San Francisco: Love Actually

San Francisco

San Fran­cis­co gilt als Sehn­suchts­ort. Das Wet­ter ist meis­tens gut, es gibt eine leben­di­ge LGBTQI+-Szene. Dane­ben prä­gen Tech-Unter­neh­mer das Bild der eins­ti­gen Hip­pie-Hoch­burg, die nun unter einem Tur­bo-Kapi­ta­lis­mus lei­det. Was wur­de aus den Idea­len der Men­schen, die im „Sum­mer of Love“ jung waren? 

Ein Sturm zieht auf, als ich nach einer gefühl­ten Mil­li­se­kun­de aus einem High-Tech-Lift aus­stei­ge und in einem Pent­house ste­he, mit­ten im neu­en Chi­na Basin Park, den meh­re­re Star-Archi­tek­ten ent­wor­fen haben. Innen: Schi­cke Design­mö­bel, Natur­stein, boden­tie­fe Fens­ter. Außen: Ein umlau­fen­des Gelän­der aus Glas, hüft­hoch; ide­al für einen Ape­ri­tif vor einem 360-Grad-Pan­ora­ma, aber nichts für toben­de Kin­der. Ich fra­ge mich, wer wohl in die­se neu­en Räu­me ein­zie­hen und sie mit sei­nen Geschich­ten, sei­nen Träu­men und Sehn­süch­ten fül­len wird. Ver­lieb­te oder Freun­de, die sich in aller Tie­fe bei einem Abend­essen näher­kom­men möch­ten, kann ich mir in die­ser clea­nen, unver­bind­li­chen Archi­tek­tur kaum vor­stel­len.   

San Francisco im Regen, China Basin Park

Als ich mein ers­tes Foto auf die­ser Dach­ter­ras­se knip­se, frös­te­le ich. Auch in Schwarz-Weiß ist an die­sem Tag fast kein Bild zu ret­ten. Der feuch­te Wind bläst mei­ne dun­kel­blaue Regen­ja­cke auf wie einen Bal­lon. Asch­graue tüll­för­mi­ge Wol­ken flie­gen in Zeit­raf­fer über den Bezirk Mis­si­on Rock. Sie wer­fen kon­tur­lo­se Schat­ten auf die Sky­line des Finan­cial Dis­tricts. Unter mir flie­ßen die Umris­se des Piers 48 in psy­che­de­li­schen Wel­len­krei­seln in das asphalt­graue Was­ser der San Fran­cis­co Bay – und der Ora­cle Park, das Base­ball­sta­di­on der Giants, sieht an die­sem Don­ners­tag­mor­gen aus wie ein gro­ßer schwar­zer Kra­ter nach einem Meteo­ri­ten­ein­schlag. 

Gera­de gelan­det kann ich mein Pech noch gar nicht fas­sen: Rein sta­tis­tisch betrach­tet gibt es 300 Son­nen­ta­ge in einem kali­for­ni­schen Kalen­der­jahr. Ich aber bin aus­ge­rech­net an vier der rest­li­chen 65 Tage in jener Stadt, die ich immer ken­nen­ler­nen woll­te, schon als ich noch in der Grund­schu­le war und hör­te, wie mei­ne Leh­re­rin mit ihren Kol­le­gin­nen über den „Sum­mer of Love“ sprach. Die Erwach­se­nen erzähl­ten sich Geschich­ten, die ich nicht ver­stand, aber in mei­ner Phan­ta­sie war San Fran­cis­co ein son­ni­ger Ort mit exo­ti­schen Blu­men, der nach rei­fen Pfir­si­chen duf­te­te. 

Die Hoch­pha­se der ame­ri­ka­ni­schen Hip­pie­be­we­gung begann mit dem soge­nann­ten Human Be-In, einem Hap­pe­ning, das am 14. Janu­ar 1967 im Gol­den Gate Park statt­fand und des­sen Teil­neh­mer für den frei­en Dro­gen­kon­sum plä­dier­ten. Mit dabei waren unter ande­rem der Psy­cho­lo­ge und Guru Timo­thy Lea­ry, der Dich­ter Allen Gins­berg und die Rock­band Jef­fer­son Air­plane. In vie­len vik­to­ria­ni­schen Häu­sern des Vier­tels Haight Ash­bu­ry grün­de­ten sich Wohn­ge­mein­schaf­ten von Künst­lern oder Musi­kern wie The Gra­teful Dead. Eine Akti­ons­grup­pe namens Dig­gers ver­teil­te Lebens­mit­tel an alle. Ihre ers­ten Free Stores sind die Vor­bil­der für die heu­ti­gen Umsonst­lä­den. 

Wandmalerei im Mission District

Der Kon­zert­ver­an­stal­ter Bill Gra­ham orga­ni­sier­te ein gro­ßes Bene­fiz­kon­zert zuguns­ten einer Free Cli­nic, in der Ärz­te Hip­pies behan­del­ten, die kein Geld hat­ten. „Free“ im dama­li­gen ame­ri­ka­ni­schen Sprach­ge­brauch bedeu­te­te nicht nur kos­ten­los oder – wie beim Sex – zwang­los, son­dern auch vor­ur­teils­frei und unbü­ro­kra­tisch. Das Leben schien zwar damals durch den Viet­nam­krieg extrem belas­tet, aber die Men­schen fan­den etwas, wor­an sie glaub­ten und sie wuss­ten, woge­gen es sich lohn­te, auf­zu­be­geh­ren. Ihre bes­se­re Zukunft schien so rosig wie ein Son­nen­un­ter­gang auf einer Kitsch­post­kar­te. Ich weiß, dass vie­le sich inzwi­schen lus­tig machen über die Idea­le der Hip­pies. Nevert­hel­ess: Wie ger­ne wäre ich dabei gewe­sen damals, bei­spiels­wei­se beim Mon­terey Inter­na­tio­nal Pop Fes­ti­val im Juni 1967.

Statt­des­sen erle­be ich nun, im Novem­ber 2024, die Fol­gen eines gna­den­lo­sen Tech-Kapi­ta­lis­mus. Die Stra­ßen – leer­ge­fegt. In den Bus­sen – Men­schen mit lan­gen Gesich­tern. Neben Obdach­lo­sen, die mit Schlaf­sä­cken auf dem Boden lie­gen, seit­dem ihre Zel­te offi­zi­ell ver­bo­ten sind, gibt es Restau­rants, in denen sich vier bis fünf Per­so­nen ein Abend­essen für ins­ge­samt 1000 Euro oder mehr bestel­len. Selbst­fah­ren­de Jagu­ar-Taxis crui­sen durch Stra­ßen, in denen Abhän­gi­ge an Über­do­sen des Opio­ids Fen­ta­nyl ster­ben. 

Den Repu­bli­ka­nern ist es gelun­gen, das Elend der Kran­ken und Arbeits­lo­sen für ihre Zwe­cke aus­zu­schlach­ten und mit dem Fin­ger auf die Demo­kra­ten zei­gen, die angeb­lich schuld an den üblen Zustän­den im immer noch libe­ra­len San Fran­cis­co sind. Das 13-stö­cki­ge neue Büro­haus von Visa, das der Däne Hen­ning Lar­sen kon­stru­ier­te und das ich am Anfang der Rei­se erle­be, wirkt in die­ser gesell­schaft­li­chen Stim­mung auf mich wie ein mör­de­ri­sches Smart Home aus einem dys­to­pi­schen Sci­ence-Fic­tion von Tim Bur­ton. 

Das Wet­ter bleibt schlecht. Als ich einen Flo­ris­ten an der Sta­ti­on Embar­ca­de­ro in der Nähe des hüb­schen Fer­ry Buil­dings nach dem Weg zu mei­nem Hotel fra­ge, zeigt er mir den Metro­plan und erzählt mir etwas von einem Feucht­fluss. Sol­che atmo­sphä­ri­sche Flüs­se kön­nen enor­me Was­ser­men­gen in kur­zer Zeit brin­gen. Im Gol­den Sta­te Kali­for­ni­en gibt es dann Sturz­flu­ten und star­ke Böen – genau­so ein sel­te­nes Phä­no­men schickt mir der Wet­ter­gott bei mei­nem Kurz­trip, als wol­le er mich auf die Pro­be stel­len und mir zuru­fen: „Car­pe diem, du pri­vi­le­gier­te Wel­ten­bumm­le­rin!“  

„Do not attempt to tra­vel“ warnt mich der natio­na­le Wet­ter­ser­vice. Die Regie­rung, die über mei­ne Flug­ge­sell­schaft mei­ne Tele­fon­num­mer kennt, schickt mir die­se Nach­richt, in der von einer „life-threa­tening situa­ti­on“ die Rede ist, auf mein Smart­phone, ver­se­hen mit einem roten Aus­ru­fe­zei­chen. Ich sit­ze in einem Jeep, als ich die Mel­dung bekom­me. Regen pras­selt an die Fens­ter, der Schei­ben­wi­scher quietscht. Auf dem Weg von San Fran­cis­co nach Sau­sa­li­tos rinnt das Was­ser die bräun­li­chen Hügel her­ab, die aus­se­hen wie die schot­ti­schen High­lands.  

Was dann pas­siert, ver­ste­he ich nicht und ver­mut­lich gehört es auch ein­fach zu den uner­klär­li­chen Wun­dern des mensch­li­chen Daseins, dass man bestimm­te Per­so­nen ger­ne mag und ande­re absto­ßend fin­det ohne zu wis­sen, war­um das so ist. Obwohl ich am liebs­ten vor Ent­täu­schung wei­nen wür­de, muss ich stän­dig lachen: über die bizar­re Situa­ti­on, die kit­schi­gen Bil­der in mei­nem Kopf, von Frau­en in waden­lan­gen wei­ßen Klei­dern und mit Blu­men­krän­zen, die sich umar­men. Wäh­rend es drau­ßen immer noch schüt­tet, freue ich mich plötz­lich bis in die Haar­spit­zen hin­ein über die fei­ne Iro­nie und den tro­cke­nen Humor jenes Men­schen, der im Jeep neben mir sitzt und sich wei­gert, sei­ne frosch­grü­ne Plas­tik­son­nen­bril­le abzu­set­zen, die der Fah­rer unse­rer Tour anfangs ver­teilt hat­te, damit wir auf dem Grup­pen­fo­to für sei­nen Insta­gram-Account aus­se­hen wie shi­ny hap­py peo­p­le. Unper­fek­te Momen­te wie die­se zu genie­ßen statt magi­cal moments hin­ter­her­zu­ja­gen – dar­auf kommt es an. 

Es ist ziem­lich ein­fach, auf Rei­sen, bei denen alles glatt läuft, gut gelaunt zu sein. Jeder lächelt, wenn die Gesund­heit top, der Geld­beu­tel voll und der Him­mel blau ist. Mit Unbe­kann­ten unter wid­ri­gen Umstän­den so gut aus­zu­kom­men wie wir auf die­sem Trip ist etwas Beson­de­res. 

Ich fin­de es igno­rant, wenn ein Rei­sen­der sei­nen Blick so ver­engt, dass das kleins­te Ärger­nis für ihn wie eine Zumu­tung erscheint. Die Influen­ce­rin Misha Petrov etwa, die 462.000 Abon­nen­ten auf You Tube hat, glaubt wohl, dass sie das Recht dazu hät­te, vom Anblick der Armut ganz und gar ver­schont zu wer­den. Sie macht sich lus­tig über Men­schen mit ande­rer poli­ti­scher Ein­stel­lung. Ange­ekelt spricht sie in einem Video über die Nadeln, die Dro­gen­ab­hän­gi­ge auf Bür­ger­stei­gen in San Fran­cis­co lie­gen las­sen. Gleich­zei­tig posie­ren Influen­cer wie sie dann doch lächelnd und natür­lich per­fekt gestylt vor der Gol­den Gate Bridge. 

Ich bemer­ke die Not vie­ler Bewoh­ner auch. Gleich­zei­tig spü­re ich Soli­da­ri­tät, etwa als uns ein jugend­li­cher Afro­ame­ri­ka­ner vor Die­ben warnt. Oder als ein Bäcker namens Lou­ie Gut­ier­rez sei­ne Kun­den in spa­ni­scher Spra­che fragt, wie es ihnen geht und einem Kind Plun­der­teil­chen in Muschel­form schenkt. Ich lie­be die bun­ten Wand­ge­mäl­de der mexi­ka­ni­schen Ein­wan­de­rer im Mis­si­on Dis­trict. Den guten Cap­puc­ci­no im Bezirk North Beach, den Ein­hei­mi­sche Litt­le Ita­ly nen­nen. In Chi­na Town esse ich köst­li­che Dim Sum zu einem akzep­ta­blen Preis und unter­hal­te mich mit dem Koch. Als ich durch das Vier­tel Cas­tro lau­fe und Regen­bo­gen­fah­nen im Wind flat­tern sehe, schleicht sich San Fran­cis­co in mein Herz. 

Eine lie­be­vol­le Begeg­nung ist die mit Cyrus, er bie­tet eine Love Tour an, in einem alten VW-Bus. Als ich ein­stei­ge und mit dem alters­schwa­chen Sicher­heits­gurt auf dem Vor­der­sitz kämp­fe, der klemmt, höre ich eins mei­ner Lieb­lings­lie­der von Al Ste­wart, Year of the Cat. „Das ist mein Cor­po­ra­te-Iden­ti­ty-Song“, sagt Cyrus. Das Hand­schuh­fach, für das Cyrus den Schlüs­sel ver­lo­ren hat, hat er bunt bemalt. „Not all who wan­der are lost“ steht in schwar­zen Buch­sta­ben neben einem Van, der über grü­ne Ber­ge zuckelt. Cyrus erzählt mir, dass auch vie­le der Hip­pies abstürz­ten, weil sie mit LSD-Trips ihren Hori­zont erwei­tern woll­ten und dann nicht mehr los­ka­men von die­sem Teu­fels­zeug. Auch, dass eini­ge von ihnen heu­te ver­bit­ter­te Alte sei­en. 

In Haith Ash­bu­ry tref­fe ich Patrick Chan. Er ist 26 Jah­re alt und hat den Vin­ta­ge-Store „Room­ma­tes“ eröff­net. „Ich bin gegen Fast Fashion“, sagt er, „die Klei­dung der Mode­ket­ten wird in Bil­lig­lohn­län­dern pro­du­ziert und in mei­nem Leben spielt Nach­hal­tig­keit eine gro­ße Rol­le.“ Pat­ty hat sei­nen Second Hand Shop nicht gegrün­det, um schnel­les Geld zu ver­die­nen, son­dern als Koope­ra­ti­ve. Über die wirt­schaft­li­che Lage zu spre­chen, fin­det er lang­wei­lig. „What´s your sign?“ will er statt­des­sen von mir wis­sen. Wir phi­lo­so­phie­ren über unse­re Stern­zei­chen und spin­nen gemein­sam an Ideen, die unse­re Welt bes­ser machen könn­ten. Es gibt sie also doch noch, die Hip­pies, sie sehen nur etwas anders aus, lie­ben Pier­cings und statt Janis Jop­lin hören sie Mary­lin Man­son, den­ke ich.

Wäh­rend ich mit Patrick über den Wahl­sieg von Donald Trump rede, demons­trie­ren vor dem Mar­riott am Uni­on Squa­re Mit­ar­bei­ter. Das Hotel blo­ckie­re ihre For­de­run­gen nach einer Lohn­er­hö­hung, sagen sie. Die alte Visi­on der Hip­pies von einer Free Cli­nic kommt mir vor die­sem Hin­ter­grund pro­gres­siv vor.

Patrick und ich wer­den uns nie bes­ser ken­nen­ler­nen. Wir sind zu ver­schie­den, haben zu wenig Zeit für­ein­an­der. Den­noch reden wir offen über die Lie­be. Ich möch­te wis­sen, wie Men­schen in sei­nem Alter daten. Er erzählt mir, dass es schwie­rig sei, in einer Stadt wie San Fran­cis­co eine lang­fris­ti­ge erns­te Bezie­hung zu füh­ren, beson­ders für homo­se­xu­el­le Män­ner wie ihn. Nie­mand wol­le sich fest­le­gen. Patrick bewun­dert, wofür Hip­pies kämpf­ten. Die Frei­heit, alles sein und tun zu kön­nen, kön­ne aber auch eine Last sein, meint er. Jün­ge­re wie ihn trei­ben vie­le Fra­gen um: Was ist, wenn mein Her­zens­mensch auf ande­re Sachen steht als ich? Bin ich tole­rant genug? Sol­che Gedan­ken hat­ten die Hip­pies wohl kaum. 

Ich rei­se ungern ab. San Fran­cis­co hat mich mehr als ein­mal über­rascht. Ich hat­te mir die­se Rei­se ganz anders vor­ge­stellt und hät­te die­se Stadt auch ger­ne noch viel bes­ser ver­stan­den. Eins aber füh­le ich nach die­ser kur­zen, aber inten­si­ven Zeit: It is what is is. Love Actual­ly.  

Wir bedan­ken uns bei San Fran­cis­co Tra­vel und der United Air­lines für die Unter­stüt­zung der Recher­che.

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