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Wangerooge – im Winter? Ich sehe fragende Augen und eine gerunzelte Stirn, hinter der sich eindeutig der Gedanke „Du bist ja verrückt!“ formt. Dabei gibt es gut 1.300 Inselbewohner, die in der kalten Jahreszeit brav auf der Seepferdchen-förmigen Insel im Herzen des Wattenmeeres ausharren. Und dann gibt es tatsächlich auch Menschen, die betreten im Winter freiwillig in Harlesiel die Fähre und lassen sich acht Kilometer später auf dem knapp fünf Quadratkilometer großen Eiland wieder ausspucken. Um sorglos über die Straße zu laufen, denn Autos gibt es nicht. Um sich von Wind und Regen Gassi führen zu lassen. Um zu begreifen, dass eine nasse Jacke ein fairer Tausch für einen freien Kopf ist. Für „Thalasso“, die Heilkraft des Meeres. Um Insulanern zu lauschen, die viele Geschichten auf Lager haben. Geschichten von verschwundenen Stränden und Leuchttürmen, von Krieg und Wiederaufbau, von Hoffnung, Vögeln und dem Watt. Und nicht zuletzt vom Lebewesen mit dem längsten Penis der Welt.
Echter Friesengeist
„Gott schuf die Zeit, von Eile hat er nichts gesagt.“ Auch wenn man das Wangerooger Motto bei der Ankunft noch nicht kennt, spürt man es. Von dem Moment, als die Fähre andockt und sich die wenigen Winterbesucher in den Waggons der Inselbahn verteilen, die in etwa 15 Minuten mit 20 km/h durch Salzwiesen bis zum Hauptort zuckelt – mitten durchs Meer. Zumindest kommt es mir so vor, als ich auf beiden Seiten Wellen sehe, als wären die Schienen auf Wasser gebaut. Die ersten beiden Türme der „Insel der drei Türme“ ragen im Westen empor, der Westturm und der Neue Leuchtturm, der dritte, der Alte Leuchtturm, zeichnet sich zwischen Häusern am Horizont ab.
Etwas, das zu Hause allgegenwärtig ist, fehlt: das ständige Hintergrundgeräusch von Motoren, Bremsen und Hupen. Die einzigen Benziner, die auf Wangerooge verkehren, sind Rettungsfahrzeuge, daneben fahren ein paar Elektrowagen, die Gepäck transportieren oder Gäste von A nach B bringen. Während ich durch sanft beleuchtete Straßen spaziere, an denen sich Läden und Wohnhäuser aneinanderreihen, kann ich mir bildlich vorstellen, was mir eine Wangerooger Bekannte, Ramona Engelmeier, 28, die nach einigen Ausbildungsjahren auf dem Festland auf die Insel zurückkehrte und bei der Kurverwaltung arbeitet, erzählt hat: „Das Beste war unsere Kindheit auf Wangerooge, wir hatten so viel Freiheit, konnten auf der Straße spielen und mussten nicht zu bestimmter Zeit zu Hause sein. Immerhin kannten sich alle untereinander.“
Ich denke daran, wie lange ich als Kind brauchte, mich mit dem Fahrrad in den Verkehr zu wagen. Schade nur, dass es mittlerweile kaum noch Kinder auf Wangerooge gibt: Obwohl eine Grundschule besteht und eine weiterführende, die Haupt- und Realschule sowie Gymnasium unter einem Dach vereint, besuchen aktuell nur noch rund 80 Kinder die erste bis zehnte Klasse. Und wer nicht gerade Hotelfach, Einzelhandel, Bürokauffrau- oder mann oder wenige weitere auf der Insel angebotene Ausbildungszweige wählt, ist gezwungen, nach der Schule aufs Festland zu ziehen. Wo sich die Insulaner dann über etwas freuen, das für den Großstadtbürger normal ist – den Pizzaservice anzurufen oder ins Kino zu gehen. In Wangerooges einzigem Inselkino wird ein Film nämlich nur angeschmissen, wenn mindestens fünf Leute im Saal sitzen. Wer nicht selbst kochen will, geht ins Restaurant, wo am Nachbartisch der Onkel oder Kollegen sitzen. Und wo der Kellner bei jedem georderten Friesengeist den Schnaps anzündet und zur Flamme einen Trinkspruch aufsagt: „Wie Irrlicht im Moor, flackert’s empor, lösch aus, trink aus, genieße leise auf echte Friesenweise, den Friesen zur Ehr vom Friesengeist mehr.“
Der längste Penis der Welt
Eigentlich sollte bei der frühmorgendlichen Wattwanderung die Sonne aufgehen. Doch das Einzige, was an diesem Tag aufgeht, ist der Himmel, um neuen Regen auszuschütten. Was Wattführerin Inga Blanke, eine Hacke über der Schulter und warm in Regenkleidung eingepackt, nicht stört. Es geht raus aus den Schuhen und rein in die Gummistiefel, denn immerhin befindet sich Wangerooge genau in der Mitte des Wattenmeers, das sich auf 500 Kilometern von Esbjerg in Dänemark bis nach Den Helder in den Niederlanden erstreckt. Und das 2019 seinen zehnten UNESCO-Welterbe-Geburtstag feiert, denn die UNESCO-Aufnahme erfolgte im Juni 2009. Schon seit Langem fasziniert es mich, dieses Meer, das Pflanzen, Tieren und Menschen seinen Gezeiten-Rhythmus aufzwingt und das in seiner jetzigen Form an die 2.000 Jahre als sein soll.
„Man sollte grundsätzlich nur mit Wattführer ins Watt gehen“, ermahnt mich Inga, denn immer wieder gibt es Besucher, die dem Wasser in die Ferne folgen und nie wiedergesehen werden. Weil sie glauben, sie hätten sechs Stunden Zeit, bis das Wasser wiederkommt. Und das Festland ist ja nur schlappe acht Kilometer entfernt. Inga, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, hat trotz rotgefrorener Wangen ein Dauerlächeln auf den Lippen und gräbt mit ebenso rotgefrorenen Händen immer wieder im schlammigen Meeresboden, um kleine Wunder an die Oberfläche zu zaubern. Nur der Gabeltang zeigt sich an diesem Morgen freiwillig, braun-rötliche Sprossen, die sogar essbar sind. Bereits bei meiner ersten Wattwanderung war ich erstaunt, wie ein schlammiger, meerloser Meeresboden so faszinierend sein kann. Etwas, das auf den ersten Blick leblos wirkt, steckt voller Leben: Da sind die Wattschnecken, vier bis sechs Millimeter groß, die das wässrige Schlickwatt lieben. Die Schnecken haben sogar etwas mit Kühen gemein, denn sie grasen am Boden Algen und die darauf lebenden Bakterien ab und zählen damit zu den Weidegängern.
Inga studiert die vielen Sand-Spaghettihaufen mit Löchern in unmittelbarer Nähe und nickt. „Hier versteckt sich ein Wattwurm. Das Loch ist der Kopf, und hinten, am Po, scheidet er den gereinigten Sand als Häufchen aus.“ Bald hält sie einen sich verstört kringelnden Wurm auf der Hand. „Diese Würmer haben eine besondere Fähigkeit – sie können ihren Po abwerfen, wenn zum Beispiel eine Möwe ihn in den Schnabel bekommt.“ Und dann? Ohne Po kein Klo? Von wegen! „Der Po kann ganze 33 Mal nachwachsen. Und wusstest du, dass wir Menschen und diese Würmer eine große Gemeinsamkeit haben?“ In der Fantasie durchwühle ich Menschen, die ich öfter mit Würmern vergleiche, doch Inga winkt ab. „Wattwürmer haben den gleichen Blutfarbstoff wie wir, Hämoglobin!“ Das sei Universalblut für Menschen und man denke daran, Wattwürmer absichtlich zu Blutübertragungszwecken zu züchten.
Inga liest ein Algengestrüpp vom Boden auf. Daran hängen Miesmuscheln – denen zu Ehren im September 2018 erstmals das „Wangerooger Miesmuschelfest“ mit vielen Verkaufsständen startete, das wegen des großen Erfolgs 2019 erneut stattfinden soll – sowie graue Steine. „Das sind keine Steine, das sind Seepocken, kleine Krebse!“ Ich kann keinen Krebs ausmachen. „Die Seepocken heften sich an und können sich dann nicht mehr vom Untergrund lösen. Sie reisen als blinder Passagier auf Muscheln, Krabben, Walen oder auch an Booten durch die Welt.“ Als ob das nicht Luxus genug wäre, haben die Viecher noch mehr zu bieten: „Die Seepocken haben den längsten Penis der Welt im Vergleich zur Körpergröße!“ Was ich für einen Scherz halte, soll tatsächlich stimmen. „Um sich fortzupflanzen, müssen die Penisse eine weite Reichweite haben, denn die Seepocken können sich ja nicht mehr bewegen. Und so fahren sie die Geschlechtsteile aus, bis sie ein Weibchen erreichen.“
Wer wie ich bei Schietwetter auf Wangerooge ist und eine Stunde lang Sturm und Regen im Watt trotzt, findet alle weiteren Informationen dazu im Nationalparkhaus – vor dem seit 2016 ein echtes Pottwalskelett, allerdings ohne Zähne, steht. Im Januar 2016 strandeten 29 männliche Pottwale an der Nordseeküste, zwei davon verendeten auf Wangerooge. Das Skelett eines der Tiere, 13 Meter lang, wurde präpariert und 2017 vor dem Nationalparkhaus aufgebaut.
Das Wangerooger Watt, das den Walen zum Verhängnis wurde, ist dagegen für die Zugvögel im Herbst ein Schlaraffenland: Das Wattenmeer zählt zu den beliebtesten Rastplätzen der Zugvögel, denn dort können Sie sich an Muscheln, Wattwürmern und langen Penissen sattfuttern. „Jeden Herbst finden bei uns die Zugvogeltage statt“, erfahre ich später von Ramona. „In den Tagen gibt es einen Wettbewerb, den Aviathlon, auf welcher Insel die meisten verschiedenen Zugvögel gesichtet werden.“ Auch Inselbesucher könnten mitmachen und gesichtete Vögel melden. Eine Siegerurkunde von 2016 ziert die Wand, als auf Wangerooge in einer Oktoberwoche 138 Vogelarten gesichtet wurden. Außerdem startet während dieser besonderen Tage der „Vogelzug zu den Zugvögeln“, wobei die Inselbahn langsam durch die Salzwiesen tuckert und man die Vögel in ihrem Lebensraum durchs Fernglas beobachten kann.
Urgesteine Wangerooges
Nicht nur die Seepocken heften sich an den Untergrund und bewegen sich nie wieder fort – auch einige der älteren Bewohner Wangerooges zeigen diese Tendenz. Eine davon ist Heike Hanken, 1940 geboren, die ab und zu einen Dorfbummel für Besucher anbietet und dabei Geschichten und Anekdoten zum Besten gibt. Auf meine Frage, ob sie auf der Insel geboren worden sei, schüttelt sie belustigt den Kopf. „Offiziell wird niemand hier geboren, wir haben nämlich kein Krankenhaus!“ Es gäbe aber Hubschrauber, die werdende Mütter schnell ans Festland brächten, zum Beispiel nach Wilhelmshaven. Einmal sei ein Baby allerdings auf Helgoland zur Welt gekommen, weil der Hubschrauber wegen Nebels nicht auf dem Festland landen konnte.
„Das erste Dorf Wangerooges stand am Weststrand mit dem Westturm, wurde aber an Neujahr zwischen 1854 und 1855 von einer Sturmflut zerstört.“ Daraufhin seien zwei Drittel der Bevölkerung aufs Festland gezogen und nur 80 Bewohner geblieben. Sie hätten das heutige Wangerooger Dorf gegründet, das besser zu schützen war. Heike führt mich in eine Seitenstraße rechts vom Hauptplatz, die den Namen „Robbenstraße“ trägt und wo 1863 die ersten Häuser entstanden. „Dies war die erste Dorfstraße. Sie trägt diesen Namen, weil hier ein Robbenjäger lebte, der die Tiere vor seinem Haus zerlegte. Deswegen stank es bestialisch nach Tran.“ Aus dem Tran habe man auch Kerzen gemacht, die gedämpftes Licht abgaben – woraus sich der Begriff „tranfunzig“ entwickelte.
Vor Heikes Elternhaus bleiben wir stehen, neben dem Café Famoos, das die einzige Ampel auf Wangerooge beherbergt – um möglichen Gästen schon von Weitem anzuzeigen, ob es geöffnet oder geschlossen ist. Immerhin befindet es sich auf einem Hügel von bestimmt drei Höhenmetern. „Mein Elternhaus ist das älteste Haus im Dorf.“ Übersehen kann man es auch nicht – dank den bunt dekorierten Zaunlatten und bunten Kugeln im kahlen Baum vor dem Haus. Heike zeigt auf das Haus, wo der Gründer des Inselhotels Hanken groß wurde. Auch sie selbst habe einen Hanken geheiratet. „Wenn man auf einer Insel lebt, hat man keine große Auswahl.“ Sie lacht. Am Ende der Straße thront der Alte Leuchtturm, 1856 in Betrieb genommen, nachdem der Westküsten-Leuchtturm von der Sturmflut beschädigt wurde. Wer genau hinschaut, erkennt auf der Turmspitze die gusseiserne Zahl 1926. „1926 wurde der Leuchtturm um fünf Meter aufgestockt, denn die Hotels an der Promenade waren so hoch geworden, dass die Schiffe den Turm nicht mehr sahen!“ Heike schaut nostalgisch zurück zu ihrem Elternhaus. „1962 hatten wir wieder eine schlimme Sturmflut, da versalzten sogar die Brunnen im Garten, aus denen wir Trinkwasser gewannen.“ Daraufhin habe Wangerooge als einzige Ostfriesische Insel eine Wasserleitung unterm Meer bekommen.
Wir treten in die evangelische St.Nikolai-Kirche, dem Schutzpatron der Seefahrer und Handelsleute gewidmet. Dort hängt ein großes Holzboot, wie sie oft in Küstenkirchen zu sehen sind. „Das sind Votivschiffe, sie wurden von Seeleuten nach Vorbildern echter Schiffe gebaut. Sie schenkten sie den Kirchen ihrer Heimatdörfer zum Dank dafür, dass sie auf See überlebt hatten.“
Etwa drei Viertel der Insulaner seien evangelisch, ein Viertel katholisch. „Wir haben auch eine katholische Kirche, die wurde 1965 fertig. Ein sehr moderner Bau mit einem nach Norden steil abfallenden Dach.“ Die Insulaner hätten sich gegen den unschönen Bau gewehrt. „Wir nannten sie die Seelenabschussrampe.“ Aber mittlerweile habe man sie akzeptiert. „Unser altes Dorf hatte gar keine Kirche, nur einen Turm, der als Landmarke diente. Deswegen wurde im zweiten Stock ein Kirchenraum eingerichtet.“ Richtig interessant seien die dritte und vierte Etage gewesen, wo man Strandgut sammelte – eine illegale Einnahmequelle für arme Insulaner, da gefundenes Strandgut in Deutschland offiziell abgegeben und vernichtet werden müsse. „Damals betete sogar der Pastor für einen gesegneten Strand, und wenn man sah, dass ein Schiff auf eine Sandbank auflief, freute man sich darauf, wenige Tage später Strandgut zu bekommen.“ Zu Beginn des Ersten Weltkriegs habe man den Turm jedoch gesprengt. Hinter der Kirche eröffnet sich eine kleine Grünfläche, der alte Dorfplatz. „Hier steht das dritte Hotel, das auf der Insel gebaut wurde. Man warb damit, dass die Leute hier ruhig schlafen konnten, ohne vom Meeresrauschen gestört zu werden.“
Eine ähnliche Aussage könnte auch von dem etwa 14 Jahre älteren Hans-Jürgen Jürgens stammen, Jahrgang 1926, der abgesehen von einer Lehre zum Hotelfachmann, Zeit auf See und an der Ostfront den Großteil seines Lebens auf der Insel verbracht hat. Der alte Mann hat wache Augen, aber die Mundwinkel zeigen nach unten. Wirklich Lust zu reden hat er nicht, und dennoch tut er es – während wir die selbstgebackenen Plätzchen seiner Frau futtern und dazu Ostfriesentee mit Kluntje und Wulkje trinken – mit Kandiszucker, der beim Eingießen des Tees springt und zu dem ein Sahnewölkchen gehört.
Hans-Jürgen Jürgens spricht von seinem Vater, der nicht wollte, dass die Kinder auf der Insel bleiben, sondern, dass sie auf dem Festland ein besseres Leben fanden. Und von seinen Büchern. Auf dem Weg ins Wohnzimmer streift mein Blick einen Raum, der bis an die Decke dicht ist mit vollgestopften Akten- und Bücherregalen. Etwa so stelle ich mir das Haus eines berühmten Schriftstellers zu Zeiten vor, bevor man begann, Recherchen über Internet zu betreiben und Texte am Computer zu tippen. Hans-Jürgen Jürgens recherchiert und schreibt sein Leben lang. Dabei herausgekommen sind nicht zuletzt eine Wangerooger Chronik und ein Kriegstagebuch mit dem Titel „Zeugnisse aus unheilvoller Zeit“. „Dafür habe ich zehn Jahre recherchiert und zehn Jahre daran geschrieben“, erzählt er. Und wie hat er geschrieben? „Am Computer, den ich als Schreibmaschine benutze. Sonst habe ich mit Computern nichts am Hut, damit verliere ich nur Zeit.“
Dienstags und freitags bietet der 92-jährige Bunkerführungen an. Denn auch wenn er die vielen Veränderungen, die er auf der Insel miterlebt hat, nicht alle begrüßt, liegt ihm seine Insel doch am Herzen: „Ich habe insgesamt 60 Maßnahmen für Wangerooge ergriffen.“ In einem Notizbuch hat er sämtliche Zeitungsartikel darüber sowie Rechercheergebnisse eingeklebt. Eine seiner größten Errungenschaften war, dass der Alte Leuchtturm erhalten und nicht etwa in einen Nachtclub umgewandelt oder abgerissen wurde. Er war es, der für die Glocke der evangelischen Kirche Geld sammelte, Bäume pflanzte, sich für den Erhalt der Klinker an Häusern einsetzte und der für die in den Dünenschutzgebieten aufgestellten As ohne Mittelstrich sorgte, um Schutzgebiete zu markieren.
Nachdem ich mit Hans-Jürgen Jürgens gesprochen habe, sehe ich Wangerooge mit anderen Augen. Sehe Details, die nur einem Menschen, der mit der Insel verwachsen ist, wichtig sein können und über die viele andere hinwegsehen. „Die Leute sollen herkommen und keinen Stress haben, sie sollen in aller Ruhe über die Straße gehen und keinen Beton sehen“, gibt er mir mit auf den Weg.
Das Meer – Räuber und Therapeut
Schon oft habe ich auf Inseln davon gehört, dass Stürme und die See die Strände mit der Zeit abtragen, habe sogar schon strandlose Inseln besucht. Doch erstmals lerne ich mit Wangerooge eine Insel kennen, wo sich die Bewohner jeden Frühling den Strand zurückholen. „Bis Februar gibt es Sturm, ab März beginnen wir dann mit den Sandauffahrmaßnahmen“, erzählt Ramona von der Kurverwaltung. Diese dauerten etwa bis Ende April oder Anfang Mai. „Wir trommeln Teams von zehn Strandwärtern zusammen, die in Schichten bei Niedrigwasser arbeiten.“ Und woher kommt der Sand? Aus dem Osten, wo der Strand weniger strömungsgefährdet ist und von wo vom Festland importierte Dumper den Sand zum Hauptstrand karren. Doch das Meer ist nicht nur ein Strandräuber, sondern auch ein richtig günstiger Therapeut. Mit Thalasso-Diplom von 2014, denn da wurde Wangerooge als zertifiziertes Thalasso-Nordseeheilbad zugelassen. „Thalassa“ kommt aus dem Griechischen, bedeutet „Meer“, während „Thalasso“ die Heilkraft des Meeres beschreibt. Zunächst dachte ich dabei an teure Massagen, Meerwasserbäder und Augenpackungen aus Algen – was es im Gesundheitszentrum oder im Meerwasser-Erlebnisbad an der Promenade ebenfalls gibt, aber man kann „Thalasso“ auch genießen, ohne einen Cent auszugeben.
Im Grunde reicht Seeluft aus, um Atemwege zu befreien. Die steife Brise, die Ankömmlingen Mützen und Kapuzen vom Kopf reißt, ist dabei nicht etwa ein winterliches Ärgernis der Insel, sondern kann helfen, das Immunsystem in Schuss zu bringen und das Kreislaufsystem zu stärken. Wer auf eigene Faust vom Nordsee-Reizklima profitieren möchte, findet eine Reihe vorgeschlagener Thalasso-Therapiewege rund um den Bade- und Burgenstrand, bei denen die Reizintensität genau angegeben ist und sich daran orientiert, ob man am offenen Meer läuft oder von Deichen und Häusern geschützt ist. „Wenn zum Beispiel jemand aus Bayern kommt, sollte er es ruhig angehen lassen. Er ist dieses Klima gar nicht gewöhnt und schon nach zwei Stunden hundemüde und immer hungrig“, lerne ich. Gute Wege auch für Bayern sind die Straße oder der Fußweg zum Westen, die parallel zueinander in Richtung Westen verlaufen.
Dort verbinden sich Meer und Inselgeschichte: Wenige Meter hinterm Dorf erinnert ein Denkmal mit großem Kreuz und Namenstafel an einen Lazarettbunker, in dem am 25. April 1945 kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs 20 junge Leute starben. Sie hatten sich bei einem Bombenangriff verschanzt, als die Bombe den Bunker traf und alle tötete. Denn ja, Wangerooge spielte auch im Krieg eine Rolle, waren dort doch einige Geschützbatterien aufgestellt zur Verteidigung gegen Übergriffe von Seeseite und Kanonen zur Luftverteidigung. Gegen Ende des Krieges galt Wangerooge sogar als Festung und sollte eine mögliche Invasion abwehren.
Einen kurzen Spaziergang weiter bietet sich eine sehr viel rosigere – oder an diesem Tag weniger graue – Aussicht: Hinterm sogenannten Bielefeld-Haus führen Stufen hoch zum Aussichtspunkt, an dem sich Insulaner und Besucher bei schönem Wetter zum Sonnenuntergang aneinander kuscheln. Bei Sturm und Regen habe ich den Ort für mich. Stehe über den tosenden Wellen, direkt neben dem Dünenschutzgebiet, markiert von einem A ohne Strich in der Mitte, für das sich Hans-Jürgen Jürgens eingesetzt hat. Rechts blicke ich über das Dorf Wangerooge, links erheben sich aus dem Wolkengrau die zwei Türme des Westens, schräg gegenüber liegt der Fähranleger verlassen da.
An meinem Winterwochenende auf Wangerooge sehe ich die Sonne ein einziges Mal. Für etwa drei Minuten. Doch ich lasse mich immer wieder vom Wind an der Leine nehmen, trotze dem Regen, der mir waagerecht entgegenpeitscht. Stehe mehrmals am Tag vor den Wellen, spüre die Gischt auf dem Gesicht. Und mit ihr eine unglaubliche Kraft. Es ist zu nass und zu stürmisch, um Karten aus der Tasche zu ziehen und vorgegebenen Thalasso-Wegen zu folgen. Doch die brauche ich auch gar nicht. Keine Karten und kein Geld sind nötig, um sie mit jeder Pore zu spüren, diese Heilkraft des Meeres. Meiner Meinung nach ohnehin der effektivste Therapeut, den es gibt. Denn egal, ob ich fünf Minuten oder fünf Stunden oder fünf Tage am Meer sitze, danach fühle ich mich immer wie neu geboren. Also kann es schon stimmen, das Wangerooger Inselmotto: „Erholung ist eine Insel“.
Diese Reise wurde unterstützt von Tourismus Wangerooge.
Empfehlenswerte Unterkünfte:
Villa Marie mit wunderschönen Zimmern und Apartments
Nette Restaurants & Cafés:
Hotel Hanken: Fisch- und weitere regionale Gerichte in der Hauptstraße
Unser Boot: sehr leckere Fleischgerichte am Hauptplatz
StrandLust Wangerooge: Fisch- und weitere regionale Gerichte, auch sehr geeignet für eine typisch ostfriesische Teezeit mit Meeresblick
Diggers Strandbar: Tolles Cafés zum Chillen direkt auf der Promenade, bei gutem Wetter mit schöner Terrasse
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