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Luís Bertado ist inzwischen dreiundachtzig Jahre alt und trägt ein zerschlissenes, kariertes Hemd. Rote Karos auf weißem Grund. Seine Haut ist von Sonne und Seeluft gegerbt, wie dunkles Leder durchspannt sie das eingefallene Gesicht. Bedenkt man das stattliche Alter, so hat Luís Bertado noch immer viele Haare. Ein weißer Kranz säumt die Glatze, die auf der Kopfmitte liegt und den umliegenden Kranz überragt wie die Kuppe eines Vulkankegels.
Allmorgendlich wird er von seiner Tochter, die gemeinsam mit ihrem Ehemann das Haus erben wird und im ersten Stockwerk drei Fremdenzimmer führt, geweckt, gewaschen, bekleidet. Dann geht der alte Mann mithilfe seines Spazierstocks die wenigen Meter durch den Flur, stets genau an der Teppichkante entlang, die an der Grenze zwischen dem roten Perserteppich und dem beigen Läufer verläuft. Beides – den Perser und den Läufer – hat Luís Bertado einst selbst aus der weiten Welt mitgebracht. Der alte Mann war für lange Zeit Seemann, ist zu Beginn als Leichtmatrose, zuletzt als Bootsmann – oder Schiffsbetriebsmeister, wie es offiziell heißt – über die Atlantikroute nach Kap Verden, Brasilien und Trinidad gefahren. Später folgten zwei lange Aufenthalte in Angola, dann begleitete er eine Fahrt bis ins weit entfernte Macao. Portugal, diese letzte Bastion des alten Europas, hatte über die Jahrhunderte hinweg ein komplettes Weltreich angesammelt. Männer wie Luís Bertado waren das Öl, mit dem der große Motor Portugal am Laufen gehalten wurde. Tropfen für Tropfen verbraucht, bis die Maschinerie ins Stottern geriet. Brasilien, Angola, Mosambik, Goa in Indien, Ceylon, die Molukken. Jedes Mal, wenn der alte Mann darüber nachdenkt, um wieviel all diese Länder und Kolonien in ihrer Masse die Größe seines Heimatlandes, eingekeilt zwischen Spanien und Atlantik, übersteigen, schüttelt er verwirrt den Kopf. Sie war verrückt geworden, unsere Welt und diese Verrücktheit hatte lange vor der Moderne begonnen, auch wenn seine Kinder und Enkel diese Meinung nicht unbedingt mit ihrem Familienoberhaupt teilen.
Nachdem der alte Mann gefrühstückt hat, begibt er sich langsamen Schrittes in das dunkle Wohnzimmer, das sich direkt rechts von der Haustür befindet. Dort nimmt er in dem Korbsessel Platz, den seine Familie bekommen hatte, als Luís Bertado gerade einmal sechs Jahre alt war. Von diesem Sessel aus hat er die Zimmertür im Auge und damit auch jeden Besucher, der das Haus betritt oder verlässt. Die Zeiten sind hart geworden. Bis vor einigen Jahren waren die drei Zimmer im Obergeschoss über die Sommermonate hinweg ausgebucht, Wassersportler, Wanderer, Segler kamen für die heißesten Tage des Jahres nach Odeceixe, um den Atlantik und die hiesigen Steilküsten zu erleben. Dann aber ging es mit der Wirtschaft bergab und während Lissabon und Porto – die beiden Angeber im entfernten Norden – immer mehr Touristen anziehen konnten, ging es für den kleinen Küstenort Odeceixe bergab. Doch was sollte man dagegen tun? Hier war er geboren worden, war von hier aus bis nach Lissabon und von dort in die Welt aufgebrochen, zurückgekehrt, und nun ist er zu alt für jedweden Groll gegenüber den fernen Städten. Tag für Tag sitzt er nun im Wohnzimmer und wartet.
Odeceixe weist eine Besonderheit auf, die anderen Küstenorten fehlt. Der Ort liegt nicht nur am offenen und aufbrausenden Atlantik, sondern der Fluss Ribeira de Seixe mündet direkt am Praia de Odeceixe ins Meer. So haben sie beides, den Fluss und das Meer, das Süß- und das Salzwasser. Wenn von September bis November die Stürme ungebremst und maßlos enorme Brecher auf den Strand donnern lassen, so dass man selbst in den Wohnstuben auf den anliegenden Bergkuppen ein Vibrieren und Zittern verspürt, ist die Zeit für die richtigen, die hartgesottenen Surfer gekommen. Nur richtige Surfer können dann diesen Wellen standhalten, lediglich in den Frühjahrs- und Sommermonaten verdienen die Surfschulen an der Praia richtiges Geld. Dann kommen auch Familien und junge Paare. Doch inzwischen ist es Oktober, die Sommertouristen sind längst wieder im kalten Norden verschwunden, der Ort ist weitgehend leer und still. Ab und an ziehen ältere Ehepaare bei den Bertados ein, für ein, zwei Nächte, um im anliegenden Naturschutzgebiet zu wandern. Dann aber ist es wieder so leer und still wie im Ort selbst, und das sind die Tage, an denen der alte Mann besonders lange warten muss. Warten, bis der Nachmittag kommt.
Nicht allzu weit von Luís Bertados Haus entfernt liegt ein weitläufiger Platz, an dem sich das Postamt, die einzige Bank im Ort, der Metzger und ein kleines, geräumiges Café befinden. Wenn seine Beine stark genug sind und der Regen eine Pause macht, verlässt Luís Bertado sein düsteres Zimmer im Erdgeschoss und zieht langsamen Schrittes hier her. Es sind gut und gern fünfhundert Meter für diesen Weg, an guten Tagen kostet das den alten Mann eine halbe Stunde. Dann ist er da und trinkt wie immer einen Espresso und danach zwei Gläschen Portwein. Kommen Sie und setzen Sie sich für einen Moment, schweigend, wenn möglich – der Stuhl ihm gegenüber ist immer leer – und machen Sie sich selbst ein Bild. Luís Bertado ist zu alt für Gesellschaft, seine Freunde sitzen inzwischen in jenem anderen Café, von dem niemand wissen kann, an welchen Tisch wir einst gebeten werden. Daher hat er stets die Zeit, alles in Ruhe zu betrachten. An der Decke und an den Wänden Girlanden aus billigem Krepppapier, übrig geblieben von einem längst gefeierten Dorffest. Über der Theke die Familienfotos der Inhaber, über drei Generationen posieren sie auf dem draußen gelegenen Platz und es scheint, als habe die Zeit lediglich die Farben und Formen der Autos bewegt, nicht aber die Platanen, die Steine, die Fassaden der dunklen Häuser. Die Tische sind mit einem Wachstuch bedeckt, das von aufgemalten Sonnenblumen und Vergissmeinnicht verziert ist. Nicht zu vergessen: Der antike Flipperautomat hinten im Lokal, seitlich des schmalen Durchgangs zur Toilette mit dem altertümlichen Spülkasten, wo man noch durch Ziehen einer rasselnden Kette den dürftigen Wasserfall in Gang setzt.
Abends – wenn Luís Bertado zumeist wieder in seinem Wohnzimmer sitzt und wartet – ist der Flipperautomat die Hauptattraktion dieses Lokals. Da stehen sie dann, verlorengegangene Figuren wie der aus Nordafrika geflüchtete Fischer, der Bäckerssohn, die jungen Frauen von der Surfschule unten am Strand, und lassen die Kugel durch das blinkende, schnarrende Labyrinth sausen, abprallen, emporschießen und letztlich ins Nichts fallen. Mit den Wintermonaten schließt das Café früher und früher, von Januar bis März sind die Besitzer auf Madeira, dann kehrt auch hier früh am Tag Leere und Stille ein.
Kapitelauszug »Im Wohnzimmer des alten Mannes«
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