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Und dann fliegt auf einmal dieser Nike-Schuh durch die Luft. Eigentlich habe ich keine Ahnung, ob er wirklich aus der Kollektion von Nike stammt. Sehr wahrscheinlich ist es nur ein billiger Fake-Artikel, der da gerade in Richtung Spielfeld saust und sein Ziel nur knapp verfehlt. Etwa einen Meter hinter dem Linienschiedsrichter schlägt er auf dem Boden auf und springt noch ein, zwei Mal an der Werbebande entlang.
Es dauert nicht lange, bis das gerade getrennte Paar dort unten wieder vereint ist. Ihnen folgen zwei Flip-Flops und eine Colaflasche, die es sogar bis auf den Rasen schafft und jede Menge Feuerzeuge. Begleitet wird das alles von wütendem Gepfeife, tausendfachen »Puta Madre« und »Boludo«-Rufen und wild gestikulierenden Männern, Frauen und Kindern. Ein ganz normales Fußballspiel in Buenos Aires. Oder eben doch nicht ganz normal, denn diese eine Szene ist jetzt schon der Aufreger der Saison.
Zwei Stunden zuvor: Wir sitzen im Colectivo. Uns gegenüber steht ein dicker Argentinier in Jogginghose und viel zu engem Trikot. Es sieht so aus, als würde er sich lässig gegen die Tür des Busses lehnen, aber eigentlich ist er nur betrunken. Das verraten sowohl seine müden Augen, als auch die fast leere Flasche Wein in seiner Hand. »Mit dem ist nicht viel anzufangen«, denke ich gerade, als er plötzlich anfängt mit der flachen Hand gegen die Innenwand des Busses zu schlagen und ein Lied anstimmt. Und sofort grölen alle Mitreisenden mit. Es ist laut, es macht Spaß, es fühlt sich an wie in einem Youtube-Video, ich bekomme Gänsehaut – wir sind auf dem Weg ins Stadion. San Lorenzo spielt.
Für europäische Fußballfans ist der Club Atlético San Lorenzo de Almargo wohl eine unbekannte Größe. Diese Ignoranz, der auch ich mich schuldig sprechen muss, ist jedoch vollkommen unberechtigt. San Lorenzo ist einer der Top 5 Vereine in Argentinien und wurde von der spanischen Presse als »beste Mannschaft der Welt« bezeichnet. Zugegeben, dieses Zitat ist über 60 Jahre alt, aber immerhin gewann San Lorenzo damals Spiele gegen die Nationalmannschaften Portugals und Spaniens, sowie gegen die, aus heutiger Sicht, beste Mannschaft der Welt – FC Barcelona. Außerdem gelang es San Lorenzo bereits zwei Mal die nationale Meisterschaft ohne eine Niederlage zu gewinnen. Ein außergewöhnlicher Club also, der aus einfachen Verhältnissen kommt und der Legende nach seine Gründung einer Gang verdankt, die andere Banden zum Straßenfußball herausforderte. Nachdem in Buenos Aires jedoch die Straßenbahn installiert wurde, entwickelte sich das Fußballspielen zu einem gefährlichen Sport. Als Reaktion auf einen Unfall, bei dem ein Spieler schwer verletzt wurde, ließ der katholische Priester Lorenzo Massa die Jungs auf der Wiese hinter seiner Kirche spielen. Aus Dankbarkeit, so vermute ich, heißt der Club heute noch San Lorenzo.
Das Stadion liegt direkt hinter Bajo Flores, einem Stadtteil, der vor allem durch Armut geprägt ist – und das ist noch nett ausgedrückt. Eigentlich ist es eine Villa, eine Favela, ein Slum. Der Verein hat also immer noch seine Wurzeln im Blickfeld. Vom Busstop zum Stadion lassen wir uns von der Masse mitziehen. Aus Respekt vor der Leidenschaft der Argentinier und ihrem innigen Verhältnis zum Fußball sitzen wir, anstatt das Chaos in den Populares, den Stehtribünen, hautnah mitzuerleben. Aber auch die Plateos, die Sitzplätze, bieten stimmungsmäßig jede Menge. Hier ist das Publikum ähnlich wie in deutschen Stadien: Alte Herren, Familien mit Kindern – und trotzdem ist alles anders. Es wird schon vor dem Anpfiff lautstark gesungen und geklatscht. Die Kleinen lernen von den Großen. Fußball schauen heißt am Spiel teilhaben. Die Populares sind zum Brechen voll, es hängen riesige San Lorenzo-Banner über den Köpfen der auf- und abspringenden Fans, als die Mannschaften einlaufen. Es geht gegen Colon de Santa Fé. Das Spielt beginnt vielversprechend mit einigen gefährlichen Szenen auf beiden Seiten, nimmt aber schnell an Qualität ab und wird zusehends langweiliger, was auch die Stimmung auf den Rängen beeinflusst.
Nach 20 Minuten das erste Highlight, eine rote Karte gegen Santa Fé. Kurze Zeit später unterbricht der Schiedsrichter das Spiel und bittet die Mannschaften vom Platz. Der Grund sind keine Krawalle auf den Rängen oder Pyrotechnik, sondern die erbarmungslose Sonne. Kurze Trinkpause. Und danach das 1:0 für San Lorenzo. Ein wirklich albernes Tor. Der abgefälschte Ball trudelt langsam ins linke Eck, während der Torwart auf dem Weg nach rechts ist. Ich hasse solche Tore. Sie sind immer ungerecht oder zumindest sehr, sehr glücklich. Aber egal, San Lorenzo führt, die Stimmung ist gut, es ist Halbzeit.
Mittlerweile sitzen wir seit über einer Stunde im Stadion. Es ist unglaublich heiss. Ein Dach gibt es leider nur auf der gegenüberliegenden VIP-Tribüne und schattenspendende Wolken sucht man heute vergeblich. So harren wir ungeschützt auf unseren Plätzen aus und warten auf Erlösung. Diese kommt sogleich in Form eines jungen Mannes, der ein riesiges Tablett mit Erfrischungsgetränken durch die Sitzreihen trägt. Wir erwischen gerade noch die letzten Becher und stürzen ihren kompletten Inhalt auf einmal in unsere Kehlen. Beinahe zeitgleich verziehen sich unsere Gesichter: warme, abgestandene Cola. Das hat nun wirklich nicht die gewünschte Wirkung. Die wahren Helfer in der Not erscheinen dann jedoch vor den Publikumsrängen. Einige Ordner positionieren sich im Innenraum des Stadions und spritzen mit Feuerwehrschläuchen Wasser in die Mengen. Was für unsere Augen nach der polizeilichen Zerschlagung einer Großdemo aussieht, wird hier mit tosendem Applaus gefeiert. Auch wir bekommen einige Tropfen ab und huldigen dieser alternativen Art der Abkühlung.
Das Spiel geht weiter: Santa Fés Trainer hat sein Team gut eingestellt. In Unterzahl und mit einem Tor Rückstand verteidigt die Mannschaft gekonnt gegen die Angriffe San Lorenzos und lauert dabei auf sich bietende Kontermöglichkeiten. Allerdings habe ich das Gefühl, dass beide Mannschaften noch drei weitere Tage spielen könnten, ohne ein Tor zu schießen. Es gibt einfach Tage, da läuft es nicht. Und genau so einen hat auch der Linienrichter erwischt, wie er in dieser einen Szene unter Beweis stellt: Santa Fé greift an. Aus dem Halbfeld kommt eine Flanke, die von einem Verteiger San Lorenzos zur Seite geklärt wird. Dort steht jedoch ein Spieler Santa Fés, der den Ball annimmt und vor das Tor flankt. Warum auch immer, aber der Linienrichter hebt seine Fahne und zeigt eine Abseitsposition des flankenden Spielers an. Unmöglich eigentlich, da der Ball vom Gegenspieler aus San Lorenzo kommt. Natürlich stellen die Spieler auf dem Platz alle Aktivitäten ein. Nicht nur auf der Seite San Lorenzos, sondern auch auf der Seite Santa Fés. Und selbst der Stürmer der Gästemannschaft, den die Flanke gerade erreicht, schießt nur halbherzig aufs leere Tor und in die Maschen. Der Einzige, der die Szene richtig beurteilt, ist der Schiedsrichter auf dem Feld und der pfeift: Kein Abseits, sondern Tor – zur Freude der Spieler von Santa Fé und zum Entsetzen der Mannschaft von San Lorenzo und aller im Stadion. Sofort stürmen elf wütende Fussballer auf den Assistenten zu, der sich mit seinem Chef berät, und versuchen zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Das Tor zählt und jetzt fliegen die Schuhe. Auf den Rängen ist die Hölle los. Die Stimmung wird auch nicht besser, als San Lorenzo ein zweites Tor schießt, das aber wegen Abseitsstellung zurecht nicht gegeben wird.
Es bleibt beim letztendlich leistungsgerechten 1:1, weil es San Lorenzo trotz einstündiger Überzahl nicht versteht, den Gegner auszuspielen. Für die Schiedsrichter ist es jedoch eine herbe Niederlage, was sie nach dem Abpfiff zu spüren bekommen. Selbst von der VIP-Tribüne fliegen Feuerzeuge und andere Geschosse, so dass die Unparteiischen nahe des Mittelkreises warten müssen, bis Ordner und Polizei ihre Sicherheit gewährleisten können. Auch ausserhalb des Stadions droht die Situation weiter zu eskalieren. Berittene Polizisten sind im Einsatz, ein Hubschrauber kreist über dem Clubgelände, eine mit Pump Guns bewaffnete Motorradstaffel fährt einige Male an uns vorbei, mehrere Krankenwagen rasen mit Blaulicht und Sirenen heran. Und das alles bei unserem ersten Spiel in Argentinien.
Das schwarze Schaf des Tages ist und bleibt jedoch der Linienrichter. Eine derartige Fehlentscheidung können die fußballverrückten Argentinier anscheinend nicht verkraften. Einige Tage später erfahre ich, dass der Linienrichter aufgrund von Morddrohungen vorerst nicht mehr eingesetzt werden wird.
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Ja, das war schon irre. Aber ein englisches Spiel, würde ich mir auch gerne mal ansehen. Das muss der Wahnsinn sein.
Wahnsinn, mehr fällt mir dazu nicht… Mein letzte Auslands-Fussball Erfahrung war ein 3. Liga Spiel der englischen Liga (in Brighton) – auch nicht ohne, aber nichts im Gegensatz zu deinen Äußerungen…
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