren kann. Die Wän­de schil­lern pink und grün, und von oben tröp­felt es auf uns hin­ab. Lei­der sehen wir kei­ne der Fle­der­mäu­se, die hier angeb­lich leben sol­len.

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Als Fran­zis­ka und ich uns satt­ge­se­hen haben, sind die ande­ren längst weg. Die Stil­le bet­tet uns ein wie eine war­me Decke und wir sind einer Mei­nung, dass wir hier nie wie­der weg wol­len. Noch vor einer Stun­de hat­te ich Sor­ge, ob das klap­pen wür­de mit dem Kajak, jetzt kann ich mir nichts Ent­span­nen­de­res vor­stel­len.

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Wei­ße Fel­sen mit hell­grü­nen Bäu­men dar­auf zie­hen an uns vor­bei, See­mö­wen sit­zen auf einem Fel­sen und schau­en uns zu, über uns kreist ein Adler. Wenn ich das Glück in die­sem Augen­blick fas­sen könn­te, wäre es eine ziem­lich stil­le Sache und hät­te eine blau-grü­ne Far­be.

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Weder Fran­zis­ka noch ich wol­len aus dem Kajak aus­stei­gen, als wir von einem Boot abge­holt wer­den, um nicht gegen die Strö­mung zurück­pad­deln zu müs­sen.

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Doch das nächs­te neu­fund­län­di­sche Aben­teu­er war­tet: ein Pick­nick am Fer­ry­land Leucht­turm aus dem Jah­re 1870, der 1970 auto­ma­ti­siert wur­de. Seit sei­ner Reno­vie­rung 2004 besteht das Inne­re des Leucht­turms aus einem gemüt­li­chen Café und Restau­rant, doch das wür­de ein Neu­fund­län­der natür­lich nur in Anspruch neh­men, wenn es drau­ßen weit mehr als schlap­pe „cats and dogs“ reg­net oder Wind unter Orkan­stär­ke herrscht.

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Schon auf dem Weg von einem Kilo­me­ter zum Leucht­turm bläst uns eine stei­fe Bri­se um die Ohren, und kurz vorm Ziel reißt es uns manch­mal nahe­zu die Bei­ne unterm Kör­per weg. Opti­ma­les Pick­nick­wet­ter. Das Gan­ze funk­tio­niert so: Man gibt im Leucht­turm die Bestel­lung auf, wel­ches Sand­wich man mit wel­chem Kuchen möch­te, bekommt eine rote Flag­ge und eine Pick­nick­de­cke, und auf geht’s, den bes­ten Pick­nick­spot zu fin­den. Am Ort der Wahl stampft man die Flag­ge in den Boden und war­tet, bis man von oben geru­fen wird. Wir Frau­en las­sen uns majes­tä­tisch auf unse­ren Pick­nick­de­cken an einer weni­ger als mehr wind­stil­len Stel­le nie­der, eini­ge Meter unter dem Leucht­turm vor einem Fels­vor­sprung. Vor uns ent­fal­ten sich ein rau­es, regen­grü­nes Klip­pen­pan­ora­ma und der ‚migh­ty Atlan­tic‘, wie ihn die schot­ti­sche Grup­pe Run­rig in ihrem gleich­na­mi­gen Lied nennt.

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Noch nie habe ich an einem so schö­nen Ort gepick­nickt. Sogar der Wind wird zum will­kom­me­nen Bestand­teil der Kulis­se. Ron und Lor­ry, ein kana­di­scher Wald­schrat-Look-ali­ke, der sich an die­sem Tag zu uns gesellt, holen unse­re Pick­nick-Tabletts ab und kom­men voll bepackt zurück. Zu trin­ken gibt es fri­sche Limo­na­de. Der Schin­ken in mei­nem Sand­wich ist faust­dick, doch nach dem Mor­gen im Kajak und bei die­sem Aus­blick wür­den mir sogar frit­tier­te Kaker­la­ken aus Kam­bo­dscha schme­cken.

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Wie gut, dass ich noch ganz am Anfang des Aben­teu­ers bin. Noch weiß ich nicht, dass mich bald die Geis­ter Schiffs­brü­chi­ger heim­su­chen, dass ich an einem Eis­berg schle­cken darf – und dass ich einen unver­gess­li­chen Kuss auf Neu­fund­land erle­ben wer­de. Fort­set­zung folgt.

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Die­se Rei­se wur­de orga­ni­siert und unter­stützt von Desti­na­ti­on Cana­da, http://de-keepexploring.canada.travel/

mit Unter­brin­gung in St. John’s im Mur­ray Pre­mi­ses Hotel.

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Antworten

  1. Avatar von Bernadette Olderdissen

    Lie­be Cari­na,
    vie­len Dank für die­sen wun­der­schö­nen Kom­men­tar, über den ich mich sehr gefreut habe 🙂 Ich arbei­te schwer dar­an, mir mei­ne Per­spek­ti­ve aufs Leben und mei­ne Umwelt zu bewah­ren, und zum Glück hel­fen mir so wun­der­ba­re Rei­sen immer wie­der sehr dabei.
    Lie­be Grü­ße aus Ham­burg
    Ber­na­dette

  2. Avatar von Carina
    Carina

    Lie­be Ber­na­dette,
    hab Dank für die wun­der­vol­le Rei­se­be­schrei­bung. Den Wind in den Haa­ren konn­te ich füh­len und die Vögel krei­schen hören. Ganz beson­ders dan­ke ich dir für den Spruch »Wenn ein gelieb­ter Mensch nach Hau­se kommt, lau­fe zu ihm und begrü­ße ihn.…« Dei­ne Art und Wei­se Leben und Umwelt zu sehen, zu füh­len und schrift­lich fest­zu­hal­ten, ist etwas ganz Beson­de­res. Behal­te es sein Leben lang.
    Gruß von der Mosel.
    Cari­na

  3. Avatar von Karo

    Wow, das sieht ja sehr beein­dru­ckend aus!
    Da mag ich auch ger­ne mal hin 🙂
    Ein tol­ler Arti­kel!

    Lie­be Grü­ße aus Ham­burg,
    Karo

    (https://karoadores.com)

    1. Avatar von Bernadette

      Vie­len Dank, lie­be Karo – ich kann Neu­fund­land wirk­lich wärms­tens emp­feh­len 🙂
      Lie­be Grü­ße, eben­falls aus Ham­burg
      Ber­na­dette

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