Mit Lenin im peruanischen Amazonas-Regenwald

Amazonas-Regenwald Peru

Eigent­lich soll­ten wir schla­fen, doch Lin­da, Dani­el und ich kau­ern uns zu dritt auf mei­ne auf­blas­ba­re Iso­mat­te. Die Enge ist ein Argu­ment, das uns vom Schla­fen abhält. Argu­ment Num­mer zwei: Um uns her­um schwir­ren unzäh­li­ge Mos­ki­tos. Argu­ment Num­mer drei: Mei­ne Klei­dung ist klatsch­nass, unser Gepäck eben­so.

Ich kaue­re in Unter­ho­se und T‑Shirt auf einem Drit­tel Iso­mat­te in der Grö­ße eines Back­ofen­blechs und hof­fe, dass die­se Nacht end­lich vor­über­geht. Stark­re­gen pras­selt auf die pro­vi­so­risch auf­ge­spann­te Folie über unse­ren Köp­fen. Mein Magen knurrt. Das letz­te Abend­essen fiel spär­lich aus: Drei Bro­cken Huhn aus der Dose mit Mani­ok, einer stär­ke­hal­ti­gen Wur­zel, die unser Gui­de Lenin auf einem Palm­blatt ser­vier­te.

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Wie wir über­haupt hier gelan­det sind? Dut­zen­de Tour­anbie­ter woll­ten uns vor zwei Tagen im perua­ni­schen Iqui­tos auf der Stra­ße zu einer Buchung über­re­den. Man kam kei­ne zwan­zig Meter vor­an, ohne ange­spro­chen zu wer­den. „Want to see the jungle? Big adven­ture!“ Ohne Gui­de den Regen­wald zu erkun­den, ist schwie­rig. Der ursprüng­li­che Plan, ein­fach so, auf eige­ne Faust los­zie­hen, gestal­te­te sich unmög­lich. Die Gefahr, sich zu ver­lau­fen, ist zu groß. Jemand mit Orts­kennt­nis­sen und Mache­te muss­te mit. Die Wahl fiel auf Duel.

Noch vor dem ers­ten Kaf­fee begeg­net mir Per­cy, Geschäfts­füh­rer eines Tour­anbie­ters, am frü­hen Mor­gen im Flur unse­rer Unter­kunft. Auf eine Bera­tung im Schlaf­an­zug habe ich wenig Lust, wor­auf­hin er sich Dani­el vor­knöpft. Per­cys Ange­bot riecht nach Aben­teu­er: „Drei Tage Dschun­gel­wan­de­rung, genau das, was ihr sucht. Per Pad­del­boot fah­ren wir auf einem klei­nen Fluss ins Dickicht hin­ein. Wir baden in einer Lagu­ne mit Was­ser­fall und über­nach­ten in Hän­ge­mat­ten im Wald“, sagt er. Alles klar. Wir unter­schrei­ben ein ver­gilb­tes Stück Papier. Es kann los­ge­hen. Duel, unser Gui­de, nimmt uns am nächs­ten Mor­gen am Hafen in Emp­fang. Duel ist 23 Jah­re alt und in einem klei­nen Dorf im Ama­zo­nas auf­ge­wach­sen, ein ech­ter Local also. Er star­tet den Motor sei­nes wack­li­gen Holz­boo­tes. Die letz­ten Häu­ser von Iqui­tos zie­hen an uns vor­bei. Kin­der win­ken uns vom Ufer­rand des Ama­zo­nas zu.

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Nach etwa einer Stun­de Boots­fahrt bie­gen wir von dem rie­si­gen Fluss auf einen zuge­wu­cher­ten, klei­nen Bach ab. Duel schal­tet den Motos aus. Jeder bekommt ein Holz­pad­del, ab hier geht es mit Mus­kel­kraft vor­an. Nach etwa ein­ein­halb Stun­den errei­chen wir unse­re Blei­be für die kom­men­de Nacht. Nue­vo Valen­tin, ein Dörf­chen mit ca. zwei­hun­dert Ein­woh­nern, emp­fängt uns von sei­ner ruhi­gen Sei­te. Vor den auf Stel­zen gebau­ten Holz­hüt­ten stei­gen Rauch­wol­ken auf. Die Men­schen berei­ten ihre Mahl­zei­ten im Frei­en auf dem offe­nen Feu­er zu. „Im gan­zen Dorf gibt es ein ein­zi­ges Tele­fon und zwei Stun­den Elek­tri­zi­tät am Tag“, erklärt Duel.
 

Die ers­te Hüt­te an der Boots­an­le­ge­stel­le ist unse­re Blei­be für die kom­men­de Nacht. Eine fünf­köp­fi­ge Fami­lie nimmt uns in Emp­fang. Luz, die Mut­ter, sitzt vor einer Feu­er­stel­le im Schnei­der­sitz auf dem Boden und berei­tet Reis mit Yuca zu. Ein paar Hüh­ner und Hun­de lau­fen vor ihr auf der Ter­ras­se umher. Lin­da befes­tigt eine Hän­ge­mat­te auf der Veran­da. Lenin, der Vater, gibt uns eine kur­ze Ein­füh­rung ins Bogen­schie­ßen, wäh­rend sein Sohn Segun­do Lenin eine alte Matrat­ze vom Schlaf­zim­mer auf die Ter­ras­se zerrt.

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„Wer viel besitzt, hat auch viel zu schlep­pen“, sagt Luz, als Lin­da ihr Hand­tuch aus ihrem Ruck­sack kramt. Trotz der Gast­freund­schaft fühlt es sich selt­sam an, als Tou­rist bei der Fami­lie ein­zu­fal­len. Unse­re bis­he­ri­gen Rei­se­be­kannt­schaf­ten in Peru beruh­ten auf Kon­tak­ten. Men­schen, die uns ein­lu­den, bei ihnen zu über­nach­ten. Oder wir such­ten uns eine Unter­kunft und ver­brach­ten den Tag mit ande­ren Rei­sen­den. Hier drin­gen wir in die Pri­vat­sphä­re einer Fami­lie ein, die so viel weni­ger besitzt als wir und sich wahr­schein­lich fragt, was wir eigent­lich suchen, in die­sem klei­nen Dorf mit­ten im Wald.

Der Fami­li­en­va­ter Lenin gibt sein Bes­tes, um uns zu beschäf­ti­gen. Er packt ein paar Äste, Schnü­re und Angel­ha­ken in eine Plas­tik­tü­te. „Vamos a pes­car piran­has“, sagt er, und dass er Piran­has mit uns fischen möch­te. Wir klet­tern gespannt zurück ins das Holz­boot. Lenin star­tet mit einem Ruck den Motor. Mit viel Wind in den Haa­ren und zusam­men­ge­knif­fe­nen Augen steu­ert er ziel­ge­rich­tet eine klei­ne Bucht an, in der das Was­ser still­steht. Lang­sam ver­schwin­det die oran­ge leuch­ten­de Son­ne hin­ter einem Dickicht aus Schilf. Ein Hoatz­in flat­tert über uns hin­weg. Andäch­tig schwei­gend betrach­ten wir unse­re Umge­bung. Nir­gend­wo sonst neh­men Pflan­zen und Tie­re ver­schie­dens­ter Arten jedes noch so klei­ne Fleck­chen Erde ein wie hier im Ama­zo­nas-Regen­wald. Es ist ein Pri­vi­leg, hier zu sein. Die­se über­bor­den­de Natur zu erle­ben. Zu sehen, wie Men­schen in und von ihr leben, in Gemein­schaf­ten, fern­ab von all dem Luxus, der uns in Deutsch­land umgibt.

Unse­re Angel­ha­ken bau­meln an lan­gen Schnü­ren neben dem Bug im Was­ser. Lei­se glu­ckernd schwankt das Boot von links nach rechts. Lin­das zap­peln­de Angel­schnur reißt mich aus mei­nen Gedan­ken. Ein silb­rig glän­zen­der Piran­ha beißt an. Hek­tisch zap­pelt er hin und her. „Sein mas­si­ver Kie­fer ist selbst dann noch respekt­ein­flö­ßend, wenn sich die Lebens­geis­ter längst aus sei­nem Kör­per ver­ab­schie­de­ten“, sagt Dani­el. Sein gru­se­li­ges Ant­litz färbt aller­dings nicht auf den Geschmack ab. Gegrillt und unge­würzt schmeckt er harm­los mild.

Am nächs­ten Mor­gen strei­fen wir wei­ße Kit­tel über. Pro­fes­sio­nel­le Wan­der­be­klei­dung für Dschun­gel-Area­le, die wir gut gebrau­chen kön­nen, denn die nächs­ten bei­den Tage erkun­den wir den Wald rund um Nue­vo Valen­tin. „Wir sehen aus wie Kran­ken­haus­per­so­nal auf Betriebs­aus­flug. In Gum­mi­stie­feln“, scherzt Lin­da. Die wei­ße Klei­dung soll uns die Mos­ki­tos vom Leib hal­ten. Lenin stapft mit sei­ner Mache­te vor uns her und hackt, grob gesagt, alles weg, was uns den Weg ver­sperrt. Die Mache­te ist nicht sei­ne ein­zi­ge Waf­fe. Ein Gewehr bau­melt über sei­ner Schul­ter. „Für alle Fäl­le“, sagt er. Im Ama­zo­nas tobt das Leben. Der Regen­wald ist der größ­te Gen-Pool der Erde und eine Geburts­stät­te des Lebens. Neun von zehn Tie­ren der Erde leben in den tro­pi­schen Regen­wäl­dern, dar­un­ter über 20 Mil­lio­nen Insek­ten­ar­ten, von denen nur die wenigs­ten erforscht sind. Unzäh­li­ge Blatt­for­men in allen erdenk­li­chen Grün­to­nen schaf­fen ein Dickicht, was man jah­re­lang erkun­den könn­te, ohne die glei­che Pflan­ze zwei­mal zu sehen. Als Lin­da fragt, wes­halb hier kei­ne gro­ßen Bäu­me wach­sen, sagt Lenin, dass die Ant­wort auf ihre Fra­ge weni­ge Geh­mi­nu­ten vor uns liegt.

Mit jedem Schritt wird es hel­ler. Die Son­ne dringt durch das Blät­ter­dach zu uns durch, bis auf ein­mal alles Grün aus dem Sicht­feld rückt. Vor uns sta­peln sich die ver­kohl­ten Über­res­te abge­brann­ter Baum­stäm­me. Dazwi­schen lie­gen Plas­tik­fla­schen. „Hier wer­den dem­nächst Bana­nen gepflanzt“, erklärt Lenin. Aus der Fer­ne ertön­ten krei­schen­de Moto­ren­ge­räu­sche. „Hun­der­te Jah­re alte Baum­rie­sen wur­den im benach­bar­ten Gebiet bereits vor Jah­ren gefällt“, sagt Duel. „Ein Stück der welt­weit arten­reichs­ten Flo­ra und Fau­na ist dem Kapi­ta­lis­mus zum Opfer gefal­len“, den­ke ich beim Anblick des gero­de­ten Fel­des. Wir befin­den uns, nicht wie von Per­cy pro­phe­zeit, im Pri­mär­re­gen­wald, son­dern in einem Nutz­wald, etwa vier­zig Kilo­me­ter von der Groß­stadt Iqui­tos ent­fernt.

Ein gutes Stück von der Bana­nen­plan­ta­ge in spe ent­fernt bau­en wir unser Lager für die Nacht auf. Lenin und ich span­nen eine Plas­tik­pla­ne als Dach zwi­schen zwei Bäu­me und decken den Boden mit einer Folie ab. Wir sit­zen eine Wei­le am Lager­feu­er. Lenin erkun­digt sich, ob es ein­fach sei, ein Visum für Deutsch­land zu erhal­ten. Duel und Lenin essen genüss­lich schmat­zend Fisch aus der Dose. Dani­el, Lin­da und ich bekom­men ein paar Bro­cken gekoch­tes Hüh­ner­fleisch mit Mani­ok, einer koh­len­hy­dratrei­chen Wur­zel. Ich schla­fe am Feu­er ein. Nach etwa zwei Stun­den Schlaf zieht Lenin an mei­nem Fuß.

Lenin und Duel wol­len uns nacht­ak­ti­ve Tie­re zei­gen. „Ich bin keins“, den­ke ich noch, kann mich aber den­noch moti­vie­ren, mit­zu­kom­men. Wer möch­te schon allei­ne im Dschun­gel über­nach­ten? Wir lau­fen zu einem Bach, wo unser Boot im Was­ser schau­kelt. Die bei­den leuch­ten mit einer rie­si­gen Taschen­lam­pe die Ufer ab. Lei­se plät­schernd schip­pert unser Holz­ka­nu vor­an. Aus Iqui­tos schallt lei­se Musik zu uns hin­über. Es ist, bis auf den Schein von Lenins rie­si­ger Taschen­lam­pe, stock­dun­kel. Ich nicke ein paar Mal im Boot ein. Etwas Vor­sprung an Schlaf kann nicht scha­den. Das von Per­cy ver­spro­che­ne „big adven­ture“ holt uns ein, als wir wie­der unser Camp errei­chen. Der Regen pras­selt von oben auf uns hin­ab und drückt sich von unten durch die Pla­ne. Ich kaue­re in Unter­ho­se und T‑Shirt auf einem Drit­tel Iso­mat­te – in der Grö­ße eines Back­ofen­blechs – und hof­fe, dass die­se Nacht end­lich vor­über­geht. „Viel­leicht ist es ein­fach bes­ser, den Regen­wald in Ruhe zu las­sen“, sagt Dani­el. „Man muss ja nicht in jedes letz­te Eck Natur vor­drin­gen.“

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Antworten

  1. Avatar von Sabienes

    Ich habe gera­de mit ange­hal­te­nen Atem dei­nen Arti­kel gele­sen und fast schon erwar­tet, dass euch an der nächs­ten Dschun­ge­le­cke gleich was schlim­mes pas­siert. Was für ein Aben­teu­er! Unglaub­lich, dass es auf die­ser Erde noch sol­che wil­den Gegen­den gibt.
    LG
    Sabie­nes

    1. Avatar von Katharina Baus

      Hal­lo Sabie­nes, das war wirk­lich alles sehr auf­re­gend. Wir wuss­ten wäh­rend­des­sen auch nicht, was uns noch erwar­tet und im Nach­hin­ein fin­den wir unse­re Tour natür­lich sehr lus­tig. Dan­ke für dei­ne Rück­mel­dung! Bes­te Grü­ße, Katha­ri­na

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