Kars und Ani: Die Provinz im Winter und die Ruinen einer Metropole

Die Nacht war zu kurz, wenn ich mei­nem Spie­gel­bild Glau­ben schen­ke. Am frü­hen Mor­gen ste­hen wir mit Gwen­del, dem fran­zö­si­schen Uku­le­le­spie­ler, an der Stra­ße nach Erzurum. Es ist bit­ter­kalt und trotz Pull­over und Jacke, trotz Woll­müt­ze und Hand­schu­hen zit­tern wir erbärm­lich. Gemein­sam wol­len wir Trab­zon ver­las­sen. Wir rei­sen wei­ter in den Nord­os­ten der Tür­kei bis nach Kars.

Am Stra­ßen­rand war­ten wir nur weni­ge Minu­ten, bis eine drei­köp­fi­ge Fami­lie uns durch die Ber­ge ins 270 Kilo­me­ter ent­fern­te Erzurum mit­nimmt. Gwen­del blät­tert in einem klei­nen Notiz­buch und liest in gebro­che­nem Tür­kisch Sät­ze wie „Das Wet­ter ist schön“, „Ich kom­me aus Frank­reich“, „Die Tür­kei ist ein tol­les Land“ vor. Sei­ne Wor­te sind zusam­men­hang­los, aber sie hin­ter­las­sen Ein­druck.

Die weni­gen Fet­zen genü­gen, damit uns die Fami­lie augen­blick­lich in ihr Herz schließt. Uns wer­den Pis­ta­zi­en und Oran­gen gereicht, und schon bald machen wir eine ers­te Çay-Pau­se am Stra­ßen­rand. Vor uns brei­tet sich das fan­tas­ti­sche Pan­ora­ma der schnee­be­deck­ten Gip­fel des Pon­ti­schen Gebir­ges aus.

trampen,Türkei
unse­re Mit­fahr­age­le­ge­neheit nach Erzurum

Nach etwa vier Stun­den gemein­sa­mer Fahrt errei­chen wir die Umge­hungs­stra­ße von Erzurum. Von dort aus nimmt uns Mesut, ein freund­li­cher jun­ger Mann, in sei­nem Last­wa­gen ins 85 Kilo­me­ter wei­ter öst­lich gele­ge­ne Hora­san mit. Dort lässt es sich Mesut nicht neh­men, mit uns zu Mit­tag zu essen.

In einem Stra­ßen­re­stau­rant bestellt er für jeden von uns eine fet­ti­ge Sup­pe mit unde­fi­nier­ba­rer Ein­la­ge. Dazu stellt uns der Wirt eine rie­si­ge Plas­tik­kis­te vol­ler Weiß­brot­schei­ben auf den Tisch. Wir machen es Mesut gleich, zer­rei­ßen das Brot und wer­fen es in die Sup­pe, wo es sich mit Fett voll­saugt. Dann löf­feln wir die Brot­sup­pe und eine woh­li­ge Wär­me strömt durch unse­re Kör­per. Nach dem Essen ver­ab­schie­den wir uns von Gwen­del. Er reist mit Mesut wei­ter in Rich­tung Süden nach Doğu­bey­azıt und von dort in den Iran. Wir tram­pen dage­gen nach Osten.

trampen,Türkei
Mit­tags­pau­se in Hora­san

Noch lie­gen 120 Kilo­me­ter zwi­schen uns und unse­rem Ziel Kars. Doch die Stra­ße ist leer, grau und kalt. Schon bald zit­tern wir wie­der am gan­zen Leib. Doch wie über­all in der Tür­kei kön­nen wir uns auch dies­mal auf Hil­fe ver­las­sen. Emre ist es, der uns aus der Käl­te ret­tet. Die Hei­zung in sei­nem Klein­wa­gen läuft auf höchs­ter Stu­fe, und es dau­ert nur ein paar Minu­ten, bis wir die Käl­te abschüt­teln. Dann erzäh­len wir von unse­rer Rei­se, und Emre ist ein begeis­ter­ter Zuhö­rer. Dass wir von Deutsch­land bis nach Kars per Anhal­ter fah­ren und noch viel wei­ter wol­len, macht uns in sei­nen Augen zu rich­ti­gen Aben­teu­rern.

trampen,Türkei
mit Emre auf dem Weg nach Kars

Kars und die winterliche Melancholie

Kars, auf einer Höhe von 1 768 Metern gele­gen, ist eine mas­si­ve, eine melan­cho­li­sche Stadt. Graue, ver­wa­sche­ne Gebäu­de­klöt­ze ste­hen sich gegen­über. Ver­gilb­te und von Feuch­tig­keit gezeich­ne­te Wän­de leh­nen sich trau­rig anein­an­der. Zwi­schen ihnen führt ein Netz aus rut­schi­gen Wegen, Gas­sen und Stra­ßen hin­durch.

Wir befin­den uns an einem der äuße­ren Zip­fel der Tür­kei. Von hier sind es 65 Kilo­me­ter nach Geor­gi­en und ledig­lich 45 Kilo­me­ter bis an die arme­ni­sche Gren­ze. In den ver­gan­ge­nen Jahr­hun­der­ten regier­ten in der Regi­on mal arme­ni­sche Köni­ge, dann stand sie unter sel­dschu­ki­scher Herr­schaft. Spä­ter kamen die Mon­go­len und die Osma­nen. Sie alle plün­der­ten sich durch die Stadt, zer­stör­ten Kars mehr­fach. Auch die Armeen des rus­si­schen Zaren stan­den zwi­schen 1807 und 1878 gleich vier Mal vor den Toren Kars› und nah­men die Stadt bis zum Ende des Ers­ten Welt­krie­ges unter ihre Kon­trol­le.

Anschlie­ßend wech­sel­te Kars noch ein­mal von rus­si­scher in osma­ni­sche und wei­ter in arme­ni­sche Gewalt, bis es nach vie­len blu­ti­gen Kämp­fen wie­der unter osma­ni­sche Herr­schaft geriet. Von all dem Hin und Her ist vor allem der Ein­fluss der rus­si­schen Ver­gan­gen­heit erhal­ten geblie­ben. Fest­ge­hal­ten in Stein und Beton zieht er sich als archi­tek­to­ni­scher Stil durch die Stadt. Betont kan­tig und mäch­tig ste­hen die Gebäu­de in Reih und Glied. Der bol­sche­wis­ti­sche Ein­druck lässt sich nicht ver­heh­len. Die Archi­tek­tur ist eine Demons­tra­ti­on von Stär­ke. Präch­tig oder ele­gant ist das nicht, aber ein­drucks­voll alle­mal.

Kars, Türkei
in den Stra­ßen von Kars

Wir tref­fen Osman in sei­ner gro­ßen Woh­nung in einem Mehr­par­tei­en­haus. Die Küche ist der ein­zi­ge geheiz­te Ort hier. In einem Kes­sel köchelt Was­ser auf dem Gas­herd. Ein Cayd­an­lik, eine zwei­tei­li­ge tür­ki­sche Tee­kan­ne, steht auf dem Tisch, und Osman schenkt uns damp­fen­den Çay ein. Dabei gießt er zunächst aus dem obe­ren Behäl­ter Tee, der so stark ist wie kolum­bia­ni­scher Kaf­fee, in ein Glas und ver­dünnt die­sen dann mit hei­ßem Was­ser aus der unte­ren Kan­ne.

Drau­ßen beginnt es zu schnei­en. Lei­se Magie schwebt über den Gas­sen. In dicken Flo­cken sinkt sie vom Him­mel, rein und leicht, legt sich lang­sam wie ein wei­ches Tuch über die Stadt. Wir schlür­fen unse­ren Çay. Das hei­ße Getränk wärmt uns von innen, steigt bis in den Kopf, wo sich Müdig­keit breit macht. Osman ist ein ruhi­ger, ange­neh­mer Jung­ge­sel­le.

Seit zwei Jah­ren lebt er in Kars und arbei­tet als Leh­rer an einer der staat­li­chen Schu­len. Ver­setzt vom Schul­amt ist Osman nicht unbe­dingt frei­wil­lig hier, wie er zugibt. Das Wet­ter, die Abge­schie­den­heit in der Pro­vinz – Osman hat sich damit arran­giert, doch die Stadt berei­tet ihm nur wenig Freu­de. Viel lie­ber wäre er in Istan­bul oder Izmir, in Ada­na oder Anta­lya – dort, wo das Leben in einem schnel­le­ren Rhyth­mus tanzt.

Türkische Küchenfolklore

Gemein­sam schau­en wir hin­aus in den Schnee, schlür­fen wei­ter den damp­fen­den Çay. Auf ein­mal kommt Şeref, Osmans Mit­be­woh­ner, nach Hau­se. Mit ihm pfeift ein eisi­ger Schau­er in die Küche. Şeref arbei­tet in der Stadt­ver­wal­tung. Auch er ist nach Kars ver­setzt wor­den, doch anders als Osman ist Şeref ger­ne hier. Er wuchs in einem Dorf in der Nähe auf und freut sich, nun ganz nah sei­ner Hei­mat arbei­ten zu kön­nen.

Wenig spä­ter mel­det sich Mus­ta­fa an. Er ist Osmans bes­ter Freund in der Stadt und arbei­tet wie unser Gast­ge­ber an der glei­chen Schu­le – als Sozi­al­ar­bei­ter. Zu fünft machen wir es uns um den gro­ßen Ess­tisch bequem, erzäh­len vom Leben, vom Rei­sen, von Wün­schen und Träu­men. Doch schon bald muss Osman zu einem Eltern­abend an sei­ner Schu­le.

Ocaklı, Ani, Türkei
das Dorf Ocaklı bei Ani

Wir blei­ben mit Şeref und Mus­ta­fa in der Küche zurück. Die bei­den jun­gen Män­ner musi­zie­ren für uns. Mus­ta­fa spielt sei­ne creme­far­be­ne Gitar­re und Şeref zupft eine Bağla­ma, ein tra­di­tio­nel­les Sai­ten­in­stru­ment, das sowohl in der tür­ki­schen, kur­di­schen, arme­ni­schen, aser­bai­dscha­ni­schen als auch afgha­ni­schen Folk­lo­re­mu­sik ver­wen­det wird.

Zusam­men spie­len sie ruhi­ge, melan­cho­li­sche Melo­dien, die nach Wei­te, nach Step­pe und nach Frei­heit klin­gen. Dabei scheint die Bağla­ma das zum Instru­ment gewor­de­ne Kars zu sein. Auch die Stadt ver­eint vie­le kul­tu­rel­le Ein­flüs­se, nicht nur von Rus­sen und Tür­ken, son­dern auch von Kur­den, Aza­ris und Turk­me­nen. Sie alle tra­gen ihren Teil zur beson­de­ren Atmo­sphä­re der 80 000 Ein­woh­ner zäh­len­den Stadt bei.

Am nächs­ten Mor­gen ver­las­sen wir alle zusam­men das Haus. Osman macht sich auf den Weg zur Schu­le, wir lau­fen unter einem kla­ren, blau­en Him­mel an den Stadt­rand, von wo wir bis nach Ani, der ehe­ma­li­gen Haupt­stadt eines längst unter­ge­gan­ge­nen arme­ni­schen König­rei­ches, tram­pen wol­len. Ein älte­res Rent­ner­paar nimmt uns in sei­nem klapp­ri­gen Wagen für eini­ge Kilo­me­ter mit. Bereits nach drei Kilo­me­tern errei­chen wir den Abzweig nach Ani, wo wir zu zwei Män­nern in einen Trans­por­ter stei­gen.

Ani, Türkei
Mau­er­res­te in der eins­ti­gen Metro­po­le

Ani, die untergegangene Metropole

Gemein­sam schau­keln wir die ver­blei­ben­den 50 Kilo­me­ter bis nach Ani hoch über der Land­stra­ße durch die Step­pe. Nach etwa einer Stun­de stei­gen wir in dem klei­nen Dorf Ocaklı aus. Hüh­ner und Kin­der flat­tern gleich­sam auf­ge­regt zwi­schen den weni­gen Gebäu­den hin und her. Ein win­zi­ges Geschäft ver­kauft Ziga­ret­ten und ande­re Klei­nig­kei­ten des täg­li­chen Bedarfs.

Hin­ter dem Dorf erhe­ben sich die gewal­ti­gen Stadt­mau­ern einer im Sturm der Geschich­te unter­ge­gan­ge­nen Metro­po­le: Ani. Auf einem Pla­teau an der tür­kisch-arme­ni­schen Gren­ze lie­gen die archi­tek­to­ni­schen Über­res­te des­sen, was einst zu einer der bedeu­tends­ten Städ­te der Welt gehör­te. Heu­te ver­lie­ren sich die Rui­nen in dem wei­ten Gras­land. Ihre ver­fal­le­ne Anmut wirkt gespens­tisch und lässt doch erah­nen, wel­che Bedeu­tung Ani ein­mal besaß.

Um das Jahr 1 000 ist Ani eine der größ­ten Metro­po­len der Welt. Damals leben hier etwa 100 000 Men­schen. Ani, im 10. Jahr­hun­dert Haupt­stadt des Königs­reichs der Bagrati­den, eine der ältes­ten Herr­scher­dy­nas­tien aus dem Kau­ka­sus, ist so mäch­tig und beein­dru­ckend wie Kon­stan­ti­no­pel zur glei­chen Zeit.

Unter arme­ni­scher Herr­schaft gilt Ani als Stadt der 1001 Kir­chen. Doch wäh­rend die Stadt am Bos­po­rus allen Wir­ren trotzt, ver­liert Ani Glanz und Anse­hen, gerät in Ver­ges­sen­heit. Heu­te peitscht der Wind über eine wei­te Flä­che, die ein­mal von Händ­lern, Adli­gen und Rei­sen­den ent­lang der Sei­den­stra­ße mit umtrie­bi­gem Leben erfüllt wur­de.

Stadtmauer, Ani, Türkei
die Stadt­mau­er von Ani

 

Kathedrale von Ani, Türkei
die Kathe­dra­le von Ani, einst das höchs­te Gebäu­de der frü­hen Metro­po­le
Kathedrale von Ani, Türkei
das Mau­er­werk der Kathe­dra­le

Vie­le Herr­scher über­nah­men nach­ein­an­der die Stadt, die sich heu­te direkt an der Gren­ze zwi­schen der Tür­kei und Arme­ni­en befin­det. Die Byzan­ti­ner waren hier, die Sel­dschu­ken und geor­gi­sche Köni­ge. Erst die Mon­go­len been­de­ten im 13. Jahr­hun­dert den stän­di­gen Macht­wech­sel. Sie plün­der­ten Ani und über­lie­ßen die Stadt nach einem schwe­ren Erd­be­ben 1319 ihrem Schick­sal.

Seit­dem brö­ckeln die Pracht­bau­ten vor sich hin. Die Stadt ver­fällt. Die Han­dels­we­ge umge­hen Ani, das nun dem Ver­lust sei­nes Wohl­stands taten­los zuse­hen muss. Die Stadt kann sich nicht mehr erho­len. Die Ein­woh­ner­zahl sinkt ste­tig bis 1735 die letz­ten Ver­blie­be­nen, arme­nisch-katho­li­sche Mön­che, die his­to­ri­schen Mau­ern ver­las­sen. Ani ist nun eine Geis­ter­stadt.

Heu­te ste­hen ein­ge­stürz­te und ver­wit­ter­te Rui­nen ver­streut auf dem fel­si­gen Hoch­pla­teau. Es sind die Über­res­te der vie­len ehe­ma­li­gen Kir­chen, Kapel­len und Kathe­dra­len der Stadt. Die Mau­er­res­te von mehr als einem hal­ben Dut­zend Got­tes­häu­sern recken sich noch immer in die Höhe. Sie ver­wei­gern sich dem nicht auf­zu­hal­ten­den Nie­der­gang. Es sind die letz­ten Anzei­chen einer einst präch­ti­gen Stadt. Doch jetzt ist es in der Anla­ge still, bei­na­he unheim­lich still.

Ani, Türkei
das wei­te Pla­teau auf dem sich einst die Metro­po­le Ani aus­brei­te­te
Kirche des Georg, Ani, Türkei
eine von drei Kir­chen des Hei­li­gen Georg in Ani

Der Tag ist bereits weit vor­an­ge­schrit­ten, als wir frie­rend und bib­bernd eine Mit­fahr­ge­le­gen­heit Rich­tung Kars erwi­schen. Für das letz­te Stück bie­tet uns eine Fami­lie in ihrem Klein­wa­gen einen Platz an. Es ist bereits dun­kel, als wir in Kars ankom­men. In Osmans war­mer Küche war­tet bereits hei­ßer Çay auf dem Herd.

Durch­ge­fro­ren las­sen wir uns am Küchen­tisch nie­der und als das Blut in unse­ren Adern wie­der zu pul­sie­ren beginnt, machen wir das, was wir eigent­lich in jeder Win­ter­nacht machen soll­ten. Wir fül­len Äpfel mit Rosi­nen und But­ter und garen sie im Back­ofen, bis ein köst­li­cher Duft durch die Küche zieht. Wir füh­len uns selig und an Osmans Küchen­tisch längst daheim.

Couchsurfing, Kars, Türkei
unse­re Gast­ge­ber in Kars
Ani, Türkei
das Pla­teau vor dem Kau­ka­sus in Arme­ni­en

Mehr über unse­re aben­teu­er­li­che Rei­se lest ihr in unse­rem Buch »Per Anhal­ter nach Indi­en«

Per Anhalter nach Indien

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