Ich bin reich und du bist arm

 

Mei­ne ers­te Begeg­nung mit Armut hat­te ich in Bra­si­li­en. Ich war damals 24 Jah­re alt, hat­te mei­nen Ruck­sack gepackt und war mit mei­nem Freund Chris­ti­an nach Süd­ame­ri­ka auf­ge­bro­chen. Mit einem klei­nen Umweg über das fran­zö­si­sche Depart­ment Gua­ya­na waren wir direkt aus dem sat­ten Deutsch­land hin­ein­ge­pur­zelt in ein Land, des­sen natür­li­cher Reich­tum seit Jahr­hun­der­ten aufs Schlimms­te aus­ge­beu­tet wur­de: der Nord­os­ten Bra­si­li­ens.

Als wir mit dem Bus vom Flug­ha­fen Reci­fe Rich­tung Innen­stadt fuh­ren wur­de ich vor Ent­set­zen ganz still. Eben hat­te ich noch den Kopf voll mit fröh­li­chen Kli­schee­bil­dern, man­del­äu­gi­gen Schön­hei­ten, Sam­ba­tän­zern, Strand und exo­ti­schen Früch­ten und jetzt? Die schlam­mi­ge Stra­ße führ­te mit­ten durch die Fave­las der Vor­stadt. Elends­vier­tel mit Tau­sen­den von wild zusam­men­ge­häm­mer­ten Buden, oft nur aus Well­ble­chen und Papp­kar­tons bestehend, flo­gen an uns vor­bei. Zwi­schen den Behau­sun­gen lag der Müll. Mit­ten im Unrat spiel­ten Kin­der und ver­rich­te­ten Erwach­se­ne ihre Not­durft. Wenn ich hin­schau­te, fühl­te ich mich wie ein Voy­eur. Also blick­te ich starr nach vor­ne. Mir war schlecht.

Die Brücke des Grauens

Reci­fe liegt auf meh­re­ren dem Fest­land vor­ge­la­ger­ten Inseln und Halb­in­seln, ver­bun­den durch eine Rei­he von Brü­cken. Eine die­ser Brü­cken führ­te von unse­rem Hos­tel aus direkt ins Zen­trum. Der Gang über die­se Brü­cke wird mir für immer im Gedächt­nis blei­ben, ein­ge­brannt wie ein Tat­too. In fünf Minu­ten konn­te ich sie über­que­ren, wenn ich mich beeil­te. Aber sobald ich sie betrat, ver­wan­del­te sich die gefühl­te Zeit in eine zähe, kleb­ri­ge Kau­gum­mi­mas­se.

Es ist, als lie­fe ich, aber käme nicht vor­an. Mei­ne Bei­ne sind schwer wie Blei, sie wol­len sich kaum lösen, schei­nen wie fest­geta­ckert. Ein wahr gewor­de­ner Alp­traum. Der kur­ze Weg führt durch eine nicht enden wol­len­de Welt des Elends. Eine Welt, die mich in Deutsch­land gele­gent­lich über den Bild­schirm eines Fern­se­hers erreich­te, die aber nie wirk­lich bei mir ankam. Jetzt bin ich plötz­lich mit­ten­drin, so real und unwi­der­ruf­lich, dass ich dar­an zu ersti­cken glau­be.

Rechts und links sit­zen, ste­hen, krüm­men sich Sei­te an Sei­te geschun­de­ne Lei­ber, in Lum­pen gehüll­te Kin­der. Eine end­lo­se Ket­te von ankla­gen­den Bli­cken, ver­stüm­mel­ten Kör­pern, Lepra­hän­den, die sich mir ent­ge­gen­stre­cken, und auf­ge­bläh­te Kin­der­bäu­che, die ihre ganz eige­ne Spra­che spre­chen. Ein Krüp­pel ohne Arme und Bei­ne schaut mich aus sei­nen sanf­ten, tief­brau­nen Augen erwar­tungs­voll an. Ein ver­hal­te­nes Mur­meln fle­hen­der, wei­nen­der und kla­gen­der Stim­men, eine Rei­he stum­mer, bit­ten­der Hän­de.

Mir ist übel. Ich bin garan­tiert die ein­zi­ge Frem­de weit und breit. Gut genährt und die Taschen vol­ler Geld. Was mache ich eigent­lich hier? Ich schaue über die Brü­cke hin­un­ter zum Fluss. Ein stin­ken­des Abwas­ser­rinn­sal quält sich durch das schlam­mi­ge Bett ohne Was­ser. Mit­ten im Unrat wüh­len Kin­der auf der Suche nach etwas Brauch­ba­rem. Der Druck auf mei­nen über­sät­tig­ten Magen wird grö­ßer. Der Kloß im Hals sitzt so fest, als wol­le er ein fes­ter Bestand­teil mei­nes Kör­pers wer­den.

„Schau weg“, sagt mein Ver­stand. Aber auch bei geschlos­se­nen Augen ist sie noch da, die Brü­cke. Ich rie­che, füh­le und schme­cke sie.

„Lauf weg“, sagt mein Ver­stand, aber ich glau­be ihm nicht mehr.

„Ent­rüs­te dich, sei wütend“, sagt mein Ver­stand, aber die Gefüh­le wei­gern sich, Ver­nunft anzu­neh­men. Sie sind zu sehr mit Schmerz, Schuld und Scham beschäf­tigt.

Ich bin ein Wirtschaftswunderkind. Armut? Kenne ich nicht.

Dar­auf war ich nicht vor­be­rei­tet. Ich bin ein Wirt­schafts­wun­der­kind. Ken­ne kei­nen Krieg, kei­nen Hun­ger. Ich hat­te immer gedacht, ich käme aus ein­fa­chen Ver­hält­nis­sen. Ver­hält­nis­mä­ßig ein­fa­chen Ver­hält­nis­sen. Zuhau­se wur­de ein­mal pro Woche geba­det, erst die Eltern, dann die drei Kin­der, im glei­chen Bade­was­ser, unten in der Wasch­kü­che. Ein­mal pro Woche gab es Fleisch. Zum Früh­stück Mar­ga­ri­ne statt But­ter und zum Abend­brot eine Kan­ne Hüh­ner­brü­he aus Mag­gi-Brüh­wür­feln. Im Schre­ber­gar­ten bau­ten wir Gemü­se und Obst an, das für den Win­ter ein­ge­kocht und in gro­ßen Glä­sern in einer Vor­rats­kam­mer gela­gert wur­de. Wir heiz­ten mit Koh­le­öfen, und die Toi­let­te befand sich auf hal­ber Trep­pe. Mit den Jah­ren zogen wir mehr­mals um, und es kam immer mehr Wohl­stand hin­zu. Bald hat­ten wir eine Wohn­zim­mer­schrank­wand mit ein­ge­bau­ter Bar, beleuch­te­tem Spie­gel und dem obli­ga­to­ri­schen Eier­li­kör. Auf dem ova­len Wohn­zim­mer­tisch stan­den stets Ziga­ret­ten und Salz­stan­gen. Am Wochen­en­de kam Besuch, es gab Kar­tof­fel­sa­lat und sonn­tags auch mal Kuchen. Wir besa­ßen einen Schwarz-Weiß-Fern­se­her, ein Ton­band­ge­rät, einen Dia­pro­jek­tor und ein Auto.

Manch­mal schäm­te ich mich dafür. Wenn mei­ne Oma etwa erzähl­te, wie sie und ihre drei Kin­der gehun­gert haben im Krieg, oder wenn mein Vater dar­über sprach, wie er als 13-Jäh­ri­ger im zer­stör­ten Köln Koh­le klau­en ging und bis in die Eifel wan­der­te, um heim­lich und im Schutz der Nacht ein paar Kar­tof­feln auf dem Feld aus­zu­gra­ben. Dann fühl­te ich mich schul­dig. Ich emp­fand Schuld, weil es ande­ren schlecht gegan­gen war bezie­hungs­wei­se ging und mir gut.

Ob arm oder reich ist reine Glückssache

In Reci­fe ging es mir ähn­lich. Ich fühl­te mich hun­de­elend und hät­te nur heu­len kön­nen ange­sichts der Armut. Chris­ti­an, 8 Jah­re älter als ich, sah es etwas nüchterner.„So ist das nun mal. Es gibt Arme und Rei­che“, sag­te er. „Wir wur­den eben zum rich­ti­gen Zeit­punkt am rich­ti­gen Ort gebo­ren. Rei­ne Glücks­sa­che.“

Ja, Schwein gehabt. Aber was soll­te ich jetzt machen? Jedem Bett­ler Geld geben? Oder nur jedem zwei­ten? Oder auf dem Hin­weg all jene beschen­ken, die am rech­ten Brü­cken­rand saßen, und auf dem Rück­weg die auf der ande­ren Sei­te? Und wie viel soll­te ich geben? Muss­te der ohne Bei­ne mehr bekom­men als der mit Bei­nen? Oder war es bes­ser, Essen zu kau­fen und auf der Brü­cke zu ver­tei­len? Ich kam zu kei­nem Ergeb­nis. Ich war weiß und fühl­te mich schul­dig. Es waren „mei­ne Leu­te“, die sich hier seit der Ent­de­ckung durch Kolum­bus berei­chert hat­ten und über Lei­chen gegan­gen waren. Und das Schlimms­te: Sie taten es noch immer. Ich schäm­te mich mei­ner Haut­far­be.

Kann geben und teilen falsch sein?

„Da kön­nen wir doch nix dafür“, argu­men­tier­te Christian.„Mir tun die armen Teu­fel ja auch leid“, füg­te er hin­zu, „aber wenn wir jedem etwas geben, müs­sen wir bald wie­der nach Hau­se fah­ren. Es sind ein­fach so vie­le. Wir sind ja auch nicht gera­de reich.“ In Euro­pa moch­te das stim­men. Aber hier fühl­te ich mich gera­de stein­reich. Ver­gli­chen mit all den Men­schen, die in abso­lu­ter Armut leb­ten. Ver­stoh­len gab ich hier eine Mün­ze und dort einen Schein. Chris­ti­an hat­te schon recht: Das lös­te kei­ne Pro­ble­me. Im Lau­fe der Rei­se tra­fen wir immer wie­der Leu­te, die sogar davon abrie­ten, Almo­sen zu geben. Das sei nicht gut für die Men­schen.

So etwas sagt sich leicht, wenn der eige­ne Magen nicht knurrt. Ob gut oder schlecht, ich habe die Fra­ge nie wirk­lich klä­ren kön­nen. Auch an den Anblick von Armut habe ich mich nie gewöh­nen kön­nen. Aber manch­mal bin ich Men­schen begeg­net, die in gro­ßer Armut leb­ten, und habe gelernt, dass es viel­leicht gera­de die­se eine Mün­ze ist, die ent­schei­det, ob es am Abend etwas zu essen gibt oder nicht. Also löst sie viel­leicht kei­ne glo­ba­len Pro­ble­me, aber doch ein ganz kon­kre­tes, exis­ten­zi­el­les. Und dabei ist es völ­lig egal, ob der Spen­der mit sei­ner Gabe sein Gewis­sen beru­hi­gen will oder nicht. Bedürf­ti­gen etwas zu schen­ken kann ein­fach nicht falsch sein. Tei­len ist kein Schan­de, im Gegen­teil!

Mein Text ist ein Auszug aus Comeback mit Backpack. Hier geht es zum Buch.

 

Erschienen am



Antworten

  1. Avatar von gitti

    Lie­be Alex­an­dra,
    dan­ke für die­se schö­nen Wor­te. Klas­se Vor­stel­lung, daß ich bei Euch unter dem Weih­nachts­baum lie­ge ((-: Fröh­li­che Weih­nach­ten und alles Lie­be,
    Git­ti

  2. Avatar von Alexandra Sefrin

    Lie­be Git­ti,

    was für ein toll geschrie­be­ner Arti­kel, auch wenn die The­ma­tik schwer zu ver­dau­en ist!

    Wir haben Ähn­li­ches, sowohl in Süd­ame­ri­ka als auch in Süd­ost­asi­en erlebt. Eine Pro­ble­ma­tik, mit der man sich, auf fast jeder Rei­se in weni­ger gut ent­wi­ckel­te Län­der, aus­ein­an­der­set­zen muss. Auch wenn wir nicht die glo­ba­len Pro­ble­me in die­ser Welt lösen kön­nen, so kön­nen wir doch ein klein wenig dazu bei­tra­gen, die­se Welt zu einem bes­se­ren Ort zu machen. Wenn jeder auch nur einen klei­nen Teil vor Ort an Bedürf­ti­ge spen­det oder auch durch Arti­kel wie die­sen hier, das Wort in die Welt trägt, dann leis­tet er aktiv sei­nen Bei­trag.

    Vie­len Dank für die­sen nach­denk­li­chen Bei­trag. Dein Buch liegt bei uns schon unter dem Weih­nachts­baum!

    Lie­be Grü­ße

    Alex

  3. Avatar von gitti

    Dan­ke lie­be Anni­ka, das ist für Autoren das Schöns­te Kom­pli­ment!

  4. Avatar von Annika
    Annika

    Vie­len Dank für die­sen beson­de­ren Blog. Es hat mich wirk­lich tief berührt.

  5. Avatar von Gitti

    Lie­be Bar­ba­ra,
    du kannst schon etwas bei­tra­gen indem du erzählst was du gese­hen hast und das Bild vom »Para­dies« ein wenig gera­de rückst. Und du kannst Men­schen oder Orga­ni­sa­tio­nen unter­stüt­zen, die das, was Dir wich­tig ist (z.b.Bildung wie du ja schreibst) ver­su­chen umzu­set­zen. Durch ehren­amt­li­che Mit­ar­beit, Spen­den oder tei­len von Infos. Viel­leicht ist das nur ein klei­ner Trost.…wie die 1 Mün­ze aus mei­ner Geschich­te, die kein glo­ba­les Pro­blem löst aber viel­leicht gera­de ein sehr kon­kre­tes im KLei­nen. Dan­ke, dass du Dei­ne Gedan­ken dazu geteilt hast, lie­be Grü­ße

  6. Avatar von Barbara

    Ach, ich kann dei­ne Gedan­ken so gut nach­voll­zie­hen! Mir ist es letz­te Woche in der Kari­bik, vor allem auf St. Vin­cent so gegan­gen. Alle schrei­ben von der Insel, dass sie das Para­dies wäre, ich hat­te aber den Ein­druck, dass der Weg zur Höl­le nicht mehr weit ist. Der Taxi­fah­rer mein­te: “Wer wirk­lich will, kann was errei­chen!“ Aber ich bin der Mei­nung, dass die­se Armut kein indi­vi­du­el­les Pro­blem ist, nicht sein darf, son­dern ein kol­lek­ti­ves! Auf allen Sei­ten – von der Poli­tik bis hin zu einer stark und gut orga­ni­sier­ten Bevöl­ke­rung. Bil­dung und Zuver­sicht wären wich­ti­ge Fak­to­ren. Und da kommt es dann wie­der ‑die­ses ungu­te Gefühl, dass ICH zu die­see Ent­wick­lung eigent­lich nichts bei­tra­gen kann, und nur die “Rei­che“ aus dem Wes­ten bin. Es ist unbe­frie­di­gend!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert