Wenn die Flugzeuge nicht mehr fliegen

Die Welt als Coro­na-Knast

Ich lie­ge auf dem Bal­kon in der Son­ne, schaue in den tief­blau­en Him­mel. Es ist ruhig. Zu ruhig. Etwas fehlt. Da sind kei­ne Flug­zeu­ge mehr. Es fehlt der Lärm von Moto­ren, die alle paar Minu­ten kurz vor Ankunft auf oder kurz nach Abflug von dem Ham­bur­ger Flug­ha­fen auf­heu­len. Statt­des­sen höre ich, wenn über­haupt, Vögel. Oder Nach­barn, die aus dem Home-Office Tele­fon­kon­fe­ren­zen abhal­ten. Es ist sehr, sehr still gewor­den am Him­mel. Was auch eine tol­le Sache ist. Weni­ger CO2-Emis­sio­nen, ein klit­ze­klei­nes biss­chen weni­ger Belas­tung für das Kli­ma und weni­ger mora­li­sche Kon­flik­te für alle, die stän­dig gespal­ten waren zwi­schen Fern­rei­se­lust und Kli­ma­frust. #sta­ya­thome lau­tet die Devi­se zu Beginn des Früh­lings 2020, #flug­scham scheint ein Pro­blem aus einer ande­ren Welt.

Aus einer Welt, wo es noch ging, das Rei­sen. Wo ein deut­scher Pass die Tore zu fast allen Gren­zen der Welt auf­schwin­gen ließ und sich vie­le zu die­ser Jah­res­zeit mit der Qual der Wahl plag­ten, ob es im Som­mer nun nach Mal­le oder doch lie­ber nach San­to­ri­ni gehen sol­le, nach Aus­tra­li­en oder Kali­for­ni­en, oder aber auch nur an die Nord- oder die Ost­see. Denn es ist wahr: Nicht nur die Gren­zen zu den Nach­bar­län­dern sind plötz­lich dicht, ein Ham­bur­ger kann noch nicht ein­mal mehr einen Tages­aus­flug nach St.-Peter-Ording oder an den Tim­men­dor­fer Strand unter­neh­men. „Tou­ris­mus“ in Schles­wig-Hol­stein oder Meck­len­burg-Vor­pom­mern? Ein Unding, kei­ner darf rein, kei­ner soll raus. Wir, die Gene­ra­tio­nen YZ, die wir die Rei­se­frei­heit als so selbst­ver­ständ­lich hin­ge­nom­men haben, sind plötz­lich ein­ge­sperrt. Nicht im eige­nen Land, nein, viel schlim­mer noch, im eige­nen Bun­des­land oder, falls die­ses nur eine Stadt dar­stellt, inner­halb der Gren­zen der eige­nen Stadt.

Im Janu­ar begann ich, auf Net­flix eine Knast-Serie zu schau­en. Ich erin­ne­re mich, wie ich mei­nem Part­ner damals sag­te, das Aller­schlimms­te im Leben wäre für mich, ins Gefäng­nis zu müs­sen, mich nicht mehr frei bewe­gen zu kön­nen. Rei­sen zu kön­nen. Das war vor gut zwei Mona­ten. Heu­te bli­cke ich mit einem bit­ter­sü­ßen Lächeln auf die­sen Moment zurück. Ver­ste­he die stren­gen Maß­nah­men in Deutsch­land und in vie­len wei­te­ren Län­dern, um beson­ders älte­re und bereits kran­ke Men­schen zu schüt­zen. Men­schen aus der Gene­ra­ti­on mei­ner Mut­ter, aber auch jün­ge­re, die auf­grund von Erkran­kun­gen schon in den letz­ten Jah­ren viel­leicht nicht die gro­ße Frei­heit leben konn­ten, wie ich und even­tu­ell auch du sie genie­ßen durf­ten. 

Nein, ich habe sie nie als selbst­ver­ständ­lich hin­ge­nom­men, die­se Mög­lich­keit, den Plas­tik­glo­bus daheim zu dre­hen und mit dem Fin­ger blind auf einen Fle­cken der Welt zu tip­pen, wo ich hin­woll­te. Weil ich es konn­te, weil ich es mir als Rei­se­jour­na­lis­tin hart erar­bei­tet hat­te, weil es mein Beruf und mein Leben war, die Welt ken­nen­zu­ler­nen und sie ande­ren schmack­haft zu machen. Es war das Rei­sen selbst, das mir mein Pri­vi­leg vor Augen führ­te, immer und immer wie­der. Oft habe ich auf mei­nen Pass gestarrt und vor allem eins ver­spürt: Dank­bar­keit. Für die Frei­heit, die er mir schenk­te. Frei­heit, die der fast zahn­lo­se Wan­der­füh­rer auf den Kap­ver­den, der über­haupt kei­nen Pass hat­te, nie ver­spü­ren wür­de. Oder die 30-jäh­ri­ge Mut­ter von zehn, die in Kolum­bi­en in einem ver­grö­ßer­ten Hüh­ner­stall mit Well­blech­dach im Off einer Groß­stadt aus­harr­te. Oder der Fids­chia­ner, der am Strand einer weni­ge Qua­drat­ki­lo­me­ter gro­ßen Traum­in­sel ver­such­te, sein vom Zyklon zer­stör­tes Gäs­te­haus wie­der zusam­men­zu­schus­tern.

Die­se drei Men­schen wur­den für mich zum Sinn­bild der Un-Frei­heit, wie sie doch eigent­lich die meis­ten Men­schen ver­spü­ren, in deren Welt unser­eins auf Rei­sen hin­ein­pol­tert und die wir klamm­heim­lich wie­der ver­las­sen. Stets mit einem zumin­dest leich­ten Anflug von schlech­tem Gewis­sen, weil wir wie­der weg­kön­nen, zurück in unse­re hei­le Welt, wäh­rend der Wan­der­füh­rer oder die ver­brauch­te jun­ge Mut­ter oder der Fids­chia­ner mit Holz­split­tern in den Fin­gern zurück­blei­ben. Ich brauch­te kein Coro­na, um mir mein Pri­vi­leg vor Augen zu füh­ren, um Dank­bar­keit und Demut zu ver­spü­ren. Aber viel­leicht brauch­te ich Coro­na, um sie selbst ein ein­zi­ges Mal am eige­nen Leib zu erle­ben, die­se ein­set­zen­de Hoff­nungs­lo­sig­keit, die­ses Gefühl der Hilf­lo­sig­keit, der Ohn­macht, wenn ein­fach nichts mehr geht. Man fest­sitzt und vor eine Wand starrt. Bes­ten­falls. Und selbst in mei­ner Un-Frei­heit füh­re ich mir tag­täg­lich vor Augen, wie ver­dammt gut es mir doch noch geht. Weil ich sta­bi­le Wän­de um mich her­um und mehr als ein Well­blech­dach über dem Kopf habe und einen Was­ser­hahn, aus dem sau­be­res Trink­was­ser kommt und eine Hei­zung und einen Bal­kon und einen funk­tio­nie­ren­den Inter­net­zu­gang. Die Lis­te ist lang. Ich habe, also bin ich?

Ist dies das Mot­to, dann habe ich und hast wahr­schein­lich auch du noch jetzt alles, was es im Leben wirk­lich braucht. Neben mehr als genug zu essen hof­fent­lich auch reich­lich Klo­pa­pier und eine gro­ße Aus­wahl an Seri­en für die ein­sa­men Stun­den daheim. Und doch mer­ke ich, dass der kap­ver­di­sche Wan­der­füh­rer und die kolum­bia­ni­sche Mut­ter und der fids­chia­ni­sche Gast­ge­ber mir gegen­über nun einen gro­ßen Vor­teil haben: Sie ver­mis­sen nichts. Sie kön­nen nicht ver­mis­sen, was sie nie gekannt haben. Was sich ihnen in Kopf und Herz fest­ge­setzt hat. Das Rei­sen. An man­chen Tagen füh­le ich mich wie ein Süch­ti­ger auf Ent­zug, mei­ne Füße schar­ren unterm Tisch und ich fürch­te, zu ersti­cken. Luxus­pro­blem, oder, wie ein ser­bi­scher Kum­pel von mir so ger­ne sagt „First-World-Pro­blem“. O ja, wer sie ein­mal gekannt hat, die Frei­heit, die Rei­se­frei­heit, wem ein­mal die Welt zu Füßen lag, der kann sich inner­halb der eige­nen Stadt­gren­zen nicht auf ewig glück­lich füh­len.

Ande­rer­seits ver­fol­ge ich begeis­tert Nach­rich­ten über eine sau­be­re­re Atmo­sphä­re über fast lahm­ge­leg­ten Städ­ten, die sich sogar aus dem Welt­raum erken­nen lässt, über kla­re­res Was­ser in Vene­digs Kanä­len und über Wild­tie­re, die irgend­wo ver­gnügt an men­schen­lee­ren Strän­den her­um­hop­sen. Es ist, als hät­te die Welt die Arsch­kar­ten neu gemischt und sie aus­nahms­wei­se als Ers­tes ein­mal unter den First-World-Men­schen aus­ge­teilt. Haben wir es so ver­dient? Die Men­schen hier, gera­de die Älte­ren, die ernst­haft erkran­ken und lei­den, bestimmt nicht. Aber was ist mit der Lek­ti­on, die wir ande­ren, die gro­ße Mas­se, ler­nen kön­nen, wenn wir nur wol­len? Gera­de auch wir Rei­se­men­schen? Ich jeden­falls habe mich bereits vor der Kri­se gefragt und fra­ge mich nun noch mehr, wie ich in Zukunft rei­sen möch­te.

Dass ich wie­der rei­sen wer­de, sobald es mög­lich ist, ist für mich mit einem Aus­ru­fungs- statt mit einem Fra­ge­zei­chen ver­se­hen. Doch wie möch­te ich rei­sen? Und was möch­te ich über das Rei­sen ver­mit­teln? Es ist mein Job, über Län­der und Kul­tu­ren und Men­schen zu berich­ten, aber auch über Arten von Rei­sen. Gehö­re ich zu den Men­schen, die nur noch die Meck­len­bur­gi­sche Seen­plat­te neben­an besu­chen wer­den und nie wie­der ein Flug­zeug bestei­gen wol­len bezie­hungs­wei­se sich über jede Air­line freu­en, die durch die Kri­se kaputt­geht? Nein. Aber ich gehö­re zu den Men­schen, die über Ver­än­de­run­gen beim Rei­sen nach­den­ken und über Alter­na­ti­ven zu bis­her gän­gi­gen Rei­se­for­men.

Wie wich­tig Rei­sen ist, ist mir per­sön­lich nicht erst jetzt klar. Und auch nicht nur des­halb, weil ich selbst nun mal ein Mensch bin, den Neu­gier und Aben­teu­er­lust immer hin­aus in die Welt spü­len. Son­dern viel­mehr auch des­halb, weil es welt­weit Mil­lio­nen oder Mil­li­ar­den von Men­schen gibt, die auf Besu­che aus der First World ange­wie­sen sind. Der Wan­der­füh­rer auf den Kap­ver­den eben­so wie der Fids­chia­ner, der sein Gast­haus für die Besu­cher aus aller Welt fer­tig­baut oder die Mut­ter in Kolum­bi­en, deren Kin­der auf eine aus dem Aus­land finan­zier­te Schu­le mit frei­wil­li­gen Leh­rern aus der First World gehen. Ich möch­te rei­sen, ja, aber nicht nur mei­ner selbst oder der Insta­gram-taug­li­chen Fotos oder der Blau­er-Him­mel-wei­ße-Strän­de-Geschich­ten wegen.

Ich möch­te rei­sen, um dazu bei­zu­tra­gen, dass Men­schen wie die drei genann­ten und vie­le mehr eines Tages ein klein wenig des­sen ver­spü­ren kön­nen, was mir gera­de unheim­lich fehlt – Frei­heit. Und wenn es nur die Frei­heit ist, jeder­zeit durchs eige­ne Land zu rei­sen, ohne dass ihnen schon dazu die Mit­tel feh­len. Ich möch­te mich mehr in Pro­jek­te hin­ein­knien, wo Tou­ris­mus tat­säch­lich etwas zur Ver­bes­se­rung der Lebens­be­din­gun­gen von Ein­hei­mi­schen bei­trägt. Wo die First World auf eine weni­ger pri­vi­le­gier­te Welt trifft und ihr genau­so die Hand reicht, wie es gera­de in Deutsch­land die Jün­ge­ren für die Älte­ren tun, um für sie ein­zu­kau­fen. Aber auch Pro­jek­te, wo nicht nur in Men­schen, son­dern auch in Natur und die Tier­welt inves­tiert wird. Wie ich es 2018 erleb­te, als ich an einer Schnee­leo­par­den-Expe­di­ti­on in Kir­gi­stan teil­nahm. Wie ich es die­ses Jahr in Kenia oder Bots­wa­na tun woll­te, wo Tie­re und Natio­nal­parks teil­wei­se nur Schutz bekom­men, wenn aus­rei­chend Tou­ris­ten­gel­der dies unter­stüt­zen.

Die Mög­lich­kei­ten, durch Rei­sen nicht in ers­ter Linie die Welt zu ver­pes­ten, son­dern ihr etwas zurück­zu­ge­ben, sind viel­fäl­tig – man muss sie nur fin­den. Genau dar­an den­ke ich, wenn ich von der Fer­ne träu­me, wenn die sta­bi­len vier Wän­de schritt­wei­se auf mich zurü­cken und das sta­bi­le Dach gefühlt immer tie­fer hängt. Denn ich bin mir sicher, weil ich eben in der pri­vi­le­gier­ten First World lebe, dass für mich die Flug­zeu­ge eines Tages wie­der flie­gen wer­den. Und dass ich ab und zu ger­ne wie­der in einem drin­sit­zen wer­de, um die­ses Pri­vi­leg best­mög­lich zu nut­zen und in mei­nen beschränk­ten Mög­lich­kei­ten auf die Men­schen zuzu­ge­hen, die sich immer so füh­len wie ich jetzt. Weil wir nun mal in einer Welt leben, wo das, was einer jetzt gera­de in Wuhan auf einem Vieh­markt isst, eine direk­te Aus­wir­kung dar­auf haben kann, wie mein und dein All­tag mor­gen aus­se­hen.      

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Antworten

  1. Avatar von KiTho

    Eine berüh­ren­de Sto­ry über das was uns alle bewegt .… Wie geht es wei­ter? Was erwar­tet uns? Toll geschrie­ben …
    Wir woll­ten eigent­lich jetzt rich­tig anfan­gen und unse­ren Blog umge­stal­ten und unse­re Erleb­nis­se sor­tie­ren und auch für Rei­sen­de auf­schrei­ben, aber … dann kam Coro­na 🙁
    Lei­der haben wir unse­re Welt­rei­se vor­zei­tig been­den müs­sen und sind mit dem letz­ten Flie­ger aus Aus­tra­li­en (Rück­hol­pro­gramm) zurück nach Deutsch­land.
    Aber, wir sind froh über das, was wir in den letz­ten 8,5 Mona­ten noch erle­ben durf­ten … unse­re Rei­se­be­rich­te haben wir auf http://www.weltweg.de doku­men­tiert.
    Bleib gesund und viel Erfolg wei­ter­hin …
    Kirs­ten & Tho­mas

    1. Avatar von Bernadette

      Hal­lo ihr bei­den, dan­ke, freut mich, dass euch der Text gefal­len hat. Ja, es ist lei­der wirk­lich sehr unge­wiss mit dem Rei­sen, aber ich bli­cke mal zuver­sicht­lich in die Zukunft. Wenn es auch heu­te und mor­gen noch nicht mög­lich ist, dann viel­leicht über­mor­gen, und hof­fent­lich wer­den wir es dann alle noch mehr zu schät­zen wis­sen. Wie gut, dass ihr gera­de noch zurück­ge­kom­men seid, das war bestimmt ganz schön stres­sig. Bleibt gesund und reist erst ein­mal im Kopf ein biss­chen wei­ter.
      LG
      Ber­na­dette

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