Island im Winter

Seit ich selbst die Nachrichten verfolge ist Island ein quasi omnipräsentes Thema in den Medien: Auf den wirtschaftlichen Shutdown des Landes 2008 folgte im März 2010 der Vulkan Eyjafjallajökull, der über mehrere Wochen den europäischen Flugverkehr lahmlegte. Bei der Europameisterschaft 2016 sorgte das Erreichen des Viertelfinales und der immer wieder eingeblendete Schlachtruf „Huh!“ für große Solidarität auf Seiten meiner Freunde und mir. Im Fernsehen erscheinen regelmäßig fantastische Naturdokumentationen über die Insel und schließlich ist Island ein absoluter Dauerbrenner auf Instagram und Co. Nun war es einfach an der Zeit einmal selbst hinzufahren.

Nachdem meine gute Freundin Tine vor fast 20 Jahren ein Auslandsjahr auf Island verbrachte, bekamen wir die einmalige Gelegenheit uns ihr bei einem erneuten Besuch anzuschließen. Es war nicht leicht einen passenden Termin für alle Beteiligten zu finden. Letztendlich kamen wir auf Ende Dezember. Dezember hieß auch: Sonnenaufgang um 11:30 Uhr, nur drei Stunden Sonne und ewig lange Dunkelphasen. Doch in meiner Vorstellung malte ich mir bereits aus, wie schroffe Felsen und beeindruckende Bergspitzen in einer glitzernd weißen Hülle erstrahlten, wie mit Sonnenaufgang die Landschaft für drei Stunden in ein gold-gelbes Licht getüncht würde und wie in den langen Dunkelphasen zwischen Sonnenunter- und Sonnenaufgang majestätische Nordlichter die tiefschwarze Nacht erhellten. Island im Winter bedeutete also viel Zeit für Nordlichter, Zeit zum Ausschlafen und eine immerwährende goldene Stunde. Das klang gut, wieso nicht.

Zwischen Naturwunder und Disneyland

Über Neujahr fliegen wir also für zehn Tage nach Island. Ich war mir sicher, dass wir zu dieser Jahreszeit zu den wenigen Besuchern des Landes zählen würden. Als wir am ersten Tag unserer Reise den Wasserfall Gullfoss besuchen, werde ich eines Besseren belehrt. Das Spektakel des Wassers ist ohne Zweifel beeindruckend. Nicht weniger beeindruckend ist jedoch die Anzahl an Reisebussen, Sprintern und aufgemotzten Jeeps die vor dem kürzlich errichteten Visitor Center stehen. Hand in Hand mit Islands großer Medienpräsenz stiegen in den letzten Jahren offensichtlich auch die Touristenzahlen. Heute ist der Tourismus Islands wichtigster Wirtschaftszweig. Etwa 2 Millionen Besucher kamen 2017. Die Zahlen werden jährlich um teilweise 40 Prozent gesteigert. Über angelegte Holzstege nähern sich Busladungen von Menschen der starken Gischt des Wasserfalls. Statt weißem Schnee erleben wir Regen und starken Wind.

Auch an der nächsten Sehenswürdigkeit, dem Geothermalgebiet Haukadalur mit seinem Geysir Strokkur finden wir uns in einer Mischung aus Naturwunder und Disneyland wieder. Auch wenn die beißende Kälte viele Touristen in das große Restaurant und den überdimensionierten Souvenirshop des Visitor Centers treibt, bestaunen wir den bis zu 35 Meter hochspringenden Geysir wahrlich nicht alleine. Wer fremde Menschen auf seinen Fotos nicht leiden kann, sollte seine Kamera gleich ganz zu Hause lassen. Wo sind sie bloß, die magischen Landschaften Islands?

Ein Besuch auf der Halbinsel Snaefellsnes lässt uns die landschaftliche Vielfalt der Insel erahnen. Rauschende Wasserfälle, beeindruckende Klippen, ein fast bedrohlich aufschäumendes Meer und der ikonische Berg Kirkjufell – all das innerhalb von nur drei Stunden Tageslicht. Manchmal stoppt sogar der Regen für ein paar Minuten. Doch der Wind tut sein Bestes um keine Gemütlichkeit aufkommen zu lassen. Die in den Mietautos angebrachten Hinweise „Türen festhalten“ sind tatsächlich ernst gemeint und Island lässt uns spüren, was damit gemeint sein könnte. Zwischen kurzen und verregneten Tagen beginne ich mehr und mehr an mir selbst zu zweifeln. Als Social-Media affiner Fotograf gehört Island heute schon fast zum guten Ton, eine Art Must-Do für das eigene Portfolio. Doch irgendwie ertappe ich mich dabei, wie ich Vorgekautes zu reproduzieren versuche. Zehn Tage für eine Reise sind nicht viel. In eine neue Kultur eintauchen, fremde Menschen kennenlernen, beeindruckende Fotos mit nach Hause nehmen und zwischendurch die Seele baumeln lassen. Island zeigt mir auf seine eigene Weise die Grenzen meines Anspruchs an mich selbst.

13 Weihnachtsmänner und viel Feuerwerk

Wir verbringen die Tage bei Tines Freunden. Die Familie hat einen Milchbetrieb mit 50 Kühen im Süden der Insel. Um den Hof herum erstrecken sich weite hügelige Felder, der nächste Nachbar ist bestimmt 10 Kilometer entfernt. Gardinen braucht hier wahrlich niemand. Und doch wird bei jedem Essen eine Extraportion gekocht. Für den Fall der Fälle, es könnte ja noch jemand vorbeikommen. Trotz anfänglicher nordischer Distanz werden wir unglaublich herzlich empfangen. Als typisch isländische Weihnachtsspezialität gibt es geräuchertes Lamm, ein zartes Stück Fleisch mit starkem Feuergeruch. Wir lernen bald, dass man sich vor Isländern auf keinen Fall mit einem Taschentuch die Nase putzen sollte, dass es in Island unhöflich ist eine Einladung auszuschlagen und dass die Isländer nicht nur ihre Häuser weihnachtlich beleuchten, sondern auch ihre Gräber. Wir lernen über Trolle, Elfen und isländische Sitten und erfahren die Geschichte der 13 Weihnachtsmänner. Wie die 13 Söhne der jahrhundertealten Trollfrau Grýla an den letzten Tagen vor Weihnachten einzeln vom Hochland hinab kommen. Wie isländische Kinder in der Hoffnung auf ein kleines Geschenk an jedem der 13 Abende einen Schuh und, je nach Weihnachtsmann, eine kleine Leckerei auf den Fenstersims legen. Und wir lernen, dass Isländer absolut verrückt sind nach Feuerwerk.

Am Silvesterabend sehen wir schon viele Stunden vor Mitternacht in der Ferne Raketen hochsteigen. Als schließlich der Silvestergong ertönt haben unsere Freunde kaum Zeit zum Anstoßen. Mit Schutzbrillen bewaffnet erstrahlen sie die Umgebung ihres Hofes im Glanz der Lichter. Als wäre das alles nicht genug, ist heute die erste wirklich klare Nacht unserer Reise. Hinter den bunten Feuerwerkskörpern zieht sich ein grüner Schleier über den Horizont. Es gibt sie also doch, die magischen Momente.

Auch bei einer Fahrt zur Gletscherlagune Jökulsarlón ist der isländische Wettergott gnädig mit uns. Es ist ein Island wie man es sich vorstellt. Wir fahren die südliche Ringstraße gen Osten, am Horizont ragen weiße Berge aus dem Meer. Gigantische Gletscher schlängeln sich die Berge hinauf. Als wir schließlich über eine Kuppe laufen und sich die von Eisbergen durchzogene Gletscherlagune zu unseren Füßen erstreckt bekomme ich eine tiefgreifende Gänsehaut. Der Gedanke daran, wie das jahrtausendealte Eis des Vatnajökull-Gletschers abbricht, sich im ruhigen blauen Wasser des Sees staut, über einen Kanal ins Meer gespült wird und schließlich am pechschwarzen Stand langsam schmilzt, hat etwas zutiefst Romantisches. Die glitzernden Kristalle am feinen schwarzen Strand sind Ruhe und Feuerwerk zugleich. Begeistert und überglücklich machen wir uns auf den Rückweg. Als wir nach einem langen Tag erschöpft zurückkommen, haben unsere isländischen Freunde, na klar, schon wieder groß für uns aufgetischt.

Heiße Schokolade mit Marshmellows

Die Tage vergehen schnell. Viel zu schnell. Wir baden in heißen Quellen, besuchen Naturspektakel und Freunde von Tine in Reykjavik. Als wir auf einem Tagestrip durch Olafsvík kommen, sollen wir einer alten Bekannten von Tine ein kleines Päckchen vorbeibringen. Olafsvík ist ein 1000-Einwohner-Ort mit Ende-der-Welt-Feeling, ein Ort an dem zwischen November und Februar keine Sonne scheint. Der Wind bläst kräftig durch die Straßen. Ich fühle mich an eine Filmszene erinnert, in der die Ampeln im Wind wehen und kurz darauf ein Weltuntergangssturm einsetzt. Auch in Olafsvík werden wir direkt zum Kaffee hereingebeten. Weihnachtsplätzchen und frisch gebackenes Brot stehen auf dem Tisch, dazu gibt es geräuchertes Lammfleisch. Die Apokalypse bleibt aus, vom Küchenfenster beobachten wir das endlose Meer.

Ich werde den Eindruck nicht los, dass die Isländer wirklich zu jeder Tageszeit etwas für mögliche Gäste vorbereitet haben. Ein nur kurz vorbeischauen gibt es hier nicht. Ob bei unseren Freunden im Süden, in Reykjavik oder bei unserem Kurzbesuch in Olafsvík. Bei jeder Gelegenheit werden wir zu Pfannkuchen, geräuchertem Lammfleisch und „Kaffi“ eingeladen. Kaffee wird ohnehin zu jeder Tages- und Nachtzeit serviert. Als Alternative gibt es meist „Swiss Miss“, eine heiße Schokolade mit Marshmellow-Flavour.

Während uns das Wetter an so manchem Tag einen Strich durch die Rechnung machte und die Nordlichter-Suche als chancenlos gestaltete, war die Gastfreundschaft der Isländer einfach überwältigend. Oft ließ uns die Herzlichkeit schier sprachlos. Ich kam mit einer stereotypen Instagram-Idee nach Island. Einer Idee voll massiver Wasserfälle, epischer Landschaften und tanzender Nordlichter. Doch ich fand schließlich die grenzenlose Gastfreundschaft der Isländer. Was am Ende bleibt, sind vor allem die Begegnungen mit Menschen. Es kann keine schönere Art geben ein Land kennenzulernen. Takk fyrir mig Island, ich weiß wieder worauf es wirklich ankommt.

 

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