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Als Corona seinen Schatten in alle Länder dieser Welt warf und die Menschen sich innerhalb von kurzer Zeit verbarrikadierten, da waren wir gerade an einem Strand im Nirgendwo in Costa Rica. Wir hatten vor, hier einige Monate zu bleiben, in unserer kleinen Einliegerwohnung bei einer netten Familie, den Ozean vor den Füssen und die nächste Stadt weit weg. Wir dachten, wir wären aus der Welt gefallen, hier an diesem einsamen Ort, an dem wir uns wie Robinson Crusoe fühlten, wenn wir Kokosnüsse knackten und uns aus Treibholz Hütten bauten. Unsere vierjährige Tochter durfte vormittags in die einheimische Schule, und wir genossen diese neue Phase unserer bisher fast einjährigen Reisezeit, die jetzt zur Abwechslung ohne tagelange Busfahrten und aufwendigen Recherchen auskam. Danach wollte ich gerne in Richtung Südamerika weiter. Meinen Mann zog es irgendwie durch Mittelamerika nach oben – und dann nach Kanada. Also gegensätzlicher konnten unsere Ansichten eigentlich nicht sein. Wir nahmen uns vor, unsere Vorschläge zu recherchieren und dann noch einmal zu reden, aber ich wusste, das würde viele Stunden am Handy bedeuten und viele Diskussionen und eigentlich hatte ich keine Lust drauf.
Und dann kam Corona nach Costa Rica.
Kaum waren einzelne Fälle von Covid-19 hier im Land bekannt geworden, kündigte das Nachbarland Panama schon an, den Flughafen und die Grenzen zu schließen. Knall auf Fall. Unsere Gastfamilie kam sonntagabends auf uns zu und meinte, wir sollten uns überlegen, ob wir nicht noch schnell unser Visum an der nahen Grenze auffrischen wollen. In manchen Ländern ist das ein Trick: Du gehst einmal schnell ins Ausland und bekommst bei der Einreise ein neues Visum, wieder für 3 Monate oder mehr. Ein absolutes Privileg, das hier viele auch dauerhaft lebende Expats nutzen, wie man die Einwanderer aus westlichen Industrienationen gerne nennt, um sie von den anderen Migranten abzugrenzen. Sie sprachen davon, dass Panama bald dicht machen könnte – und wussten zu dem Zeitpunkt selbst nicht, dass das schon 24 Stunden später Tatsache sein sollte. Unsere Überlegungen über unsere Weiterreise (Kanada oder Kolumbien? Panama oder Guatemala?) waren vom Tisch. Es gab eigentlich nur noch zwei Optionen: Hier bleiben oder zurück nach Europa. Und die zweite Option wurde nie ausgesprochen, weil sie uns so absurd vorkam.
Also fuhren wir dankbar mit der einheimischen Familie stundenlang durch Dschungel, über staubige Straßen und durch Palmenplantagen, um unser Visum zu retten. Unsere aufgeregten Kinder, zwei und vier Jahre alt, stritten sich um die Flasche Desinfektionsmittel, die wir dabeihatten, und es war so heiß, dass auch die Klimaanlage im Auto nur mühsam den Schweiß bekämpfen konnte. Zu dem Zeitpunkt waren unsere beiden Mädchen noch krank mit Husten und Fieber. Sie hatten sich über die Schule mit einem Infekt angesteckt, den viele Kinder in unserem Dorf gleichzeitig hatten. Versuch das mal einem Grenzbeamten zu erklären, der seine Grenze schließt, damit er keinen Husten und Fieber bekommt! Das Ziel des Tages für die Kinder war: So wenig wie möglich husten und nichts anfassen.
N I C H T S anfassen. Für eine Zweijährige ist das kein Verbot, sondern eine Aufforderung.
Als wir in Paso Canoas, der Grenzstadt zwischen Costa Rica und Panama, ankamen, sah es eigentlich so aus wie in den letzten Wochen auch schon. Viele Menschen wuselten auf den sich ineinander schlängelnden Straßen hin und her. Viele der kleinen Wellblechläden waren geöffnet, es gab frische Backwaren und gekühlte Getränke, Flipflops und säckeweise Maismehl im Angebot. Es war überhaupt nicht ersichtlich, wo das eine Land aufhört und das andere anfing. Diese Grenze ist wie eine Pfütze, in die verschiedene Rinnsale fließen, hier mischt sich alles, und wenn man Pech hat – so wie einige der dunkelhäutigen Flüchtlinge, die am Straßenrand saßen – dann bleibt man in der Pfütze und kommt eben nicht nach Amerika.
Wir checkten zuerst aus Costa Rica aus. Problemlos. Und dann mussten wir uns in die Schlange stellen, eine Straße weiter, um nach Panama einzureisen. Um uns herum waren viele Menschen aus den USA und Europa, denen es ähnlich ging: Sie wollten gerne in Costa Rica bleiben und deshalb einfach nur schnell ein neues Visum. Wir standen in einem Glascontainer, vor uns schweigende Menschen, hinter uns schweigende Menschen, und dahinter die mundbeschutzte Fachfrau fürs Fiebermessen, die das Fieber unserer kleinen Tochter nicht erkannt hatte. Glück gehabt. Es war so still in dem Glascontainer, eine Stille, die sich bei wichtigen Angelegenheiten wie ein Nebeneffekt über alles legt. Leider nicht über die Hustenattacken unserer Tochter. Wir waren so beschäftigt damit, die zwei Kleinkinder von jeglichen Oberflächen fernzuhalten und möglichst das Husten in Kleidung zu ersticken, dass wir nur verstohlen den Grenzbeamten beobachten konnten. Einer aus der Reihe trat an die Glasscheibe, reichte den Pass durch die Öffnung, zeigte auf dem Handy ein Flugticket mit Abflughafen Panama City, bekommt einen gestempelten Pass zurück, der nächste bitte. Und der nächste, und der nächste. Und dann wir. Ich legte unsere vier roten Pässe in Einweghandschuhe und sagte den Spruch, den ich in meinem besten Spanisch auswendig gelernt hatte. „Wir reisen in 12 Tagen wieder aus Panama City aus per Flug. Hier ist das Ticket.“ Bis jetzt lief alles nach Plan, so, wie unsere Gastfamilie es uns eingebläut hat, so, wie es bei allen anderen in der Schlange auch war. Und dann kam aus dem Glaskasten eine scharfe Frage. „Soso… nach Panama City also. Dann hätte ich mal gerne den Namen des Hotels und die Adresse. Por favor.“ Ich weiß nicht mehr, ob meine Tochter in dem Moment hustet oder nicht, ich kann mich an nichts erinnern außer an die misstrauischen kühlen Augen hinter der Scheibe. Aber wahrscheinlich wurde ich ziemlich rot im Gesicht. Das werde ich immer, wenn ich nervös bin. Und dann nahm ich all meinen Mut zusammen und stammelte etwas. Das hatte ich nicht unbedingt auswendig gelernt. „Wir wollen eigentlich nur wieder zurück nach Costa Rica. Wir haben hier ein Zuhause und können hier in der Krise bleiben. Bitte lassen Sie uns durch. Wir wollen gar nicht nach Panama.“ Es war still, ewig still, mehr als nur ein Nebeneffekt. Die Hintergrundmusik wie im Hollywoodfilm fehlte. Es wäre wohl ein nervöses Klopfen, das von einem wimmernden Cello unterbrochen wird. Dumpfe, unheimliche Töne, im Hintergrund der Beat der Ungewissheit. Und dann plötzlich der laute Schlag eines Stempels auf einen Pass. Ohne einen Kommentar wurden die Pässe zurückgereicht. Meine Augen antworteten, was ich auf Spanisch nicht ausdrücken kann, und wir gingen so schnell wie möglich weiter, zurück auf die Straße, zurück auf den Boden, der jetzt Panama war und später Costa Rica sein würde für uns.
Wir waren so froh, dass wir die Grenze mit all den nervösen Beamten, mit den verirrten Backpackern, und Hamsterkäuflern verlassen konnten. Zurück in der Wildnis, am Strand, dachten wir, das war es jetzt an Stress. Doch dem war nicht so. Kurze Zeit später wurden wir aus Europa angeschrieben, aus Deutschland und aus der Schweiz. Ob wir nicht daran dächten, zurückzukommen! Es gingen Rettungsflüge von den Regierungen und wir sollten uns doch schnell auf den Weg in die Hauptstadt machen. Besorgte Anrufe, zig WhatsApp-Nachrichten. Es ginge um unsere Sicherheit, um Anarchie und Apokalypse, um zusammenstürzende Krankenhäuser und raubende Banden. Um unsere Kinder. Und immer wieder um uns, die wir uns fragten, ob wir jetzt völlig unverantwortlich handelten oder doch die einzig nicht panischen Menschen in dieser Konversation waren. Und so machten wir uns auf die Google-Suche und meldeten uns – zum ersten Mal – bei der Botschaft.
„Guten Tag, ich rufe an, weil ich wissen will, wo ich mich melden kann. Ich möchte nicht aus Costa Rica gerettet werden, ich möchte einfach nur, dass Sie wissen, dass es mich gibt.“
„Ah hallo, ja gut. Dann tragen Sie sich in die Rettungsliste ein.“
„Ich möchte aber nicht ausgeflogen werden.“
„Egal. Sie können immer noch ablehnen. Eine andere Liste haben wir nicht.“
„Ach so. Ja, ist es denn vertretbar, wenn ich hierbleibe?“
„Ja, warum denn nicht. Der Virus ist ja überall.“
„Okay.“
„Schönen Tag noch.“
Seitdem haben wir ein ruhiges Gewissen. Und bekommen im Wochentakt Emails von der deutschen und der Schweizer Botschaft, dass wir morgen früh den letzten Flug erwischen könnten. Ich lösche die Mail jedes Mal, ohne mit der Wimper zu zucken.
Die Tage fließen. Ganz Costa Rica ist in Quarantäne. Am Anfang war es (wie wahrscheinlich überall auf der Welt), wie wenn ein Teenager urplötzlich nicht auf die Party darf. Der eine weint, die andere bockt, und der dritte schleicht sich einfach durchs Fenster. Doch das hat sich gelegt, und die Menschen nehmen die Situation ernst. Unsere Gastfamilie besonders. Wir desinfizieren sogar jede Tomate und jede Müslipackung, die ins Haus kommt. Auch wenn mein Drang, Studien zu zitieren und Übertragungsstatistiken zu erwähnen, groß ist, schlucke ich ihn herunter. Ich bin Gast und als Gast lächle ich und bin dankbar.
Das Leben geht weiter, und der Unterschied zu vorher ist erschreckend gering. Denn hier am Strand ist jeder automatisch ein bisschen Eremit. Die Häuser sind weit voneinander entfernt, es gibt hier keinen Dorfplatz und jede Menge Urwald. Menschen sehe ich von weitem auf einem Fischerboot oder auf einem Motorrad zu dritt vorbei sausen. Sonst nicht. Wir stehen morgens früh auf, wenn die Temperaturen noch angenehm sind. Wir machen Sport, die Kinder spielen im allgegenwärtigen Sand, die Papageien streiten sich in den Bäumen über uns. Wir streiten auch manchmal, aber dann kann ich leider nicht empört davonfliegen.
Ansonsten haben wir uns daran gewöhnt, zu viert auf engem Raum zu leben, zu kochen, zu singen und zu schlafen. Unsere Einzimmerwohnung ist zwar klein, aber der Garten ist unser Wohnzimmer. Täglich hat jeder Erwachsene Zeit für sich, zum Spanischstudium, zum Lesen oder Telefonieren. Unsere zwei blonden Nachkömmlinge, die sich an verregneten Nachmittagen auch ineinander verbeißen können, streunen an den vielen sonnigen Tagen friedlich durch das Treibholz, zwischen Hühnern und Hunden. Es gibt Sandkuchen, Sandburgen, Sand im Bett. Unsere Gastfamilie ist auch immer wieder im Garten, wir grillen mal zusammen, feiern Ostern oder einen Geburtstag. Während die Erwachsenen am Lagerfeuer sitzen und sich von ihren Abenteuer erzählen, lachen die Kinder über Sternschnuppen und springen von Baumstümpfen. Es ist ein Paradies unter Palmen und wahrscheinlich die beste Kindheitserinnerung aller Zeiten.
Da ist aber noch die andere Seite. Die vielen Stunden voller Nachrichten, Telefonate, Sorgen. Wer ein globales Herz hat, der leidet mit. Wir haben viele Heimatländer und adoptierte Heimatländer. Und Freunde weltweit. Große und kleine Tragödien. Menschen, die jetzt ihren Job verlieren, die krank sind, die nicht wissen, woher das Essen auf den Tisch kommen soll. Das kommt hier in Costa Rica auch vor. Zwar kann jeder ins Krankenhaus gehen und wird kostenlos behandelt, und der Staat übernimmt Strom- oder Gasrechnungen für bedürftige Familien. Doch wenn die Touristen wegbleiben, trifft es das Land hart und nachhaltig. Da ist auch eine Essenslieferung nicht genug. Weil die Schulen geschlossen wurden, hat die Regierung beschlossen, das Schulessen auszuliefern. Jedes Kind bekommt seine Ration in Form von einem Reissack, liebevoll eingepackten Tomaten und Konserven. Auch wir haben das geliefert bekommen, eine weiße Plastiktüte stand am Tor und wir mussten unterschreiben, dass wir unsere Tochter für die nächsten drei Wochen damit durchfüttern. Wenn ein ganzer Clan davon isst, reicht es wahrscheinlich nicht mal eine Woche. Uns erspart es den Anruf beim Supermarkt, andere rettet es durch diese Zeit. Oder auch nicht. Unser Privileg, reiche Europäer mit Perspektive zu sein, tragen wir wie einen riesigen Talisman um den Hals. Er beschützt. Und er juckt. Manchmal drückt er so schwer, dass wir nicht mehr richtig atmen können.
Unsere Probleme sind viel kleiner. Wir sind in einem Land, von dem wir absolut keine Ahnung haben, angewiesen auf Menschen, die wir nicht so gut kennen wie unsere Familie. Wir können nicht spazieren gehen – der nahe Strand und die Straße sind gesperrt, alle öffentlichen Plätze geschlossen. Die Polizei kontrolliert auch den einsamen Strand mit Helikoptern und Booten, wer erwischt wird, soll angeblich horrende Strafen zahlen müssen. Auto fahren darf man nur an bestimmten Tagen, und unsere Gastfamilie – die das Auto besitzt, wir nicht – verzichtet schon länger auf Einkaufsausflüge. Alle 2 Wochen wird uns Nachschub an Mehl und Reis geliefert, einmal in der Woche kommt der Lieferant mit frischem Obst und Gemüse. Es ist ein traumhaftes Leben in Sicherheit, und doch ist es ein Gefängnis. Und an Tagen, an denen dann ein Kleinkind ständig weint, die Bohnen anbrennen oder die Sehnsucht nach den Menschen außerhalb der Grundstücksmauern zu groß wird, da würde ich am liebsten ausbrechen. Einfach die Straße weiterlaufen, durch den Dschungel, einfach, um mal alleine und woanders zu sein. Unsere Probleme sind kleiner, aber sie können manchmal Tonnen wiegen.
Während in Europa schon die Lockerung angekündigt wird, hält sich die Regierung von Costa Rica jetzt gerade noch bedeckt. Die vergangenen Wochen verschwimmen vor meinen Augen, ich habe keine Ahnung, wie lange wir schon in Quarantäne sind, und wie lange wir hier bleiben. Es kann noch ein Monat sein, oder auch mehr. Die Vorstellung, hier unter Palmen zu bleiben, uns entfalten zu können und als Familie zusammen zu sein, fühlt sich gerade gut an. Und das darf auch noch ein paar Wochen so weiter gehen. Aber wir wissen auch noch nicht, was wir danach machen. Natürlich würden wir gerne weiterreisen, weiterhin Länder entdecken, Spanisch üben, in der Natur sein. Aber die Welt ist eine andere geworden, eine, in der wir unser Privileg, das uns als Europäer über fast jede Grenze befördert, ablegen müssen. Wie eine Kette, die im Schmuckkästchen verschwindet. Und dann stehen wir da mit nacktem Hals, so, wie es viele andere Menschen schon immer tun, und sind doch nicht wie sie. Wir stehen also da, und wissen nicht, wie es für uns weitergeht. Doch als wir uns dafür entschieden, auf Weltreise zu gehen ohne einen Rückkehrplan in der Hinterhand, nicht an die Zukunft zu denken, sondern durch das Hier und Jetzt zu reisen, da haben wir uns auch für ein echteres Leben entschieden. Ein Leben, aus dem trügerische Sicherheiten und Stabilitäten weggewischt wurden. Das voller spontaner Einfälle, intensiver Momente und großer Offenheit ist. In diesem Leben suhlen wir uns, wir lernen seit Monaten, uns im Hier und Jetzt zurechtzufinden. Und das ist gut so.
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Das klingt ja abenteuerlich. So stelle ich mir meine Ferien in Costa Rica nächsten Winter zwar nicht vor, aber dennoch macht es mir noch mehr Lust auf diese Reise. Ich hoffe, dass nicht noch mehr schiefläuft und wünsche alles Gute!
Spannende Geschichte! Schön geschrieben.
Schön geschrieben. Wie schön ist es auch zu sehen dass ihr eine nette einheimische Familie getroffen hat die euch in dieser Krise unterstützt. Viel Spass zusammen. Bleib gesund! Gruesse, JB
Was für ein schöner Text, danke für den Einblick in deine Gedanken. Wie gern würde ich heute bei euch am Lagerfeuer sitzen und über Sternschnuppen lachen. In Gedanken werde ich das tun!
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