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Der Monat Juli ist in der verlassenen Region Alcarria lila. Lila und weiß. Lila sind die tausenden Hektar Lavendel, die in ihren dicht gepflanzten Reihen zu einem einzigen, extravaganten Blütenmeer verschmelzen. Lila ist der kleine Ort Brihuega, das Epizentrum des Lavendelanbaus in Spanien, der nun während der Blütezeit der Heilpflanze in sämtlichen Violetttönen geschmückt ist. Und lila ist das Eis, der Käse, die Seife, der Likör, die Duftsäckchen und Etiketten der Biere, die jetzt im Juli auf dem Lavendelmarkt in dem 2000-Seelen-Dorf in der Provinz Guadalajara nordöstlich von Madrid verkauft werden.
Weiß hingegen sind die Menschen, die extra ihre schönste farblose Kleidung aus dem Schrank gezogen haben, um sich fast wie bei einem Ritual an den violetten Nuancen des Lavendels zu berauschen. Man könnte meinen, man befände sich auf einer exklusiven Party auf Ibiza, so jungfräulich weiß wandeln sie durch die Felder.
Weder die Besucher, noch das luxuriöse Gewächs passen in die sonst karge Landschaft der Alcarria mitten in Zentralspanien. Viel mehr sehen die kontrastierenden Farben und diese kitschige Schönheit aus wie aus einem Film von Paolo Sorrentino. Fast zu schön, um echt zu sein. Obwohl ich mich auf die Reise hierher vorbereitet habe, bin ich überwältigt von der Ausstrahlung dieses Ortes und frage mich, ob es einen Instagram-Filter gibt, der diese Kulisse besser in Szene setzen könnte als die Realität.
Natürlich hatte ich vorab davon gehört, dass man die Lavendelfelder um Brihuega unbedingt in heller Kleidung besuchen sollte. Ganz im Sinne eines Brauches, der sich mit den Jahren auf dem zu Ehren des Lavendel stattfindenden Musikfestivals etabliert hat. Deshalb bin auch ich bereits den ganzen Tag in einem langen weißen Kleid unterwegs, das zumindest mit meinen Birkenstocklatschen ein wenig praktischer für die Erkundungstour durch die Felder und die kleine Destillerie wird, in der ich mich für eine Führung angemeldet habe.
Noch immer fällt es mir schwer zu glauben, dass ich mich nicht in der Provence in Frankreich, sondern knappe 1 ½ Stunden von Madrid entfernt befinde, während ich hinter Susana, unserem Guide, durch die Lavendelfelder stakse. 6 unterschiedliche Sorten der edlen Pflanze werden hier in der Provinz Guadalajara angebaut. Jede einzelne von ihnen blüht leicht versetzt und unterscheidet sich im Aussehen und der Farbintensität ihrer Blüte. Sind die Setzlinge im Frühjahr erst einmal im Boden, sind die Pflänzchen pflegeleicht. Bis dahin allerdings ist der Weg vor allem anstrengend. „Im Herbst holen wir die abgemähten Überreste vom Feld, binden sie in Handarbeit zu kleinen Bündeln zusammen und lassen sie langsam Wurzeln bilden. Wir bereiten den Boden vor, wählen die stärksten Pflanzen aus und setzen sie Gewächs für Gewächs in die Erde“, erklärt uns Susana, die sich selbst als Bäuerin bezeichnet und seit Jahren auf dem Gebiet des Lavendelanbaus spezialisiert ist. „Sobald ihr Lila langsam in ein Grau übergeht, ist es für sie Zeit, zu hochwertigem Lavendelöl verarbeitet zu werden – ungefähr Anfang August“, sagt sie weiter und zeigt uns die Container, in denen die wohlduftende Essenz destilliert wird.
Warum das Öl so beliebt ist, wird mir klar, als ich in dem kleinen angrenzenden Laden ein Schild entdecke: Ein Tropfen auf die Unterseite des Kissens hilft gegen Schlaflosigkeit, zwei Tropfen an jede Schläfe sollen die Symptome einer Migräne lindern und mit 20 Tropfen aufgelöst in 250 ml Wasser hat man im Handumdrehen sein eigenes Aftersun hergestellt. Erstaunlich vielseitig diese Essenz, denke ich, während ich den hausgemachten Lavendellikör probiere und Susana schon die nächste Gruppe von rund 50 Leuten durch die Fabrik führt.
Um die 100.000 Menschen kommen mittlerweile jeden Sommer in die ländliche Region Alcarria. Eine Gegend, die außerhalb Spaniens bis vor einigen Jahren noch völlig unbekannt war und bei den Spaniern selbst eher als ein Mythos, denn als ein real existierendes Gebiet wahrgenommen wird. Der spanische Literaturnobelpreisträger Camilo José Cela war es, der nach dem spanischen Bürgerkrieg diesen leicht hügeligen Landstrich durchwanderte, auf der Suche nach der urspanischen Identität, die schon unzählige Schriftsteller vor ihm in Kastilien-La Mancha zu entdecken glaubten. Seine Erlebnisse hielt der junge Cela in seinem Reisebericht „Un Viaje a la Alcarria“ (deutscher Titel: Ein Vagabund im Dienste Spaniens) fest. Dort erzählt er von dem ärmlichen Leben in einer vom Krieg gezeichneten Region, die trotz weniger Perspektiven vor Lebendigkeit nur so strotzte. Letzteres hat sich seitdem kaum verändert.
Noch immer ist das weitläufige Gebiet um die Lavendelfelder geprägt von einem Phänomen, das in Spanien nicht mehr von der politischen Agenda wegzudenken ist: die Landflucht. Schon jetzt leben über 80 % der Spanier in den Großstädten des Landes. Die restlichen 20 % verteilen sich über eine Fläche, die größer ist als Deutschland. In Alcarria sind die wenigen Jobmöglichkeiten unattraktiv geworden; die Landwirtschaft ist zu hart und wirft dabei kaum etwas ab. Die nahegelegene Hauptstadt Madrid steht dem mit seinen vielen Optionen und Angeboten wie ein gähnendes schwarzes Loch gegenüber, das nach und nach die Bevölkerung der umliegenden Dörfer und Städte auffrisst.
Der Lavendel hat diesen endlosen Sog zumindest für den kleinen Ort Brihuega gestoppt. Die Essenz ist lukrativ, wird aufgekauft von großen Luxusmarken wie LOEWE, um daraus feine Parfums und Pflegeprodukte herzustellen. Der Landkreis ist mittlerweile für 10 % der weltweiten Produktion von Lavendelöl verantwortlich. Nicht zu vergessen sind die vielen kleinen Dienstleister und Manufakturen, die rund um den Lavendeltourismus entstanden sind und so neue Perspektiven für die Region schaffen.
Zu verdanken haben die Menschen in Brihuega diesen Boom dem Bauern Álvaro Mayoral, der in seinem Urlaub gern in die französische Provence reiste. Anfang der 1960er Jahre kam er auf die Idee, ein paar Lavendelpflanzen mit nach Hause zu nehmen und sie auf seinen eigenen Feldern einzupflanzen. Dem mediterranen Gewächs gefiel der steinige, trockene Boden der Region Alcarria so gut, dass Mayoral nach und nach seinen Lavendelanbau vergrößerte und schließlich auch andere Bauern von der Zucht der Heilpflanze überzeugen konnte. Noch immer steigen hier Landwirte von dem überwiegend angebauten Weizen und Gerste auf Lavendel um. Denn die duftende Pflanze bringt Wohlstand in die Region und gibt Familien die Chance zu bleiben.
Anders als die vielen immer leerer werdenden Dörfer und Weiler in Alcarria, ist Brihuega kein Landkreis mehr, den man irgendwann verlassen muss. Er ist zu einem Sehnsuchtsort geworden für Menschen, die sich verzaubern lassen wollen von der Schönheit der extravaganten Blüten des Lavendels, von seinem intensiven Duft und von der Ruhe, die man beim Betrachten der Felder unweigerlich in sich spürt.
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