Schluss mit dem Firlefanz

Die Frau trägt nichts außer ihren oran­gen Socken, die mit den Brust­war­zen um die Wet­te leuch­ten. Eine Pro­vo­ka­ti­on natür­lich, doch dass Egon Schie­les mehr als 100 Jah­re altes »Ste­hen­des nack­tes Mäd­chen mit oran­ge­far­be­nen Strümp­fen« in Köln, Ham­burg und sogar Lon­don tat­säch­lich der Zen­sur zum Opfer gefal­len ist, hat nicht nur mich ver­blüfft: Ein wei­ßer Bal­ken muss­te auf den Pla­ka­ten mit den Akten des Malers »Unsitt­li­ches« ver­de­cken, unter dem Hash­tag #Der­Kunst­ih­re­Frei­heit mach­ten vie­le ihrem Ärger Luft. Eine bes­se­re Wer­bung für die Wie­ner Moder­ne hät­te es nicht geben kön­nen…

Aus­ge­rech­net in Wien, der Hei­le-Welt-Sis­si-Stadt vol­ler Sacher­tor­te und Fia­ker, sind Schie­les nack­te Tat­sa­chen offen­bar kein Pro­blem. Im Gegen­teil: Im hun­derts­ten Todes­jahr von Egon Schie­le und Gus­tav Klimt, Archi­tekt Otto Wag­ner und All­round-Künst­ler Kolo­man Moser fei­ert Wien die Moder­ne – eine Kunst- und Kul­tur­epo­che so gewagt, abs­trakt und zeit­los, dass sie noch immer, tja, modern ist.

„100 Jahre alt. Und noch immer zu gewagt?“

Eigent­lich dach­te ich immer, Wien sei eher das per­fek­te roman­ti­sche Hidea­way. Im Win­ter bei Lich­ter­glanz und Schnee­ge­stö­ber händ­chen­hal­tend über die Pracht­bou­le­vards schlen­dern: Das war mei­ne Vor­stel­lung von mei­nem ers­ten City-Trip an die Donau. Statt­des­sen habe ich mich pro­vo­zie­ren las­sen von der Fra­ge: „100 Jah­re alt. Und noch immer zu gewagt?“ Und jetzt ste­he ich als ech­ter Kunst­ba­nau­se mit dem Kura­tor der gro­ßen Egon-Schie­le-Jubi­lä­ums­schau im Leo­pold Muse­um und sehe mir die Nack­ten an, die für die deut­sche Öffent­lich­keit zu obs­zön waren.

»Man muss die Sachen zei­gen, wie sie sind und dann hin­ter­fra­gen. Sie nicht ver­ber­gen, nicht ver­ste­cken«, sagt Dr. Ivan Ris­tić zu der gan­zen Debat­te. Wir arbei­ten uns vom nack­ten Selbst­por­trät, das ohne Hän­de und Füße grau­sam ver­stüm­melt wirkt, vor zu den mas­tur­bie­ren­den Frau­en. „Zen­sur“, sagt der Kura­tor, „ist gefähr­lich.“

© Leo­pold Muse­um, Wien

Klar, man muss die scho­nungs­lo­sen Akte des jun­gen Malers nicht mögen. Sie sind nicht schön, man­che ver­stö­rend und schon vie­le Zeit­ge­nos­sen hiel­ten sie für por­no­gra­fisch. Aber wir leben nun mal nicht in Sau­di-Ara­bi­en – bei uns sprin­gen die Nack­ten zu jeder Sen­de­zeit durchs Rea­li­ty-TV – und bei dem Gedan­ken an die Zen­sur soge­nann­ter „ent­ar­te­ter“ Kunst dreht sich sowie­so jedem nor­ma­len Men­schen der Magen um.

Schie­les Bil­der sind dras­tisch, gespreiz­te Bei­ne wie im Por­no-Heft. Aber gera­de das macht sie auch fas­zi­nie­rend – und zum guten Gesprächs­stoff. Ich kann nicht fas­sen, dass sich Schie­le das vor über 100 Jah­ren getraut hat. Über Geschmack lässt sich strei­ten, aber unwei­ger­lich emp­fin­de ich Respekt für den Künst­ler, der zwi­schen Anti­se­mi­tis­mus und Welt­krieg das Kor­sett für (Frau­en-) Kör­per und Geist auf sei­ne Art gesprengt hat.

Alle Wege führ’n zu Wagner

Als nächs­tes neh­me ich mir die Archi­tek­tur der Wie­ner Moder­ne vor und kom­me mir gleich ein biss­chen alt­mo­disch vor, weil mir das Majo­li­ka- und das Gol­de­ne Haus gefal­len. Otto Wag­ners Jugend­stil kommt hier, direkt neben dem Nasch­markt, noch ver­schnör­kelt daher. Mit gol­de­nen Schlan­gen und hüb­schen Blatt­ver­zie­run­gen an den Bal­ko­nen. Wirk­lich revo­lu­tio­när ist erst die Öster­rei­chi­sche Post­spar­kas­se. „Ab da gab’s kein Zurück mehr“, sagt mei­ne Stadt­füh­re­rin, die mir zwi­schen all den Pracht­bau­ten der Alt­stadt die ech­ten Schmuck­stü­cke zeigt.

An Otto Wag­ner führt dabei kein Weg vor­bei. Wag­ner ist qua­si der Gott der Wie­ner Moder­ne. Vom Gelän­der am Donau­ka­nal bis zu diver­sen U‑Bahn-Sta­tio­nen rei­chen die opti­schen Duft­mar­ken, die der revo­lu­tio­nä­re Archi­tekt und Stadt­pla­ner in der öster­rei­chi­schen Haupt­stadt gesetzt hat. An den meis­ten wäre ich ob ihrer Schlicht­heit wohl ein­fach so vor­bei­ge­lau­fen.

Wiens über­bor­den­der, alt­mo­di­scher Charme führt schnell zu einem Tun­nel­blick. Es dau­ert nicht lan­ge und man sieht nur noch die roten Samt-Sitz­ecken der alt­ehr­wür­di­gen Kaf­fee­häu­ser, die Rei­ter­stand­bil­der und gold­ver­zier­te Kup­peln. Das beton­graue Gebäu­de der Post­spar­kas­se nimmt sich dage­gen wie eine Fes­tung aus. Ein rie­si­ger, streng geo­me­tri­scher Gra­nit- und Mar­mor­klotz mit kal­ten Alu­mi­ni­um­be­schlä­gen (tat­säch­lich soll Wag­ner ein Sechs­tel der dama­li­gen Welt-Alu­mi­ni­um­pro­duk­ti­on für den Bau ver­wen­det haben), außen roh und abschre­ckend wie eini­ge von Schie­les Bil­dern, innen licht­durch­flu­tet, ja sogar futu­ris­tisch. Mich lässt er trotz­dem an Plat­ten­bau­ten den­ken. Viel­leicht geht es mir wie den Ent­schei­dungs­trä­gern in Köln und Ham­burg mit Schie­le und ich bin ein­fach noch nicht reif für die­sen Mei­len­stein der moder­nen Archi­tek­tur…

Shopping wie zur Jahrhundertwende

Ein­fa­cher ist es, mich mit Kolo­man Moser, dem Mit­be­grün­der der soge­nann­ten Wie­ner Werk­stät­te, anzu­freun­den. „Gewis­se Schrän­ke der Wie­ner Werk­stät­te sind eine kla­re Vor­weg­nah­me von Ikea“, fin­det selbst Kunst­ken­ner Ivan Ris­tić. Qua­dra­tisch, prak­tisch, gut. Die Pro­duk­ti­ons­ge­mein­schaft ent­warf ein­fach alles im neu­en Design – von Möbeln über Mode bis hin zu Schmuck und Geschirr – und sorg­te so dafür, dass der Jugend­stil sei­nen Weg auch in die Wohn­zim­mer des Bür­ger­tums fand.

Klas­si­sche For­men und schlich­te Ele­ganz kenn­zeich­nen die Ent­wür­fe, die auch heu­te noch von Wie­ner Tra­di­ti­ons­un­ter­neh­men her­ge­stellt wer­den und auf der gan­zen Welt ihre (zah­lungs­kräf­ti­gen) Fans haben. Aus­ge­rech­net Lucie Lams­ter-Thu­ry, eine New Yor­ke­rin im wil­den Karo-Blu­men-Mix, will mir die ver­steck­ten Juwe­len und bekann­ten Platz­hir­sche der Stadt zei­gen. Und um ehr­lich zu sein, hät­te ich mich ohne Lucie in eini­ge Läden gar nicht erst rein­ge­traut.

© Lob­meyr

Holz­ver­tä­fel­te Fas­sa­den und unschein­ba­re Türen, an denen man klin­geln muss, um ein­ge­las­sen zu wer­den – alles an die­sen Geschäf­ten schreit danach, Men­schen in Jeans und aus­ge­latsch­ten Turn­schu­hen von oben her­ab zu behan­deln. Und doch rau­schen wir auf unse­rer „Shop­ping with Lucie“-Tour durch das prunk­vol­le Glas­ge­schäft von Lob­meyr und wer­den wie die aller­bes­ten Stamm­kun­den behan­delt: Wie­ner Schmäh vom Feins­ten. Dabei haben es eini­ge Pro­duk­te des Fami­li­en­be­triebs – der Urgroß­va­ter von Geschäfts­füh­rer Andre­as Rath arbei­te­te mit der Wie­ner Werk­stät­te zusam­men – sogar ins New Yor­ker Muse­um of Modern Art geschafft. Auch im Archiv der Sil­ber­schmie­de Jaro­sin­ski & Vau­go­in schlum­mern Ent­wür­fe der Jugend­stil-Pio­nie­re, die »Schluss mit dem Fir­le­fanz« gemacht haben, wie Geschäfts­füh­rer Jean-Paul Vau­go­in sagt – ein nach den ori­gi­na­len For­men gefer­tig­tes Sil­ber­be­steck kos­tet pro Teil aller­dings stol­ze 300 Euro.

Schon eher in mei­nem Bud­get lie­gen die Öster­rei­chi­schen Werk­stät­ten, die vor allem das Stoff-Design der Jahr­hun­dert­wen­de für Möbel und Kis­sen ver­wen­den – Edel-Ikea lässt grü­ßen. Und im Design-Shop des MAK, dem Muse­um für ange­wand­te Kunst, gibt es neben Ori­gi­nal-Ent­wür­fen wie dem Melo­nen­ser­vice auch kit­schi­ge Socken mit Gus­tav Klimts »Der Kuss« zu kau­fen.

Der Kunst ihre Freiheit

Doch es muss nicht alles alt sein. Wien ist zwar nicht mehr – wie noch vor gut 100 Jah­ren – die fünft­größ­te Stadt Euro­pas, aber Wien ist jung, mul­ti­kul­ti und krea­tiv. Allein das Muse­ums­quar­tier quillt über vor klei­nen Design-Shops. „In den letz­ten Jah­ren sind immer mehr Künst­ler und Desi­gner dazu­ge­kom­men“, berich­tet Lucie, die schon vor zehn Jah­ren mit ihren Wie­ner Shop­ping-Tou­ren ange­fan­gen hat. „Das Design hier ist zeit­lo­ser, ein­zig­ar­ti­ger, weil sich die Leu­te nicht um die Mei­nung von ande­ren sche­ren.“ Der Kunst ihre Frei­heit – die Wie­ner haben es auf den Punkt gebracht.

 

Mei­ne Rei­se nach Wien wur­de von Wien-Tou­ris­mus unter­stützt. Vie­len Dank!

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