Ein Naturwunder aus dem Amazonas: Drachenblut

Nach der schar­fen Rechts­kur­ve wird der Asphalt plötz­lich unter einem Berg aus Sand begra­ben. Die Rei­fen unse­res Mopeds ver­lie­ren jeg­li­chen Halt. Wir fal­len stumpf nach rechts, der Schwer­kraft fol­gend. Der glü­hend hei­ße Aus­puff streift für nur einen Augen­blick mei­nen Unter­schen­kel: aus­rei­chend, um sich in das Fleisch mei­nes Unter­schen­kels zu bren­nen.

Wir befin­den uns im perua­ni­schen Ama­zo­nas­ge­biet, in Süd­ame­ri­ka. Genau­er gesagt in Iqui­tos City, die Haupt­stadt der May­nas Pro­vinz in der Regi­on Lore­to. Eine Metro­po­le mit 400.000 Ein­woh­nern, ein­ge­kes­selt von dich­tem Dschun­gel und uner­reich­bar mit dem Auto. Wer Iqui­tos erle­ben möch­te, muss das Flug­zeug neh­men, oder wie wir, gedul­dig eine drei­tä­gi­ge Fluss­fahrt auf einem Con­tai­ner­schiff in Kauf neh­men.

Ein Fall mit Folgen

Unser Unfall bleibt nicht unbe­merkt. Zeu­gen unse­rer klei­nen Unglücks sprin­ten aus ihren Häu­sern, bepackt mit Moto­ren­öl, Sei­fe und Was­ser. Erleich­tert las­se ich das küh­len­de Was­ser über die Wun­de an mei­nem Unter­schen­kel lau­fen. Nach einem Dank­ba­ren: „Gra­ci­as!“ schwin­gen wir uns kurz ent­schlos­sen auf das Moped und düsen davon. Der nächs­te Stopp ist eine Apo­the­ke in der Innen­stadt. Auf­merk­sam ver­fol­gen Dut­zen­de von Augen­paa­ren, wie ich mit schmerz­ver­zerr­tem Gesicht mein ver­wun­de­tes Bein in die Luft hebe, um als Not­fall akzep­tiert zu wer­den. Es funk­tio­niert. Der Apo­the­ker klebt ein gelee­ar­ti­ges Pflas­ter auf die Wun­de und drückt mir eine Packung Schmerz­ta­blet­ten in mei­ne ver­schwitz­te Hand. Erleich­tert ver­las­se ich die Apo­the­ke.

Von Schmerzen getrieben

Unzu­frie­den und rast­los lie­ge ich auf mei­nem Bett in unse­rem klei­nen Hotel. Die Schmerz­ta­blet­ten wir­ken nur bedingt und die Aus­sicht die nächs­ten Wochen in die­sem klei­nen Zim­mer zu ver­brin­gen, wäh­rend drau­ßen das Leben tobt, depri­mie­ren mich. Das Pflas­ter nervt: Ich rei­ße es ab. Benom­men von den Schmer­zen, schlei­che ich durch die Gän­ge des Hotels. Das rohe, eit­ri­ge Fleisch mei­nes Unter­schen­kels erschreckt die Hotel­be­sit­ze­rin, die mir ent­ge­gen­eilt. Wie eine mys­ti­sche Offen­ba­rung flüs­tert sie die Wor­te: “Sang­re de Gra­do!“ Auf Spa­nisch erklärt sie mir ges­ti­ku­lie­rend den Weg nach Belen. Dort gibt es einen Scha­ma­nen­markt, wo ich das Sang­re de Gra­do kau­fen soll. Hier­bei han­delt es sich um ein Heil­mit­tel aus dem Ama­zo­nas, ein wah­res Wun­der­mit­tel, soweit ich dem Gespräch fol­gen kann.

Vom Harz zur Haut: Drachenblut

Schon am nächs­ten Mor­gen glot­ze ich in die toten Augen einer aus­ge­stopf­ten Schlan­ge. Ich habe den Scha­ma­nen­markt gefun­den. Umge­ben von Leo­par­den­fel­len, Kro­ko­dil Schä­deln, Affen­köp­fen, Lie­bes­trän­ken und zahl­rei­chen Heil­kräu­tern, for­sche ich nach dem Dra­chen­blut- dem Sang­re de Gra­do. Abge­füllt in alte Plas­tik­fla­schen, ent­de­cke ich es am Stand einer Frau in einem rosa T‑Shirt. Zu mei­nem Erstau­nen führt sie mir vor, wie der blut­ähn­li­che Saft sich durch Rei­bung zu einer wei­ßen Pas­te ver­wan­delt, die ich direkt auf mei­ne offe­ne Wun­de schmie­ren soll.

Wie­der im Hotel ange­kom­men, mache ich mich auf­ge­regt an die Arbeit. Ich träuf­le etwas von der Flüs­sig­keit auf mei­nen Hand­rü­cken und rei­be mit den Fin­gern mei­ner ande­ren Hand so lan­ge, bis das Wun­der geschieht: Die Pas­te ist fer­tig. Ich tra­ge sie groß­flä­chig auf die Wun­de auf. Dort ver­wan­delt sie sich in eine Art zwei­te Haut, die wie ein Schutz­schild funk­tio­niert. Sogar mei­ne Schmer­zen ver­blas­sen. Mei­ne Neu­gier und auch mein Opti­mis­mus sind geweckt. Wäh­rend ich in mei­nem Hotel­zim­mer aus­har­re, schla­ge ich eif­rig in die Tas­ten mei­nes Lap­tops.

Sangre de Grado: So wirkt Drachenblut

Sang­re de Gra­do, also Dra­chen­blut, so ler­ne ich, ist ein tra­di­tio­nel­les Heil­mit­tel der Dschun­gel­be­woh­ner. Es wird aus dem Harz des Kro­ton-Lech­le­ri-Bau­mes gewon­nen. Nach einem ziel­ge­rich­te­ten Hieb mit der Mache­te, tritt das blut­ähn­li­che Harz aus und wird geern­tet. In Peru wird es zum Bei­spiel bei Magen-Darm-Pro­ble­men, bei Wun­den und Blu­tun­gen, Infek­tio­nen und Haut­aus­schlä­gen ver­wen­det. Die­ses geheim­nis­voll klin­gen­de Heil­mit­tel hat auch die Wis­sen­schaft­ler auf den Plan geru­fen, die Inhalts­stof­fe und sei­ne Wir­kungs­wei­se, näher zu erfor­schen. Die Erkennt­nis­se aus den Stu­di­en bele­gen, dass das unbe­han­del­te Harz das Zusam­men­zie­hen von Wun­den anregt, bei der Bil­dung von Kol­la­gen hilft und die Haut schnel­ler rege­ne­rie­ren lässt. Je nach Quel­le beschleu­nigt es die Wund­hei­lung vier bis sogar zwan­zig­fach!

Dr. John Wal­lace von der Medi­zi­ni­sche Fakul­tät der Uni­ver­si­tät in Cal­ga­ry erforscht das Sang­re de Gra­do in Bezug auf die Hem­mung von Schmer­zen und Ent­zün­dun­gen: „Sang­re de Gra­do ver­hin­dert nicht nur die Schmerz­emp­fin­dung. Es blo­ckiert auch die Gewe­be­re­ak­ti­on, auf eine von den Ner­ven frei­ge­setz­te Che­mi­ka­lie, die Ent­zün­dun­gen begüns­tigt. Es gibt zur­zeit kei­ne ande­re Sub­stanz, von der wir wüss­ten, dass sie die­se glei­chen Wir­kun­gen teilt.“

Ein andersgeartetes Abenteuer

Begeis­tert gucke ich auf mei­nen Unter­schen­kel. Ein wah­res Wun­der­mit­tel, die­ses Dra­chen­blut. Ich bin beru­higt. Der Hei­lungs­pro­zess wird zu mei­nem eige­nen klei­nen Aben­teu­er. Wäh­rend mein Freund die Stadt erkun­det und über den Scha­ma­nen­markt gejagt wird (er wird beim Foto­gra­fie­ren erwischt und ein Mann, mit Beil bewaff­net, zeigt ihm die loka­len Sit­ten) sit­ze ich erwar­tungs­voll im Bett und beob­ach­te. Immer wie­der schmie­re ich die Pas­te auf die auf­ge­platz­ten Stel­len, schüt­ze sie vor Kei­men und ande­ren unge­la­de­nen Mikro­ben.

Nach zehn Tagen ist es end­lich so weit. Die Rei­se kann wei­ter gehen. Mein Bein ist genug ver­heilt, um neu­en Gefah­ren zu trot­zen. Vol­ler Taten­drang und Aben­teu­er­lust sprin­ge ich an Bord des Con­tai­ner­schif­fes.

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