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Auf einem Abschnitt von fünfzig Metern zähle ich fünf Nagelstudios. Leuchtreklame blinkt bunt und grell aus den Fensterläden der Kilburn High Road. Zwischen jene schieben sich zahllose weitere Geschäfte: individuelle Delis aus aller Welt, Kioske, Kebab Shops, pakistanische Cafés, auch vereinzelte Ketten: ein Aldi Supermarkt, Primark, TKmaxx. Gegenüber die Freiluft-Stände des Kilburn Markets. Gemüsehändler treten von einem Bein aufs andere, reiben sich ihre Hände im kalten Londoner Nieselregen, im Dezember 2019, als das Reisen noch möglich und Brent quicklebendig ist.
Zwischen roten Doppeldeckern wechsele ich die Straßenseite. Unversehens lässt sich flatternd ein Schwarm von Tauben auf dem Bürgersteig nieder. Mitten unter ihnen steht der Grund dafür: eine kleine Dame, schätzungsweise Ende Siebzig. Eine Gruppe pickt hektisch nach etwas am Boden, eine andere steht lauernd auf dem kniehohen Mauersims. Darauf drapiert die Dame gefüllte Fertigpizzakartons, eine Plastikschale mit Rucola, weitere Verpackungen, gefüllt mit Frühstückscerealien, Schinken, Käse.
Ob sie die Tauben damit füttern wolle, frage ich. Sie spreche kein Englisch, gibt sie zu verstehen, aber Portugiesisch, sie stamme aus Brasilien. Wir versuchen es auf Spanisch. „Ja, die Tauben kennen mich schon“, sagt sie, ihr dunkles Haar zum Dutt geknotet. „Ich fahre länger weg“, erzählt sie so strahlend wie leicht verwirrt. Ein Goldzahn blitzt aus ihrem Mund, ein anderer fehlt ganz. Sie zieht eine letzte Packung aus dem Beutel, winkt kurz und geht. Das Essen lässt sie unausgepackt auf der Mauer liegen. Die Tauben machen sich ans Werk. Verdutzt blicke ich ihr nach.
Die Kapuze über den Kopf gezogen, folge ich der Kilburn High Road südwärts, als eine nahe Stimme von hinten ruft: „You are a very, very lucky person”. Ich glaube nicht, gemeint zu sein, drehe mich dennoch um. Ein junger Mann, keine Dreißig, orangefarbener Turban, vermutlich ein Sikh, sieht mich an. Es wird klar, er meinte mich, doch geht weiter, ohne etwas zu wollen. „Why?”, frage ich neugierig hinterher. „You have a positive green spiritual aura, you are a very lucky person“, ruft er mir zu, während er kurz langsamer wird. „But sometimes you think too much”. Dann verschwindet sein orangener Turban zwischen Passanten.
Was ist hier gerade passiert? Sind diese Begegnungen purer Zufall oder ist dies die von Zadie Smith beschriebene „Kilburnosity“? Die Londoner Bestsellerautorin, Tochter eines britischen Vaters und einer jamaikanischen Mutter, wuchs hier auf, in „London NW“. So lautet auch einer ihrer Buchtitel. Der westlich an Hampstead grenzende Borough ist der diverseste in ganz London. Über 50 Prozent der fast 340.000 Einwohner des Bezirks wurden in einem anderen Land geboren.
Insbesondere irische und jamaikanische Einwanderer prägten diesen Bezirk, zu dem auch Kilburn, Willesden, Harlesden und Neasden zählen. Heute sind Menschen aus aller Welt hier zuhause. Smith verarbeitet den Geist dieser Gegend in vielen ihrer Bücher.
Wir waren in Camden und Greenwich, Kensington und Chelsea, doch Brent? Who the hell is Brent? Spätestens, wenn die Scheinwerferkegel der Megametropole in 2020 diesen Bezirk beleuchten, bekommt er die Chance, sich aus dem Schatten seiner größten und wohl einzigen Landmarke zu erheben: dem Wembley Stadion, das wie die Freiheitsstatue über den Bezirk zu wachen scheint. Denn in diesem Jahr ist Brent offizieller „London Borough of Culture“. Ins Leben gerufen hat das Projekt Londons Bürgermeister Sadiq Khan. Inspiriert durch das Konzept europäischer Kulturhauptstädte, will er rotierend Kunst- Kultur- und Community Projekte in London fördern – auch und gerade in weniger bekannten Vierteln. 22 von 32 Bezirken reichten bei dieser Ausschreibung vor über zwei Jahren ihre Konzepte ein. Waltham Forest im Nordosten gewann in 2019, Brent trägt den Titel in 2020. Die Überstützung aus der Londoner City Hall: 1,35 Millionen Pfund.
Eine, der Brent dies zu verdanken hat, heißt Lois Stonock. Die 35-Jährige Britin war an der Bewerbung von Brent als „London Borough of Culture“ beteiligt und ist heute künstlerische Leiterin des 10-köpfigen Kultur-Teams für das Jahr. Wir sind im „The Granville“ verabredet. In diesem alten Backstein-Gebäude, Community Center und Coworking-Space in West Kilburn, werden die Pläne für 2020 geschmiedet. Vor der graffitibesprühten, mannshohen Gartenmauer des Community Gartens sprießen Lavendel und Petersilie, von den letzten Blättern eines kleinen Apfelbaums perlen Regentropfen, Kräuter in Hochbeeten verabschieden sich in den Winterschlaf. Nebenan ragt ein graues Hochhaus gut 17 Stockwerke hinauf. Überall Kontraste. Eine Treppe führt hinauf zum Eingang, der in den großzügigen Community Bereich samt jamaikanischem Café mündet. In dieser „großen Villa“, einst eine Schwimmhalle, die immer noch nach Chlor zu riechen scheint, arbeiten heute rund 30 Start-Ups – im Unterschoss ist das „Team Brent“ beherbergt. Bunte Post-It´s voller Ideen kleben an der Wand.
„Wir wollten in einem Bezirk arbeiten, der nicht viel kulturelle Infrastruktur besitzt, daher haben wir Brent für die Ausschreibung gewählt“, erzählt Lois. „Uns interessiert, wie verschiedene Kulturen eine Community entwickeln können. Außerdem hat Brent eine wahnsinnig interessante Geschichte“. Die Institutionen hätten Brent „ignoriert und nicht auf dem Schirm gehabt, dabei ist es seit jeher das diverseste Viertel Londons“, sagt Stonock.
„Die Kilburn High Road herunter zu laufen, ist für mich die authentischste Version Londons“, schwärmt sie. „Städte auf der ganzen Welt beginnen sich mehr und mehr zu ähneln. Westminster oder Southbank – das könnte auch in New York oder Singapur sein. Überall dieselben Läden. Aber die Kilburn High Road ist für mich das pure London.“
Wer sie entlang spaziert, wandelt sogar auf den Spuren der alten Römer, denn ein großer Abschnitt geht auf sie zurück. Die heutige A 5 führt vom Marble Arch durch Brent und schließlich 400 Kilometer Richtung Nordwesten, bis in den walisischen Hafen Holyhead. Die Strecke war die Zuwandererroute Tausender Iren, die um 1840, in Zeiten größter Hungersnot, ihr Glück in London suchten. Bis heute lebt in Brent die größte irische Community Londons. Nicht nur zum St. Patrick´s Day locken ein paar ordentliche irische Pubs.
Die Geschichte des alten Straßennetzes bis ins Londoner Zentrum ist eines der vier „R“-Themen, die wie ein kultureller Kompass durch das Jahr führen: Roads. „Es ist zwar etwas kompliziert, kreuz und quer durch Brent zu navigieren, aber wir haben die meisten U‑Bahn-Stationen von allen“, erklärt Stonock, „trotzdem geht es mit einem Uber oft schneller.“
Ein zweiter Schwerpunkt: Rebellion. „Dabei geht es vor allem um die Aufstände der Migranten, die als Fabrikarbeiter für bessere Rechte kämpften und Ende der Siebziger die berühmten Grunswick Streiks lostraten, die letztlich zu humaneren Arbeitsbedingungen führten“, so Stonock.
Das dritte R: „In Anlehnung an den Nationalspieler Raheem Stirling steht ‚Raheem‘ in 2020 für alle Menschen in Brent“, erklärt Lois Stonock. Der junge jamaikastämmige Fußballer kam als kleiner Junge nach London und besuchte eine Schule in Wembley. Dort, wo er heute im Stadion als Fußballheld gefeiert wird. Mit klarer Stimme stellt er sich gegen den Rassismus, von dem auch er selbst nicht verschont bleibt.
Und schließlich das vierte Thema: Reggae. Stonocks Lieblingsprojekt. „In London weiß kaum jemand, wie wichtig Brent für den Reggae war“, erzählt sie. „Bei Reggae denkt jeder sofort an Lambeth und Brixton, dabei wurde Reggae in den 1970er Jahren vor allem in Brent groß. Die Geschichte ist unglaublich.“ Da sind die Cimarons, Dennis Brown oder Bob Marley, der zeitweise ebenfalls in Brent lebte. Da ist das Reggae Flaggschiff Label Trojan Records. Brent galt als inoffizielle Reggae-Hauptstadt außerhalb Jamaicas. Viele Musiker nahmen ihre Platten im BBMC Studio in Willesden auf. Unter ihnen auch Janet Kay, „die erste schwarze Frau, die einen Reggae Nummer 1 Hit landete“, so Stonock.
„Wenn du Zeit hast, schau dir unbedingt Harlesden an, nimm am besten die Bakerloo Line bis Willesden Junction, von da ist es nicht weit“, rät Stonock, „dort findest du immer noch die alten Plattenläden. Und am ersten Oktoberwochenende planen wir dort unseren großen ‚Bass Weekender‘“. Aus den Bars, Kirchen und Community Centern in der Harlesden High Street würden dann Reggae Beats erklingen.
Die Geschäftsinhaber auf der Harlesden High Street: aus aller Welt. Brasilianische Cafés, afrikanische Friseursalons, karibische Restaurants und Takeaways, Gemüsehändler offerieren auch „Halal Meat“ und schräg gegenüber von Technikgeschäft „Kabul Plaza“ wurde ein vormaliges Kirchengebäude in einen irischen Pub verwandelt. Statt aus Liederbüchern wird hier freitags Karaoke gesungen. International und bunt wie Kilburn, muss, wer die Welt bereisen will, auch das Viertel Harlesden im Grunde nicht verlassen.
Ein Stückchen weiter schließlich in blauen Lettern: Starlight Records. Auf dem Sims über der Eingangstür eine Bong mit Bob Marley-Emblem. CD´s und Vinyl stapeln sich in dem winzigen Ladengeschäft, Reggae schallt aus den Boxen. Hinter der Verkaufstheke sitzt lässig Inhaber Popsie Deer. Er trägt einen weißen Rauschebart, Sneaker und Jogginghose, eine schwarze Baskenmütze und lachende, braune Augen. Dem 71jährigen ist anzusehen: Er hat gelebt, gut gelebt. In den Siebziger Jahren gründete er das unabhängige Label „Starlight Records“, öffnete das Geschäft – und produzierte über eine Dekade lang zahlreiche Reggae Größen wie Dennis Brown oder Johnny Osbourne. Außerdem ging er mit dem „King of Reggae“ auf Tour.
„Das war schon ein ziemlich wildes Leben damals, als ich mit Bob Marley tourte“, erzählt er. Beide verband eine Freundschaft; Popsie Deer wurde sogar Patenonkel von Marley´s Sohn Julian, einem seiner zahlreichen Kinder.
Sein Label ist längst an Trojan übergegangen, das Plattengeschäft betrieb er weiter. „Meine vier Jungs sind erwachsen, wer weiß, vielleicht übernehmen sie den Laden noch“, hofft Deer, der im Alter von zwölf Jahren von Jamaica nach London kam, aber regelmäßig in die alte Heimat fährt. „Musik ist mein Leben, meine Liebe, meine Arbeit“, sagt er. Popsie Deer wirkt junggeblieben, fröhlich, beschwingt. Auf die Frage nach dem Rezept für ein gutes Leben fällt die Antwort erstaunlich bodenständig aus „Früh ins Bett gehen“, sagt er und lacht.
Noch vor Anbruch der Dunkelheit setze ich den Streifzug durch Brent fort: Es geht quer hinüber Richtung Neasden. Dort thront ein besonderes Kulturgut – von der anderen Seite des Globus: der außergewöhnliche Hindutempel Shir Swāminārāyan Mandir, kurz: Neasden Tempel. Er gilt als größter außerhalb Indiens. Über tausend Künstler schnitzten und formten in Indien über 26.000 Bauteile aus italienischem Marmor und bulgarischem Kalkstein nach hinduistischer Tradition. Tonnenweise nach London verschifft, wurde der pompöse Tempel von Freiwilligen in Neasden errichtet und 1995 eröffnet. Kein Stahlgerüst, kein Nagel hält den Bau zusammen.
Tempel Volontäre in weißen Gewändern laufen mit silbernen Tabletts umher, schlüpfen durch verzierte Türen, stellen Schalen mit Wasser, Opfergaben und frischen Blumen in den sieben Schreinen bereit, in denen Murtis, göttliche Abbilder, stehen. Es ist kurz vor vier Uhr nachmittags. „Sie haben sich mittags schlafen gelegt und werden gleich aufwachen und Durst haben“, erzählt ein Tempeldiener. Als es schließlich soweit ist, öffnet er die Türen der Schreine gänzlich. Götter aus Gold, verziert und behangen, strahlen aus drei Himmelsrichtungen. Die Altäre lassen das gesamte Sanktuarium, Herzstück des Tempels, erstrahlen. Fotos sind nicht erlaubt, ich versuche, mir Stimmung und Details einzuprägen. Die mit wunderschönen Ornamenten verzierten Marmorsäulen, die prächtige Kuppel, die verschnörkelten Bögen, in Licht und Glanz gehüllt. Einige Gläubige werfen sich vor den Abbildern Ganeshas oder Shivas mehrmals zu Boden, legen ihre Handflächen an der Stirn zusammen, murmeln Mantras. Die wenigen Touristen stehen staunend vor so viel Schönheit und Pracht, die Lichtjahre vom etwas schmuddeligen Neasden und der stark befahrenen North Circular Road entfernt zu sein scheint.
Es ist Zeit aufzubrechen. Ich sammele meine Schuhe ein, nachdem ein Volontär mir noch die riesige, angrenzende Gebetshalle zeigt. Dank Google Maps finde ich per Bus und Bahn leicht zurück zur „Kilburn“ Station. Im legendären Kilburn Theatre, weit über Brents Grenzen hinaus bekannt, lasse ich Erlebtes bei einem Café wirken. Brents Authentizität, sein vibrierendes Leben, die Musik, seine engagierten Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Seine Gerüche, Farben, seine Sprachen. Die vielen Brüche im Dschungel der Kulturen.
Kurz bevor ich den Bezirk Richtung West Hampsted wieder verlasse, stoppe ich noch vor dem ehemaligen Kilburn „National Ballroom“. In dieser alten Konzerthalle spielten einst legendäre Bands. Heute beherbergt das Gebäude eine freie Kirche, die am Eingang mit einem „Free Prayer“ wirbt.
Ich zücke mein Handy, starte Spotify und die öffentliche Playlist „Listening to Brent“. Play. Lausche einem Stück, live aus dem Ballroom. Im Oktober 1986 spielten keine zehn Meter von mir entfernt The Smiths. Verrückt. Dann „Sunday Bloody Sunday“, ein U2-Mitschnitt vom Live Aid Konzert im Wembley Stadion, Juli 1985. Play. Zu Bob Marleys „Stir it up, little darling, stir it up…“ biege ich schließlich wippend um die Ecke.
Antwort
Wunderbar geschrieben! Eine kleine sehr liebevolle Betrachtung auf die Menschen in Brent.
♡ Dankeschön!
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